Bekenntnisse einer Russlanddeutschen: Olga Martens im Vorfeld der 4. Internationalen Sprachkonferenz

Die Entscheidung über die Errichtung einer Föderalen Agentur für nationale Angelegenheiten, ist, wie von mehreren Experten hervorgehoben wurde, ein wichtiger Schritt für die Erhaltung und Entwicklung der Sprachen der Völker Russlands. Mit besonderer Hoffnung auf die neue Struktur blicken vor allem jene Völker, die nicht über eigene staatliche Organisationsformen auf dem Gebiet der Russischen Föderation verfügen. 

Die Entscheidung über die Errichtung einer Föderalen Agentur für nationale Angelegenheiten, ist, wie von mehreren Experten hervorgehoben wurde, ein wichtiger Schritt für die Erhaltung und Entwicklung der Sprachen der Völker Russlands. Mit besonderer Hoffnung auf die neue Struktur blicken vor allem jene Völker, die nicht über eigene staatliche Organisationsformen auf dem Gebiet der Russischen Föderation verfügen.

Ich möchte gern eine Reihe von Botschaften machen, die nicht nur für meine ethnische Gruppe, sondern auch für viele andere Völker unseres großen Landes von Bedeutung sind. Wir als ethnische Gruppe, die von den politischen Führern unseres Landes in der Zeit der Sowjetunion ihr Dasein unter grausamen Überlebungsbedingungen zu fristen hatten, betrachten die neuen Möglichkeiten ohne jedwede Romantik, denn unsere Aufgabe besteht darin, unsere Sprache zu bewahren, sie weiterzuentwickeln. Wir sind uns vollauf bewusst, dass in einer sich zunehmend globalisierenden Welt Pragmatismus immer öfter an Stelle der Romantik steht. Wie können wir unsere Sprache, die Sprache der Russlanddeutschen also retten?

Ist unsere Sprache und mit ihr wir als ethnische Gemeinschaft in Russland verurteilt? Es scheint mir, dass alles, was mit der deutschen Sprache, der Muttersprache der Russlanddeutschen, in unserem Land schief gehen konnte, bereits geschehen ist. Nach 1941, Deportationen und illegitimen Anschuldigungen schien es so, als ob dieses Volk in den nachfolgenden Generationen nie wieder seine Muttersprache sprechen würde. Für einen gewissen Zeitraum verstummten die Russlanddeutschen vollends: erniedrigt, ausgegrenzt, gedemütigt. Später gab es erneut Hoffnungsschimmer, es erklangen Worte, neue Gedanken hingen in der Luft. Der Wunsch, ihre eigene Kultur und Sprache wiederzubeleben, war bei vielen Russlanddeutschen größer und stärker als ihre Angst. Was folgte, war eine Renaissance der Literatur, in der Dichter und Schriftsteller in ihren Werken oft ihre Muttersprache thematisierten.

Später, in den 1990er Jahren, schlug die Stunde „X“ - es war der Moment der Entscheidung, und 2,5 Millionen Russlanddeutsche trafen sie zugunsten von Deutschland... Nicht, weil sie dies alle unbedingt wollten, sondern, weil sie nicht mehr an Russland glaubten. Das Land schaffte es nicht, einem seiner Völker in seinen weiten Landesteilen einen Ort zuzugestehen, geschweige denn ein Gebiet oder Häuser, die ihm im Jahr 1941 fortgenommen wurden. Erinnern Sie sich an Solschenizyns Worte: „Der Deutsche ist wie eine Weide, er schlägt überall Wurzeln...“

Wer soll uns retten?

Das Millennium wurde für uns zu einer Zeit der Zeitlosigkeit. Es schien, als ob es keine Potenzial mehr gäbe, als ob keine „kritische Masse“ für die Weiterentwicklung vorhanden wäre. Getragen von Trägheit trieben wir durch unsere gesellschaftlichen Organisationen. Der Ort unserer Handlungen und der Vektor unserer „Entwicklung“ lagen in der Vergangenheit. Wir identifizierten uns als Volk, das von einem gemeinsamen Schicksal und einer historischen Vergangenheit vereint war. Und damit rechtfertigen wir unser Unwissen und unsere Untätigkeit, Deutsch zu lernen. Unsere Großväter, jene, die Deportation, Verfolgung, Trudarmee und Sondersiedlungen überlebt haben, hatten das Recht, Vorwürfe zu machen, sich zu beklagen, zu jammern und universelles Leid zu zeigen. Aber gerade sie taten dies am allerwenigsten. Diejenigen jedoch, die jünger sind, hatten die klare Überzeugung verinnerlicht, dass alle Welt den Russlanddeutschen etwas schuldet. Und sie alle müssen sie retten. Wir müssen von allen gerettet werden, die neben uns stehen. Und auch unsere Sprache soll von jemandem gerettet werden. Und der Grund, weshalb wir heute kein Deutsch sprechen, ist, dass unsere Großväter ja unterdrückt worden sind und es ihnen verboten wurde, in ihrer Muttersprache zu reden. Und auch unseren Kindern ist es nicht möglich, Deutsch zu lernen, weil sowohl der Staat als auch der Schulleiter vom Englischen besessen zu sein scheinen.

Unsere großen Landsleute Swjatoslaw Richter und Boris Rauschenbach, dessen 100. Geburtstag dieses Jahr das ganze Land feiert, sind durch eine Hölle von Repressionen gegangen. Beide sprachen perfekt Deutsch. Rauschenbach erinnerte sich „... Ich erlernte die deutsche Sprache von Grund auf im Gulag mit Hilfe meines Freunds, einem Doktor an der Universität zu Berlin, einem echten Berliner. Wir machten zwischen uns aus: Wenn wir schon als Deutsche hier inhaftiert sind, sprechen wir auch ausschließlich auf Deutsch. Vier Jahre, die wir so miteinander kommunizierten, redeten wir kein einziges Wort Russisch, und so lernte ich gutes Deutsch zu sprechen - zuvor konnte ich nur „Alltagsdeutsch“ und mit diesen Kenntnissen war ich dem Lager etwas „schuldig“...“ Nun, sagen Sie, ist der Schulleiter schuld daran, dass Ihr Kind kein Deutsch kann?

„Sich selbst am Schopf aus dem Sumpf ziehen“

Bereits seit fünf Jahren haben die Strukturen der Selbstorganisation der Russlanddeutschen die Zuständigkeit für das Förderprogramm zugunsten der deutschen Minderheit in Russland inne. Und dies sind nicht weniger als 8 Millionen Euro pro Jahr, die die deutsche Regierung als Zeichen der Verantwortung für die Überwindung der Folgen des Zweiten Weltkrieges zur Verfügung stellt. Das bedeutet in erster Linie Verantwortung. Zudem hat man es inzwischen eingestellt, Übersetzer zu wichtigen Geschäftsterminen in den Regierungsstellen und in den Bundestag einzuladen. Das ist ein gerechter Ansatz, denke ich. Im Laufe der vergangenen 25 Jahre der für die Russlanddeutschen mit einem solchen Budgetrahmen geleisteten Unterstützung ist es durchaus zu erwarten, dass nicht nur die Leiter der gesellschaftlichen Selbstorganisation, sondern auch eine große Anzahl an Menschen imstande sind, sich auf Deutsch auszudrücken. Darüber hinaus schickt es sich innerhalb der deutschen Minderheit, die in 20 Ländern Europas lebt, nicht, dass ihre Repräsentanten der eigenen Muttersprache nicht mächtig sind. Sie haben nämlich eine Vorbildfunktion inne. Aus diesem Grund hat man seitdem aufgehört, für Russlanddeutsche eine Ausnahme zu machen.

Die Sprachreform war das Erste, womit wir uns in unserer Arbeit beschäftigten. Wir schrieben ein Konzept, erarbeiteten ein Programm und haben heute die größten Erfolge in diesem Bereich. Aber die größten Defizite lassen sich auch hier finden. Auf der einen Seite haben wir deutlich erkannt, dass die Wiederbelebung der Kommunikation innerhalb der Familien, die interne Motivation der Eltern und ihre Bereitschaft, am Lernprozess der deutschen Sprache teilzunehmen, Schlüsselaspekte sind. Wir können heute von über 123 Vorschulgruppen in sechs Regionen Russlands sowie der Ausarbeitung eines neuen und bisher in Russland einzigartigen Lehrsatzes für den Vorschulunterricht „Deutsch mit Schrumdi“ sprechen. Auf der anderen Seite gibt es einen katastrophalen Mangel an Personal, welches in diesen Gruppen Einsatz finden soll. Einerseits sind dies zahlreiche und erfolgreiche Motivationsmechanismen, die wir zur Förderung der deutschen Sprache in Russland umsetzen (um nur einen von ihnen zu nennen, zählt dazu der Gesamtrussische Wettbewerb „Freunde der deutschen Sprache“, an dem pro Jahr Tausende Menschen teilnehmen). Andererseits besteht ein Mangel an Räumlichkeiten, in denen die motivierten Wettbewerbsteilnehmer weiterführend Deutsch lernen können. Ungeachtet der theoretischen Möglichkeit eines Rechtsrahmens im Sprachbereich gestaltet sich deren praktische Anwendung auf föderaler Ebene schwierig. Alle zwei Jahre veranstalten wir eine Versammlung für Russlanddeutsche, Deutschlehrer und -dozenten, um den Zwischenstand zu betrachten und weitere Schritte in Richtung Rettung der deutschen Sprache in Russland zu planen. Unsere persönliche wie kollektive Leistung müssen wir täglich vollbringen. Daher ist es sehr wichtig, auf Facebook oder anderen sozialen Netzwerken den Baron von Münchhausen als Freund hinzuzufügen, der in Russland eine sehr bekannte Figur ist. Münchhausen hat übrigens einen russlanddeutschen Hintergrund, zumal er uns lehrt, über die tägliche Leistung hinaus, sich selbst am Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen:
- Sie behaupten tatsächlich, dass sich ein Mensch an seinen Haaren aus dem Sumpf ziehen kann?
- Selbstverständlich! Der denkende Mensch ist geradezu verpflichtet, dies hin und wieder zu tun...
- Also ist alles keine Sache der Unvermeidlichkeit, sondern einzig und allein die der persönlichen Wahl?

Die Sprache ist ein lebendiges Wesen: sie heilt und regeneriert sich selbst und erblüht von ganz allein. Tausende deutsche Wörter haben die russische Sprache bereichert. Viele russische Wörter haben auch Deutsche, die einst beschlossen, diesem Land treu zu sein, für ihren Sprachgebrauch entlehnt. Wussten Sie, dass wir auch „borscht“/ «боршт» essen und auf „krylts“/ «крылц» sitzen, indem wir mit „tratr“/ «тратр» sprechen, und „do vetru“/ «до ветру» auf „nushnik“/ «нушник» gehen? Und jeder Russlanddeutsche, der in den verschiedenen Ländern lebt, sogar derjenige in Lateinamerika, wird mich verstehen, wenn ich mich mit ihm auf diese Weise unterhalten würde. Womöglich erscheint Ihnen dies alles als Kauderwelsch, aber für mich ist es meine ganz persönliche Muttersprache.

„Solange wir am Leben sind, wir Menschen, die diese Sprache sprechen, solange wir innerhalb der nachfolgenden Generationen Muttersprachler verzeichnen, solange wir mit unseren Kindern auf Deutsch reden und ihnen dieses beibringen, solange hat unsere Sprache das Recht in Russland zu existieren, und somit auch wir Russlanddeutsche.“

Nichtsdestotrotz ist die Rettung der Sprache keine Einbahnstraße. Wir als ethnische Gruppe sollten dem Staat Ideen und Methoden vorschlagen, mit denen wir unsere Sprache in diesem Land fördern können. Russlanddeutsche sollten sich über die vielen Vorteile der deutschen Sprache bewusst sein. Deutsch ist eine internationale Sprache, die nicht nur für Russlanddeutsche, sondern auch für Russen attraktiv ist. Darüber hinaus ist es wichtig, dass die Behörden Verständnis für die Notwendigkeit haben, die Entwicklung der deutschen Sprache zu fördern. Russlanddeutsche als kulturelle Brücke zwischen Russland und Deutschland bleiben nach wie vor, insbesondere angesichts der gegenwärtig schwierigen Zeit der zwischenstaatlichen Beziehungen, ein Faktor, der Regierungsvertreter beider Länder zu Verhandlungsgesprächen an einen Tisch setzen lässt. Diese Schlüsselrolle der Russlanddeutschen wird solange von Bedeutung sein, solange die Deutschen Russlands Träger beider Kulturen bleiben - der russischen und der deutschen. Und ich denke, dass die Regierungen dies immer beachten sollten.

Olga Martens, erste stellvertretende Vorsitzende des Internationalen Verbands der deutschen Kultur.

(Zuerst veröffentlicht auf Region online am 27. März 2015, übersetzt aus dem Russischen).

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