Eine Chance für Deutsch

Bisher wurde an russischen Schulen eine Fremdsprache gelehrt, meist war das Englisch. Die neuen Bildungsstandarts sehen nun eine zweiten Fremdsprache ab Klasse 5 vor. Davon wird vor allem Deutsch profitieren.

Als 2010 die neuen Bildungsstandarts den Unterricht der ersten Fremdsprache schon ab der 2. Klasse festschrieben, freuten sich viele: eine große Chance für die Verbreitung einer Vielzahl von „kleinen“ Fremdsprachen. Nun folgte der zweite Schritt der Umsetzung. Seit dem neuen Schuljahr wird in Russland auch eine zweite Fremdsprache von der Klasse 5 bis zur Klasse 9 angeboten. Der Schülerjahrgang von 2010 nämlich hat in diesem Schuljahr die Klasse 5 erreicht – und damit treten die Neuregelungen in Kraft.

Bislang hatten Schüler nur eine Fremdsprache lernen müssen. In der Regel war dies Englisch. Von den Neuregelungen dürften deshalb besonders die bisher weniger verbreiteten Sprachen profitieren. „Ist nur eine Fremdsprache Pflicht, dann entscheiden sich die meisten Schüler für Englisch“, sagt Anne Renate Schönhagen, die Leiterin der Sprachabteilung des Goethe- Instituts Moskau. „Aber die zweite Fremdsprache ist dann Deutsch.“

Und es gibt einige Hinweise darauf, dass eine große Nachfrage nach Deutsch besteht. Erst in der zweiten Oktoberwoche hatte das Goethe-Institut eine deutsche Kinderuni veranstaltet, in der bei Kindern und Jugendlichen das Interesse an der deutschen Sprache geweckt werden sollte. Das Konzept ging auf: Mehr als 2000 Besucher kamen. Nach der Erfahrung des Kulturinstituts, das verschiedene Programme zum Erlernen der deutschen Sprache für verschiedene Altergruppen, aber vor allem für Erwachsene anbietet, ist Deutsch in Russland eine beliebte Lernsprache. Die Kurse des Instituts sind regelmäßig ausgebucht.

Währenddessen lernen an den russischen Schulen immer weniger Kinder Deutsch. Seit 2003 ist ihre Zahl um die Hälfte geschrumpft. Heute liegt sie nur noch bei knapp 1,5 Millionen. Und parallel zu der gesunkenen Nachfrage, verringerte sich auch die Zahl der Deutschlehrer – sie ging von 37 000 auf heute 16 000 zurück.

Doch trotz dieses Rückgangs bleibt Deutsch in Russland mit laut Bildungsministerium knapp 180 000 Lernenden im Schuljahr 2014/2015 die beliebteste zweite Fremdsprache. Und die Zahl derer, die Deutsch als erste Fremdsprache gewählt haben, ist noch wesentlich höher. Eine Million Schüler entschieden sich für diese Sprache – eine beeindruckende Zahl, obgleich die Englischlerner mit 11 Millionen einsame Spitze sind. Laut Umfragen erhoffen sich viele von der Entscheidung die Möglichkeit im Ausland zu studieren und bessere Berufschancen in Russland. Generell wird das Erlernen von Fremdsprachen in ganz Russland als überaus wichtig empfunden.

Und dennoch werden von den neuen Bildungsstandards nicht alle Schüler profitieren können. Die Neueinführung der zweiten Fremdsprache hat nämlich mehrere Haken. Zunächst ist sie nicht verpflichtend, sondern lediglich eine Empfehlung an die Schulen. Nach Galina Perfilowa, der Präsidentin des Interregionalen Verbandes der Deutschlehrer in Russland, bleibt es demnach weiterhin die Entscheidung der jeweiligen Schulverwaltung, die zusätzlichen Unterichtseinheiten auch in den Lehrplan einzubauen.

Vielen Schulen dürfte es dafür aber schlicht an Ressourcen fehlen. Obwohl der Staat jene, die sich für die Einführung entscheiden, finanziell unterstützen wird, ist der Zuschuss nicht direkt an den Fremdsprachenunterricht gebunden. Und auch der Lehrplan ist in vielen Schulen bereits so ausgelastet, dass der Unterricht einer zweiten Sprache kaum gestemmt werden kann. Statt der vorgeschlagenen zwei Unterrichtseinheiten pro Woche, findet sich schon jetzt meist nur eine Stunde in den Stundenplänen. Das ist eine große Belastung für die Lehrer, die in kürzerer Zeit denselben Stoff vermitteln müssen – und auch für die Schüler, die außerhalb des regulären Unterrichts Zeit und Energie für das Erlernen einer zweiten Sprache aufbringen müssen. Zudem bleibt in dem neuen Gesetz unklar, ab welcher Klasse die zweite Fremdsprache überhaupt eingeführt werden soll – auch dies ist letztlich der Schule überlassen.

Der Interregionale Verband der Deutschlehrer in Russland versucht darum, die Schulen selbst für die Möglichkeiten der Neuregelung zu gewinnen. Im Rahmen des Programms „Mehr Sprachen – höhere Effektivität“, das im Herbst stattfinden wird, sollen Schuldirektoren und -verwaltungen davon überzeugt werden, Deutschunterricht in ihren Lehrplan aufzunehmen. Denn der neue Bildungsstandart setzt zwar die Rahmenbedingungen fest, die allein werden aber nicht Motivation genug sein.

Von Jennifer Pahlke

Rubriken: Spracharbeit