Gerta Japs: „Nun bin ich groß geworden“


„Ich erinnere mich, dass wir einen großen Garten und eine Menge Land hatten und Vieh hielten“, erzählt Gerta Friedrichowna Japs. „Ich erinnere mich auch, dass man uns - Mama, Papa, mich und meine zwei Brüder Leonard und Ignatius nach Sibirien schickte.“

„Ich erinnere mich, dass wir einen großen Garten und eine Menge Land hatten und Vieh hielten“, erzählt Gerta Friedrichowna Japs. „Ich erinnere mich auch, dass man uns - Mama, Papa, mich und meine zwei Brüder Leonard und Ignatius nach Sibirien schickte.“

Das war so: die Eltern nahmen allen Hausrat, den sie mit ihren Händen tragen konnten (warme Kleidung, Geschirr und Küchenutensilien, und noch andere Kleinigkeiten), fassten uns Kinder an die Hand, schlossen die Tür hinter sich zu und „machten sich auf den Weg“ in den fernen Moskalenskij Rajon der Region Omsk. Ich war damals, im Jahre 1933, sieben Jahre alt.“

Die Familie Japs lebte bis zu ihrer Deportation in Schitomir.

„Nachts um Mitternacht brachte man uns nach Alexejewka“, setzt Gerta Friedrichowna fort und wischt sich mit ihren von mühseliger Arbeit gekennzeichneten Händen die Tränen aus dem Gesicht. „Anschließend ließ man uns bei irgendjemanden übernachten. Meine Eltern baten die Besitzer um Erlaubnis, ihre Tasche mit ins Haus reinnehmen zu dürfen, aber diese Bitte wurde ihnen verwehrt. Die Tasche musste sie draußen auf der Straße lassen. Am nächsten Morgen war nichts mehr da. Alles, was wir noch hatten, war das, was wir an unseren Körpern trugen.“

Darüber zu sprechen fällt der alten Frau nicht leicht. Die Erinnerungen sind allzu schmerzlich und zwingen sie, all das Erlebte, was bislang verdrängt wurde, erneut zu durchleben. Wir aber, wir fragen, mit dem Glauben und der Überzeugung, dass jene Erinnerungen für unsere Kinder, Enkel, Urenkel notwendig sind, immer und immer wieder danach...

Es begann die Hungersnot. Die kleine Gerta arbeitete für jeden Lohn als Kindermädchen bei den Anwohnern. Als sie älter wurde, arbeitete sie in einer Kolchose, auf dem Ochsenpflug. Die Familie hungerte so lange, bis Gerta Arbeit in einer Molkerei fand.

„Meinen Vater hatte man zu dieser Zeit in die Trudarmee eingezogen. Meine Arbeit hat uns alle letztlich gerettet. Ich durfte zwei Liter Magermilch mitnehmen. Als meine Mutter sie abholen kam, bekam sie einen weiteren Becher vor Ort zum Trinken“, erinnert sich Gerta Friedrichowna und kehrt noch einmal in ihre Kindheit zurück.

Im Jahr 1941 verließ der Bruder Leonard die Familie, er wurde in die Armee eingezogen. Er kam nie wieder zurück, bis zum heutigen Tag wissen die Angehörigen nichts weiteres von ihm. Die siebzehnjährige Gerta begann zu dieser Zeit in einer Fabrik zu arbeiten und die Familie zog nach Moskalenki.

„Wir luden die Waggons voll mit Korn. Wir taten dies alles mit eigenen Händen: die 70 Kilogramm schweren Säcke warfen wir auf unseren Rücken und beförderten sie in die Waggons. Wir waren damals so zerbrechlich, sehr hungrig, noch Kinder.“

Stille. Die Augen der Erzählerin füllen sich mit Tränen ...

Im Jahr 1942 schickte man Gerta und Olga Boitschenko nach Leningrad, um einen Zug mit Getreide zu begleiten.

„Ich erinnere mich nicht, wie meine Freundin aussah, aber ich kenne ihren Namen“, erzählt Gerta Friedrichowna. „Ich erinnere mich, wie an einer der vielen Haltestellen, ganz in der Nähe von Leningrad, Personen mit grauen Gesichtern und grauen Kleidern an den Zug herantraten: Still und schweigsam reichten sie ihre Hände in unsere Richtung und wir, gegen das Gesetz verstoßend, legten Korn hinein. Jemand aß das kostbare Korn sofort, hastig und streute es dabei versehentlich auf den Boden, andere wiederum drückten es fest an ihre Brust und verschwanden wieder in der Dunkelheit, um es wahrscheinlich ihren Lieben daheim zu geben. Wir gaben, durften aber selbst nicht essen. Ich erinnere mich an sie...“

„Bitte weine nicht, Mama“, sagt Tochter Ludmilla und streichelt ihre Hand. „Lassen Sie mich ihr ein wenig helfen.“

„Man kann nicht alles erzählen“, setzt Ludmilla Andrejewna Ehrlich, geborene Japs, fort. „Über den Krieg, über den Hunger und den Kannibalismus in den vom Krieg zerrütteten Dörfern und Städten, über die Unterdrückung und den Völkermord in der Zeit des Krieges, es ist viel geschrieben worden, aber viele unserer Zeitgenossen lesen nur noch selten darüber. Das, was die historischen Quellen dokumentierten, hat meine Mutter erlebt.“

„Irgendwann verstand die Mutter meiner Mutter - meine Großmutter Welmina, dass ihnen unmittelbar der Hungerstod bevorstand. Es gab zwar etwas, was die Kinder am nächsten Morgen und Übermorgen essen konnten, aber für danach blieb nichts mehr übrig. Deshalb nahm Welmina ihre Kinder Gerta und Ignatius sowie das Pferd und fuhr zu den Eltern ihres Mannes nach Kasachstan. Nachts machten sie Rast an Bahnhöfen, damit das Licht der Laternen böse Menschen verscheuchte, die das Pferd stehlen konnten“, erzählt Ludmilla Andrejewna. „An den Ort, bis zu dem das Essen ausreichte, schafften sie es nicht mehr. In einer Nacht teilte die Großmutter die letzte Kruste Brot in drei gleiche Teile und sagte: „Wir haben nichts mehr als diese Scheibe. Lasst uns beten, damit uns Gott für alles verzeihen möge....“ Plötzlich sahen sie, dass ihnen jemand, an den Gleisen entlang gehend, mit der Mütze zuwinkte. Um nicht von dem richtigen Weg abzukommen, war Friedrich Japs den ganzen Weg aus der Trudarmee entlang der Gleise zu Fuß gelaufen.

Die wiedervereinte Familie kehrte nach Hause, nach Moskalenki zurück.

Es gab im Leben von Gerta Friedrichowna auch noch die Jahre der Kommandantur, als sie sich zu einem Ausflug nach Alexejewka melden sollte...es gab auch den Hunger der Nachkriegszeit und Zeiten, als ihre acht Kinder - sieben Töchter und ein Sohn, aufwuchsen.

„Nun bin ich groß geworden“, sagt sie, Gerta Japs mit einem kurzen Lächeln.

Hinter diesen wenigen Worten schimmert, wie ein Filmband, das schwierige Leben dieses erstaunlich starken Mädchens, jungen Frau und Mutter durch.

Ebenfalls groß geworden und ihren Platz im Leben gefunden haben ihre sieben Töchter: eine lebt in Moskau, eine andere in Omsk, die nächste in der kleinen Siedlung Swesdino. Nun fürchtet sich Gerta Japs nicht mehr vor Kälte und Hunger - die Kinder kümmern sich liebevoll um sie. Tochter Ludmila ist immer bei ihr - sie leben bereits seit 15 Jahren zusammen. Die Kinder haben keinen Antrag auf Rehabilitierung und Anerkennung des Status „Repressierte“ gestellt. „Wieso auch?“, denken sich ihre Angehörigen, „sie benötigte die Hilfe des Staates, als sie klein war, aber nun beschützen wir sie und geben ihr all die Liebe, Güte und Wärme, die sie uns einst großzügig schenkte.“

Jetzt ist Gerta Friedrichowna „groß“ geworden. Im März feierte sie ihren 91. Geburtstag. Aber in ihrer Seele bleibt sie weiterhin, so scheint es, ein Kind, das vergibt und aufrichtig daran glaubt, dass die Welt um sie herum gut ist.

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