„Mein Leben ist keine Flucht“: Zu Besuch bei Flensburgs Stadtpräsidentin mit sowjetischen Wurzeln


Swetlana Krätzschmar (CDU) ist eine Anomalie in der deutschen Politik: als Mathematikerin und vor allem als ehemalige Sowjetbürgerin, die während des Kalten Kriegs gleich zweimal in Richtung Westen auswanderte. Heute ist sie die oberste Repräsentantin der Bürger von Flensburg (Moskauer Deutsche Zeitung, Ausgabe Nr. 23 (414), Dezember 2015). 

Frau Krätzschmar, die Vornamen der Stadtpräsidenten Flensburgs seit 1950 lauten: Jacob, Thomas, Carl, Hanno, Johan, Artur, Horst, Ingrid, Lothar, Peter, Hartmut, Hans Hermann, Christian und Swetlana. Welcher Name fällt aus der Reihe?

Es ist schon ungewöhnlich, dass eine russischsprachige Bürgerin, wie man an meinem Vornamen unschwer erkennen kann, zur höchsten politischen Repräsentantin von Flensburg gewählt wurde. Dass ich nicht nur in einer Kultur gelebt habe, empfinde ich aber als wunderbares Geschenk. Das bringt auch ein anderes Denken mit sich, eine andere Herangehensweise an viele Dinge – es ist eine Art Erweiterung meiner selbst.

Sie sind gleich zweimal vomOsten in den Westen eingewandert: Aus der Sowjetunion in die DDR, später nach Westdeutschland. Kann man sagen, dass Sie doppelt geflüchtet sind?

Nein, definitiv nicht. Mein Leben ist keine Flucht, sondern ein individueller Lebensentwurf. Freiheit ist wie ein Handwerk und nur durch das Erlernen dieses Handwerks kann ein Mensch sich zum Gestalter seines eigenen Lebens machen.

Und wann haben Sie Freiheit gelernt?

Als ich mit 22 Jahren an der Universität in Leipzig Deutsch lernte. Das eröffnete mir eine andere Kultur: Ich fing an, die Philosophen der Aufklärung zu lesen, vor allem Immanuel Kant. Da habe ich allmählich verstanden, was persönliche Freiheit bedeutet, Individualität und Handlungsfreiheit.

Wie gut integriert sind die Russlanddeutschen in Ihrer Stadt?

Das „russische Flensburg“ umfasst etwa 2500 russischsprachige Menschen: Russlanddeutsche, jüdische Kontingentflüchtlinge aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und Menschen aus gemischten Ehen. Als Dolmetscherin habe ich viele Enttäuschungen und Ungerechtigkeiten bei den Russlanddeutschen mitbekommen. Die meisten arbeiten unterhalb ihres Bildungsniveaus, etwa als Pflegerinnen, Haushilfen oder in der Gebäudereinigung, weil ihre Lehrer- oder Ingenieursdiplome nicht anerkannt wurden. Dennoch haben sie sich durch harte Arbeit und Verzicht auf die eigene persönliche Entwicklung zugunsten ihrer Kinder gut integriert. Das wird von unserer Gesellschaft zu wenig gewürdigt. Trotzdem: Immer häufiger haben die Jahrgangsbesten an den deutschen Schulen osteuropäische Wurzeln, viele von ihnen studieren. Das freut mich natürlich.

Dafür dreht sich jetzt alles um die Integration der neuen Flüchtlinge ...

Wir gehen in eine ungewisse Zukunft, was die Intensität und die Dauer dieser Flüchtlingswelle angeht. Ein großer Teile unserer Gesellschaft hat Angst, dass uns diese Krise mehr als nur herausfordert – dass sie uns überfordern wird.

Manchmal wird die aktuelle Flüchtlingswelle mit den Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg oder den Aussiedlern nach 1990 verglichen ...

Entscheidend sind nicht die Zahlen, die man immer vergleichen kann, sondern die Umstände. Und die sind damals ganz andere gewesen. Die 14 Millionen Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg waren Deutsche aus den Ostgebieten mit gleicher Sprache, Religion und Kultur. Weil Deutschland zerstört und für alle genug Arbeit beim Wiederaufbau da war, konnten sie sofort in den Wirtschaftskreislauf integriert werden. Auch die 2,5 Millionen Spätaussiedler, die ab 1950 bis heute nach Deutschland kamen, waren zum größten Teil der deutschen Sprache mächtig. Die Integration der heutigen Flüchtlinge, die fast ausschließlich aus dem muslimischen und dem afrikanischen Raum kommen, wird nicht so einfach gelingen.

Haben Sie noch Familie in der Ukraine?

Meine Mutter. Wir wollten immer, dass sie zu mir zieht, aber die deutschen Gesetze erlauben das nicht.

... das heißt: Sie als Stadtpräsidentin von Flensburg können Ihre Mutter nicht zu sich holen?

Die Familienzusammenführung erstreckt sich nun mal nicht auf die Eltern. Seit 1990 durfte meine Mutter uns besuchen und war fast jedes Jahr mehrere Monate hier. Mittlerweile ist sie schon 84, deshalb fahre ich jetzt immer zu ihr in die Ukraine.

Sie haben also auch eine persönliche Beziehung zum Konflikt in der Ostukraine. Wie sehen Sie die Lage dort?

Man mag die Ereignisse dort bewerten, wie man will. Die Menschen im Osten hatten am Anfang wirklich Angst, dass sie zum Beispiel ihre Sprache nicht mehr sprechen dürfen. Schon seit der Orangen Revolution 2004 waren in der Ukraine nationalistische Tendenzen zu spüren. Nehmen Sie die Denkmäler für Stepan Bandera: Seine Leute hatten meine Großmutter fast totgeprügelt, als sie von den deutschen Besatzern 1942 zum Tode verurteilt wurde. Sie hat nicht alle Lebensmittel abgegeben – sie hatte fünf Kinder zu ernäh-ren. Und jetzt ist Bandera ein Nationalheld in der Ukraine? Die Menschen, die den Krieg erlebt haben, können das nicht mehr verstehen.

So etwas hört man eher selten von deutschen Politikern, jedenfalls aus der CDU ...

Für dieses Recht, meine Meinung frei zu äußern, habe ich viel riskiert. Ich bin jetzt sozusagen in meinem dritten Leben: Das erste war in der Sowjetunion, das zweite in der DDR. Diese Freiheit lasse ich mir nicht nehmen, auch wenn es oft nicht einfach ist. Manchmal habe ich schlaflose Nächte, in denen ich überlege, wie ich etwas „politisch korrekt“ formulieren kann.

Die Fragen stellte Julia Larina
Moskauer Deutsche Zeitung

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