Noch viele sonnige Lebensjahre


Оlga Kühn (geborene Schmidt) feiert bereits ihren 90. Geburtstag. Auf ihr bewegtes Leben von glücklichen Kindertagen über Krieg und Arbeitslager, bis hin zur Umsiedlung nach Deutschland blickt ihre Nichte Elvira Schick zurück und gratuliert ihrer Tante zum Jubiläum.

90 Jahre sind nun vergangen, seit sie am 18. Januar 1926 das Licht der Welt in der Ukraine (Georgstal – eines der achtzehn deutschen Dörfer der Gegend) erblickt hatte. 90 Jahre sind eine stolze Zahl und trotzdem scheint alles wie gestern gewesen zu sein. Sie war die jüngste in der Familie und wurde immer liebevoll mit dem Kosenamen „unser‘ Olche“ gerufen.

Georgstal lag an dem Fluss Tersa, wo die Kinder in den heißen Sommertagen gerne badeten. Überall wuchsen Flieder, Tulpen, Pfingstrosen, Maulbeerbäume und andere Pflanzen. Die Vögel sangen wunderschön, so dass sich Olgas älterer Bruder Woldemar in der Ferne, als er dort weiter lernen musste, immer daran erinnerte und sich sehr zurücksehnte. Die Bewohner lebten friedlich miteinander und feierten zusammen die besonderen Tage des Jahres.

Olga Kühn kann sich gut an das Elternhaus erinnern. Es war nicht groß und von verschiedenen Obstbäumen umgeben: Aprikosen-, Pflaumen-, Kirsch-, Apfel-, Birnenbäumen und Schlehenbüschen. Das Obst duftete über das ganze Haus, wenn man es in den Raum brachte und auf den Tisch stellte. Sie hat auch nicht den Akazienbaum an der Eingangstür vergessen, wo ihr Vater immer Sand hinbrachte. Das war dann der Spielplatz für die kleineren Kinder. Obwohl sie kein Spielzeug hatten, war es stets sehr interessant. So dienten Glasscherben als Kindergeschirr, Steinchen als Essen usw.

Der Bruder Woldemar sorgte stets für die kleine Olga. Er brachte ihr die Buchstaben bei, dabei wurde die Tür als Tafel genutzt. Als sie später im Internat wohnten, kam er jeden Tag in die Mädchengruppe und brachte ihr etwas Leckeres. Ihre Freundinnen wussten das schon und spielten ihr einmal einen Streich; Sie gaben Olga eingewickelte Zahnpasta als Bonbons und sagten, ihr Bruder wäre da gewesen.

Olga konnte den weiten Weg nach Hause am Wochenende nicht zurücklegen, sie war dazu zu schwach, es waren ja ganze 25 Kilometer, aber Woldemar ging mit seinen Kameraden los und brachte dann das Nötige von zu Hause für seine Schwester mit.

Die Mutter Luise Schmidt (geborene Bergmüller) konnte gut nähen, und das half sehr der Familie, die, wie aus der Geschichte der Ukraine bekannt ist, etliche Hungersnöte überstehen musste. Unser Vater erinnerte sich sehr oft in Dankbarkeit an die Mutter, die es geschafft hatte, die Familie zu retten.

Als die Mutter das Haus durch die Deportation verlassen musste, versteckte sie das Schifflein von der Nähmaschine in dem Keller und der vom Graben von Schützengräben zurückgekehrte Vater fand es sogar wieder. Diese Nähmaschine war ein besonders geschätzter Gegenstand, denn Luise Bergmüller bekam sie mit fünfzehn Jahren noch von ihrer Mutter. Und das Nähen hat sie dann bei einer taubstummen Frau gelernt.

Olga Kühn weiß noch genau, wie diese Nähmaschine aussah: Auf der Fußpedale konnte man Figuren erkennen, von denen sie als Kind immer Staub mit einem Lappen abputzte. Diese Nähmaschine stand in der Familie sehr in Ehren. Später kam der ältere Bruder in die Armee und diente in der Mongolei. Man verabschiedete sich von ihm mit Gedanken eines baldigen Wiedersehens, aber niemand ahnte, dass die Familie in der nächsten Zeit ganz auseinandergerissen würde: Die Mutter und die ältere Schwester mit zwei kleinen Kindern wurden nach Kasachstan deportiert, der jüngere Bruder, Olga und der Vater kamen nach Deutschland.

Ein Wiedersehen mit allen Familienmitgliedern gab es nicht mehr, und doch konnte die Mutter nach Jahren Olga dann noch wieder in ihre Arme schließen.

Vor der Armee hat Woldemar seine Schwester noch bei dem Kurs „Fremdsprache“ angemeldet. Das war eine Art Fernstudium. Sie begann schon Aufgaben zu erfüllen, aber der Krieg zog über ihre ganzen Pläne einen Strich.

Ihr Bruder Konstantin, der nur etwas älter als sie war, liebte über alles Pferde. Dabei machte ihm das Lernen keinen besonderen Spaß. Der Lehrer bemerkte, dass kaum die Schule aus war, der Konstantin schon in Windeseile auf seinem Pferd durch das Dorf ritt. Er pflegte gerne die Tiere, und beim Baden tauchte er unter den Bauch eines Pferdes und kam von der anderen Seite wieder heraus. Die Mutter erlaubte das nicht, da sie befürchtete, dass das Tier ausschlagen könnte. Der Junge aber beruhigte sie – im Wasser schlage kein Pferd aus.

Konstantin sollte Gärtner und Bienenzüchter in Sofijewka (Wygodnoj) werden.

Olga Kühn erinnert sich mit Dankbarkeit an ihren Russischlehrer Malaschenko in der ukrainischen Schule, die sie besuchte, als es keine deutschen Schulen mehr gab.
Er fragte das Mädchen jeden Tag ab, und sie kam schnell voran.

Vieles musste unsere Tante in den späteren Jahren erleben. Sie erinnert sich an den Ural (Solikamsk), wohin sie von Torgau verschickt wurde; an ihre Freundin Valentina Wronskaja. Zu jener Zeit (1947) waren beide zwanzigjährige Mädchen. Sie hätte sehr gerne über das weitere Schicksal von Valentina erfahren. Man hat auch schon versucht, sie durch die sozialen Netze zu suchen, aber bis jetzt ergebnislos. Natürlich ist auch die Freundin nicht in dem Alter, wo man intensiv das Internet nutzt, aber man hofft doch, dass jemand von ihren Enkeln auf den Namen vielleicht aufmerksam wird.

In Solikamsk war Olga erst in Nagornaja (Männer und Frauen), dann in Goreljniki (nur Frauen). Später wurde sie nach Karabas verlegt und die Freundin blieb in Solikamsk. In Karabas durften nur 2 Briefe im Jahr geschrieben werden. Auf der Brust, Knie und Rücken hatte Olga die Nummer „1 Ш 809“ drauf. Hier musste man Baumaterial (Stämme, Glas, Zement) ausladen.

Der Chef hier hieß Michail Alexejewitsch Dawletukajew, es war ein Tschetschene. Da Olga Brigadierin war, organisierte er eine Küche, und sie durfte sich eine Köchin aussuchen. Das war dann eine Frau mit Namen Marta.

Nun wurde ganz gut gekocht. Es gab sogar den Salat Winegret und eine Graupensuppe. Im Lager sprach man sofort herum, dass es dort einen ersten und einen zweiten Gang gab.

Olga stand 300 Frauen vor. In dieser Küche konnte auch ihre Freundin Anche satt werden. Sie war immer gesundheitlich sehr schwach. Anche erzählte später ihrer Mutter, dass sie nur dank Olga überlebt habe.

In Semipalatinsk heiratete Olga Ernst Kühn, den Freund ihres Bruders, und lebte glücklich viele Jahre im Kreise der Familie.

Seit 1989 ist Olga Kühn in Deutschland. Aus Lemgo zog sie vor vielen Jahren nach Bayern, wo sie auch an ihrem Geburtstag zahlreiche Gratulationen entgegennimmt. So gratulieren wir herzlich unserer lieben Tante Olga zu ihrem 90. Ehrentag und wünschen dem Geburtstagskind Gesundheit, viel Glück und noch viele frohe, sonnige Lebensjahre.

Autorin: Elvira Schick

Dieser Artikel erschien zuerst in der Deutschen Allgemeinen Zeitung

Rubriken: Verschiedenes