Klangharmonie


Im Rahmen der „Biblionacht“ in Moskau wurde die Anthologie der russlanddeutschen Prosa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Anfang des 21. Jahrhunderts „In der Luft wächst ein Glockenturm aus Lauten“, herausgegeben vom Internationalen Verband der deutschen Kultur (IVDK), vorgestellt.

Die Literatur gibt das ethnische Weltbild der einen oder anderen Volksgruppe wieder, das Genre - bestimmte Komponente der Literatur. Das ist die Meinung der Autorin und Herausgeberin der Anthologie Elena Seifert, indem sie den Lesern die künstlerische Prosa der Russlanddeutschen mit der breiten Palette ihrer Poetik und Problematik darstellt.

An stillen Winterabenden füllte die Melancholie das Herz. Vergebens suchte David Pavlovitsch nach einer Beschäftigung, um sich ablenken zu können, das Herz schmerzte sehr stark, pausenlos und die Luft blieb weg. Er fühlte sich wie ein Tier, das in eine Falle geraten ist. Er erinnerte sich an die Erzählung des Jägers Abilmazhina: Der Wolf, der in eine Falle gerät, frisst sich selbst seine Pfoten ab, um sich aus der Falle zu befreien, um wieder die Freiheit zu bekommen. Aber er, David Erlich, ist kein Wolf, er konnte sich auch gar nicht vorstellen, aus welcher Falle er sich befreien sollte, und hatte auch keine Vorstellung um welche Freiheit es geht, und wo diese Freiheit zu finden ist. Fiebrige Visionsfetzen, verwickelte und störende Stücke der Erinnerungen kamen im das entzündete Gehirn, er drehe sich mehrmals im kahlen Bett um, mit einer verdichteten Bettmatratze, schlief er erst kurz vor der Dämmerung ein. Immer die gleichen Gedanken verdummten das Bewusstsein, die müßigen Gedanken kreisten und flackerten im Kopf und da fühlte er sich nicht wie ein Wolf in der Falle, sondern wie ein angeschossener Hase im Sack des Jägers.

Gerold Belger, Roman „Haus des Wanderers“, 2003

Die Anthologie beginnt mit der Genre Roman. Der Roman fand nicht gleich seinen Platz in der Nachkriegsliteratur: Dieses Genre spiegelt das Schicksal eines Volk wieder, dabei war das Schicksal sehr lange geheim. Die Romanautoren schreiben über die geschichtlichen Erinnerungen des Volkes, das sich sehr gut an den Schmerz erinnert, aber auch über die Hoffnungen und die Möglichkeit auf ein Leben der Gleichen unter Gleiche, egal ob in Russland, Kasachstan oder Deutschland. Die Anthologie beinhaltet 14 Ausschnitte aus Romanen, die zu verschiedenen Zeiten erschienen. Einige von den zehn vorgestellten Autoren, darunter Viktor Klein oder Eleonora Gummel, schrieben und schreiben nur in deutscher Sprache, andere, wie Igor Gergerröder und Oleg Kling – in russischer Sprache. Elena Seifert unterstreicht in der Anthologie die künstlerischen Zweisprachigkeit der Autoren – Russlanddeutschen und wendet sich an den bilingualen Leser.

In der Luft wächst ein Glockenturm aus Gebetsklängen. „Jesu, geh voran…“ Die Schute ist furchtbar überfüllt, Gestank, Kälte, hungrige und verängstige Frauen versuchen ihre hungrige und verängstigte Kinder zu beruhigen. Männer, mit gesenkten Haupten, singen mit eisernen Stimmen „Jesu, geh voran…“. Die Wache ist stumm, traut sich nicht, den Gesang zu unterbrechen. Die Silberworte fallen über Bord und das Eisenmeer wird kleiner. Der lyrische Solosänger ballt die Fäuste, die Deutsche Sprache schmilzt auf seiner Zunge und das Lied schwebt in der Luft.

Elena Seifert „Schmelzenboot“ 2016

Der Roman der Russlanddeutschen beeinflusst das mittlere und kleinere epische Genre, dennoch stellen Literaturwissenschaftler auch eine umgekehrte Bewegung fest: Von der Erzählung und Kurzerzählung zum Roman. Ein aufmerksamer Leser der Anthologie wird dies bei den fast 50 Beispielen des mittleren epischen Genres feststellen können. So ist es mit den Geschichten der Russlanddeutschen, die eine Entwicklung mehreren Handlungsstränge präsentieren, sowie eine große Anzahl der Gestalten, deren Schicksal das Schicksal des gesamten Volkes widerspiegelt. Die Zeile aus „Schmelzenboot“ mit dem Untertitel „Karaganda Geschichte“, wurde zum Titel der gesamten Anthologie „In der Lust wächst ein Glockenturm aus Lauten“. Der Sinn dabei ist, dass ein wahres Werk harmonisch wächst, wie ein Glockenturm, erklärt Elena Seifert.

Die von ihr ausgewählten Ausschnitte aus Geschichten und Romanen, Kleingeschichten und Schwänke sind ein Beispiel einer wahren Literatur, die der Leser noch nicht kennt. Selbst Russlanddeutsche kennen oft diese Autoren nicht und haben nur selten die Möglichkeit, die Literatur der russlanddeutschen Autoren kennenzulernen. Die Anthologie, folgt der bereits zweimal veröffentlichten Anthologie der Literatur der Russlanddeutschen „Der misstrauischen Sonne entgegen“, und dient dazu, das Interesse zu erwecken, das gesamte Werk lesen zu wollen und die Werke anderer Autoren kennenzulernen und dabei die Entwicklung der Literatur feststellen zu können.

In meiner Stadt sind 200 Tage im Jahr grau. Wenn man überlegt, wie viel Ungewöhnlichen in diesem Grau passiert, das ist kaum zu glauben. Man hat immer den Wunsch, dass das Wichtigste von etwas Besonderem umgeben ist. Mit dem Wunder des Regenbogens, mit dem Sonnenspiel, Schatten durch den Laub, dem Sonnenuntergang, Schneeglänzen. Es gibt in der Welt so viele wunderbare Orte… Es klingt wie ein Urteil, wenn man gezwungen ist, wie ein Feuerwerk unter dem grauen Himmel zu brennen, der nur selten durch den Schnee, Regen, oder Schneeregen unterbrochen wird.

Elena Grinewald
Kurzgeschichte „Frühlingskönigin“ 2012

Die Anthologie „In der Luft wächst ein Glockenturm aus Lauten“ enstand im Rahmen des Programms „Ethnisches Weltbild in der Literatur (am Beispiel der Literatur der Russlanddeutschen des zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Anfang des 21. Jahrhunderts)“, vorbereitet 2013 vom Institut der ethnokulturellen Bildung – BiZ und beinhaltet Prosa der russlanddeutschen Schriftsteller. Die Vollversion gibt es in der digitalen Bibliothek des Portals RusDeutsch. . Изд.: М.: РусДойч Медиа, 2016 ISBN: 978-5-9907537-1