Halbe Schritte - Halbe Sachen

1957 versuchte der sowjetische Staat das deutsche nationale Bildungssystem zu entwickeln. Heute sind es die Russlanddeutschen selbst, mit Unterstützung beider Staaten, die ein Bildungssystem mit Deutsch als Muttersprache aufbauen. Welche Perspektiven gibt es?

Anfang Juli kommen nach Budapest Vertreter von Organisationen der deutschen Minderheiten aus Zentral- und Osteuropa sowie der GUS Staaten. Während der Konferenz „Deutsch als Minderheitensprache im Kontext der europäischen Mehrsprachigkeit – Perspektiven und Herausforderungen“ werden Perspektiven des Deutschunterrichtes der deutschen Minderheiten sowie aktuelle Herausforderungen besprochen. Über Ihre Fortschritte in diesen Fragen werden Russlanddeutsche berichten. Welche Orientierung haben sie?

Gab es früher ein solches Bildungssystem? Vielleicht gab es eines vor der Revolution in den damaligen deutschen Kolonien, wo es deutschen Schulen gab und die Deutschen zum meist gebildeten Volk Russlands zählten. Oder nach der Revolution 1917, damals gab es tausende deutsche Schulen in Russland und die Lehrer haben an dutzenden Unis in Russland studieren können.

Zuerst hat mal Schulbücher in deutscher Sprache herausgegeben, danach wieder verboten, weil diese anscheinend von Staatsfeinden geschrieben wurden. Mal gab es die Möglichkeit die Bildung in deutscher Sprache zu genießen, dann wieder nicht. Diese Bildung war zeitweise sogar kostenpflichtig. Danach kam der Krieg und lange 15 Jahre, in denen die Sowjetdeutschen keine Möglichkeit hatten in ihrer Muttersprache ausgebildet zu werden Manchmal wurde ihnen sogar die Möglichkeit eine Schule zu besuchen und zu studieren genommen. Im Dezember 1955 wurde das Regime der Zwangssiedlung aufgehoben und im April 1957 hat man aufgrund der Anweisung des Ministeriums für Bildung der RSFSR mit dem Unterrichten der deutschen Sprache als Muttersprache begonnen.

Ähnliche Anweisungen wurden in Kasachstan und Kirgisien umgesetzt. Der Wiederaufbau des Bildungssystems in deutscher Sprache war sehr schwierig: Es mangelte an Lehrkräften, Lehrbüchern und methodischen Ausgaben. „Das Bildungsministerium der RSFSR schreiben vor, dass mit dem Anfang des neuen Schuljahres in den Schulen, wo es viele deutsche Kinder gibt, auf Wunsch der Eltern Deutschals Muttersprache nach einem breiten Bildungssystem eingeführt wird“, informiert die Zeitung „Neues Leben“ (Nummer 13/1957). „Es sind zwei verschiedene Klassentypen vorgesehen. In einer Klasse werden alle Fächer in deutschen Sprache stattfinden, bereits in der ersten Klassen dieser Richtung werden die Kinder 13 Wochenstunden in Deutsch und Deutscher Literatur unterrichtet. In den anderen Klassen werden die Fächer in russischer Sprache unterrichtet, aber bereits seit dem zweiten Schuljahr wird Deutsch nach gesondertem Programm unterrichtet. Es wurden sogar vom Verlag „Utschpedgiz“ eine Reihe von Schulbüchern herausgegeben. Darunter „Die Fabel“ und ein „Lesebuch“ von Heinrich Klassen sowie „Mein erstes russisches Buch“ von Albert Herdt und ein Mathe-Buch von Alexander Ptschelkov.

Aber leider sah alles nur auf Papier gut aus. Es gab keine Bildungsprogramme, methodische Bücher, es mangelte an Lehrern sowie Abiturienten, die ein Studium an der Uni in der Richtung machen konnten. Ein weiteres Hindernis stellten in den Schulen die Eltern der Schüler dar: Sie hatten Angst, ihre Kindern in so eine Schule zu bringen, da die Erinnerung an die Repressionen aufgrund der Nationalität noch sehr frisch waren. So konnte nicht viel in dieser Richtung erreicht werden. Nach einigen Jahren mussten die Deutschen selbst zugeben, dass das Bildungssystem schlecht ausgebaut ist und die Unterstützung vom Staat in dieser Richtung nur „Halbe Sachen, die dem Zufall überlassen waren“ gewesen sind.

Kann man denn überhaupt über ein sowjetisches System sprechen? Schriftsteller und Pädagoge Wendelin Mangold betonte, als er sich an sein Studium „Deutsch als Muttersprache“ an der Universität Novosibirsk und danach als Lehrer in Koktschetau erinnert, dass es ein feiges Zugeständnis den Deutschen gegenüber war, aber „trotzdem war es für die Zeit damals ein echter Meilenstein auf dem Wege der Rehabilitierung der Russlanddeutschen“.

Entwicklungsperspektiven

Nach aktiven und erfolglosen Versuchen, die Situation Anfang der 90er, als komplette russlanddeutsche Dörfer nach Deutschland umsiedelten, retten zu wollen, begannen Jahre der Inaktivität. Erst in den letzten fünf, sechs Jahren beschäftigt sich die Selbstorganisation der Russlanddeutschen wieder aktiv damit, die deutsche Sprache in die Schulen und andere Bildungseinrichtungen wieder zurück zu holen, zuerst mal in die Regionen, wo es russlanddeutsche Siedlungen gibt. Es gibt mittlerweile deutsche Gruppen in den Kindergärten, allein im Gebiet Omsk sind es um die 100. An der Omsker Universität werden Erzieher für die Gruppen mit Deutschunterricht ausgebildet. Ein ähnliches Programm wird 2017 zur ersten Mal vom BiZ angeboten. Die Selbstorganisation der Russlanddeutschen stütz sich auf das Unterrichten von Kindergartenkindern, was in der damaligen Sowjetunion nicht gemacht wurde. Vielleicht wird gerade dieser Versuch erfolgreicher.

Der Artikel stammt aus der Moskauer Deutschen Zeitung.