Reise zum Mittelpunkt des Krieges


Wie die Schlacht von Stalingrad Deutsche aus drei Generationen nach Wolgograd brachte - ein Artikel der Moskauer Deutschen Zeitung.

Das einstige Stalingrad sehen, die Gräber von Angehörigen besuchen – zum 75. Jahrestag der deutschen Kapitulation in der folgenschwersten Schlacht des Zweiten Weltkriegs hatte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge nach Wolgograd geladen. Teilnehmer der Reise: Nachfahren gefallener deutscher Soldaten und andere Interessierte. MDZ-Redakteur Tino Künzel hat sich ihre Geschichten angehört.

Die Oppermanns

Rosemarie Oppermann war vier Jahre alt, als sie ihren Vater zum letzten Mal sah. Dann zog er seine Uniform an und kam nie wieder. Beim Abschied muss sie fürchterlich geweint haben. Das weiß sie aus den Briefen, die er von der Front schrieb und die irgendwann aufhörten. Stattdessen gab es eine andere Nachricht: Willi Lukas ist tot, gefallen am 14. September 1942 bei Stalingrad. Als Ort wurde der Flugplatz Frohloff angegeben, russisch Frolowo. Von dort war Willi Lukas, Berufssoldat, Oberfeldwebel der Luftwaffe, Funker an Bord eines Militärflugzeugs, Einsätze geflogen, man hatte vor allem Bahnlinien bombardiert, um Nachschub zu unterbinden. In der Todesanzeige heißt es, er sei den „Fliegertod“ gestorben, „nach mehr als 100 erfolgreichen Feindflügen“. Die genauen Umstände sind nicht bekannt.

Jetzt sitzt Rosemarie Oppermann in der Lobby des Hotels „Intourist“ in Wolgograd und spricht über den Vater, den sie fast nur von Briefen und Fotos kennt und der doch irgendwie immer da war in den 75 Jahren, die seitdem vergangen sind. Er konnte ins Schwärmen geraten, wenn er mal wieder eine Führerrede gehört hatte. Sei der Feind erst besiegt, werde man eine glänzende Zukunft für das deutsche Volk aufbauen, hieß es in einem Brief. „Der Feind – das waren für ihn hauptsächlich die Engländer und die Franzosen“, erzählt die Rentnerin. „Dabei stammte er aus dem hintersten Ostpreußen und hat im Leben keinen Engländer oder Franzosen gesehen.“ Kurz vor seinem Tod mehrten sich allmählich die nachdenklichen Töne. Die Briefe klangen deutlich weniger kriegsbegeistert. „Ich sehe so viele Kameraden neben mir sterben“, schrieb er einmal. Und: „Ich denke, dass auch anderswo Mütter und Väter um ihre Söhne weinen.“

Der Vater sei sehr ehrgeizig gewesen, er habe etwas aus sich machen wollen und dafür „gelernt, gelernt, gelernt“. Aus Ostpreußen ging es nach Stade bei Hamburg, dort war er stationiert, dort lernte er Annelise kennen, Rosemaries Mutter. Man heiratete, aber das wäre „auf Dauer nicht gut gegangen“ mit den beiden, glaubt die Tochter. Annelise war eine lebenslustige junge Frau, die ihren eigenen Kopf hatte und sich nichts vorschreiben ließ. Von allen Nächsten kam sie am leichtesten über den Tod ihres Mannes hinweg. Eines Tages warf sie auch den Flugzeugpropeller weg, den er einst auf dem Dachboden deponiert hatte. Das war sicher nachzuvollziehen: Was hatte man schon für eine Verwendung dafür? Doch Rosemarie verstand vor allem, dass im Haus immer weniger an den Vater erinnerte. Als der Krieg vorbei war, da gelangten ihre Großeltern aus Ostpreußen als Flüchtlinge nach Stade. Einmal beobachtete Rosemarie, wie der Opa seine braune SA-Uniform in einen großen Kachelofen stopfte, um sie zu verbrennen. Und dann kamen auch schon die Engländer.

Annelise fand bei ihnen Arbeit, weil sie Englisch sprach. Viele Jahrzehnte später hat Rosemarie Oppermann erfahren, wo der Vater begraben liegt. Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge hat ihn auf den Soldatenfriedhof Rossoschka bei Wolgograd umgebettet. Sein Name ist einer von Tausenden auf der Mauer, die das Massengrab umläuft. Sie habe den Vater immer als Teil von sich empfunden, sagt die Tochter. Am Tag nach diesen Worten stapft sie, bei ihren Lieben untergehakt, über den Soldatenfriedhof. Der entscheidende Teil der Mauer muss mit Spaten und Besen erst vom Schnee befreit werden, dann können die mitgebrachten Blumen niedergelegt werde. Auf die Frage, was ihr das bedeute, antwortet Rosemarie Oppermann, man wisse ja längst nicht alles, was nach dem Tod passiere. „Man sagt, die Seele bleibt. Vielleicht spürt er ja irgendwie, dass ich hier bin.“ Nach Wolgograd ist Frau Oppermann nicht allein gekommen, sondern mit ihrem Ehemann, der Tochter und deren Freund. Roland Oppermann hat seinen Vater ebenfalls im Krieg verloren, in Westpommern, das bald darauf polnisch wurde.

Walter Oppermann war Justizangestellter. Als ihn die Kollegen als „Drückeberger“ belächelten, meldete er sich 1944 mit 42 Jahren zum Volkssturm. Hitlers letztes Aufgebot, das die Rote Armee fast schon mit bloßen Händen aufhalten sollte, hob Panzergräben aus, aber die Stellungen wurden von den anrückenden Sowjets einfach überrannt. Der Vater geriet in Kriegsgefangenschaft und kam auf einem Fußmarsch ums Leben. Roland Oppermann war damals zehn Jahre alt, Mitglied beim Jungvolk, ein Jahr später wäre er in die Hitlerjugend aufgenommen worden. Bis er das alles nicht mehr für den normalen Lauf der Dinge halten würde, sollte noch einige Zeit vergehen. „Ich war wie alle voll indoktriniert. Bei uns habe ich Kriegsgefangene gesehen, die passten genau zu meiner Vorstellung von Untermenschen.“ Einmal hat er für das Sammeln von Altmetall eine von Göring unterzeichnete Urkunde bekommen, die ging sogar mit auf die Flucht gen Westen Anfang 1945.

Der Vater habe ihn sehr geprägt, sagt Roland Oppermann heute. „Ich habe viel von ihm gelernt.“ Tochter Gesche Oppermann steht am 2. Februar auf dem Platz der Gefallenen Kämpfer in Wolgograd, wo eine Militärparade aus Anlass des Feiertags der Befreiung Stalingrads stattfindet. Sie kann ein bisschen Russisch und kommt mit einer Zuschauerin ins Gespräch, Maria. Die Frauen stellen fest, dass Großväter hüben wie drüben im Krieg gekämpft haben. „Wie hieß denn Ihr Opa?“, will Maria wissen. Gesche gefällt das. Man spricht nicht abstrakt über Personen, es wird schnell persönlich. „Warum können die Russen so gut verzeihen?“, wird sie am Abend bei einem Glas Wein im Hotel in die Runde fragen.

Ralf Seiler

Bereits zum zweiten Mal ist Ralf Seiler, IT-Administrator in einem Chemiekonzern, in Wolgograd. Ein Cousin seiner Mutter wurde in Stalingrad mit Datum vom 27. Dezember 1942 als vermisst gemeldet. Vor zwei Jahren sind Seiler und seine Mutter deshalb gemeinsam nach Russland gereist. Doch weil Edelgard Seiler inzwischen 90 ist, hat sich der 51-Jährige diesmal allein auf den Weg gemacht, im Winter, weil er die Kälte spüren wollte. „Das hört man auch von anderen in unserer Gruppe: Man möchte das am eigenen Leibe erfahren. Damals sollen in Stalingrad ja Temperaturen von 30 Grad unter null geherrscht haben, manchmal ist auch von minus 45 Grad die Rede. Und die deutschen Soldaten hatten nur ihre Sommeruniformen. Man meinte, Stalingrad schnell einnehmen zu können. Aber dann wurde es November, Dezember, Januar …“

In Wolgograd sind strenge Fröste heute die Ausnahme. Während sich die Deutschen in der Stadt aufhalten, geht der Schneefall in Regen über. Von Wärme spricht Ralf Seiler aber auch in einem anderen Zusammenhang. Teile der Verwandtschaft hätten ihn gefragt, warum er sich das eigentlich antue. „Aber was tue ich mir denn an? Man wird hier überall sehr herzlich aufgenommen. Und man merkt mit jedem Besuch, wie sich das Land weiter öffnet.“ 75 Jahre nach dem Ende der Schlacht von Stalingrad – das sei schon ein besonderes Datum. „Und das sollte man ruhig auch an sich rankommen lassen.“


Die Ruhls

Günther Ruhl hat lange mit sich gerungen. Zusammen mit den Kindern und Enkeln nach Wolgograd fahren und endlich reinen Tisch machen mit der Vergangenheit?

Der 86-Jährige tat sich schwer mit dem Gedanken, nicht so sehr wegen der Reisestrapazen, sondern vielmehr wegen der Sache mit seinem Vater, die ihm sein Leben lang keine Ruhe gelassen hat und von der er nicht wusste, ob es eine gute Idee war, sich ihr von Angesicht zu Angesicht zu stellen. Auch der Vater von Günther Ruhl gehört zu den Vermissten von Stalingrad. Vermisst – das sei das Schlimmste, schlimmer als eine Todesnachricht, die Gewissheit und Endgültigkeit mit sich bringt, sagt sein Günthers Sohn Michael. Der Großvater habe gar nicht zur Armee gemusst, sondern sich freiwillig gemeldet. Aus Abenteuerlust. „Mein Vater hat ihm das nie verziehen und die Verbitterung darüber, dass sein Vater ihn im Stich gelassen hat, all die Jahre mit sich herumgetragen. Er war damals elf Jahre alt. Er hätte den Vater doch gebraucht.“

Das Thema habe in der Familie immer mehr oder weniger unsichtbar im Raum gestanden. „Man hat es verdrängt und lieber nicht darüber gesprochen, um keine Wunden aufzureißen.“ Am Ende sei es eine Bauchentscheidung gewesen, zu fünft diese Reise anzutreten, drei Generationen der Ruhls: Günther, Michael und seine Frau Mariana sowie ihre Kinder Marietta (17) und Maximilian (14). „Wir hatten das Gefühl, das muss jetzt sein, das tut unserer Familie gut“, sagt Michael Ruhl. „Und ich kann mir ehrlich gesagt gar nicht vorstellen, dass man das nicht macht, wenn man die Chance dazu hat.“ Wolgograd sei ja nicht aus der Welt: 2700 Kilometer entfernt von Bad Kreuznach, wo man zu Hause ist, ein paar Stunden Flug und man ist da, „ein überschaubarer Aufwand“ mit „viel Wirkung“. Der Besuch auf dem Soldatenfriedhof sei „sehr bewegend“ gewesen und für seinen Vater „unglaublich wichtig“, damit habe sich gewissermaßen ein Kreis geschlossen.

Man sei vorher noch nie in Russland gewesen. „Wir haben schon überlegt, wie das wohl ist, als Deutscher hier herzukommen. Wir wussten, dass die Russen gastfreundliche und liebenswürdige Menschen sind. Aber dass sie das auch vor dem Hintergrund dieses Datums sind, dass das kein bisschen anders ist als sonst – unglaublich!“ Man habe aufschlussreiche, interessante, prägende Tage hinter sich, „auch für unsere Kinder war das eine tolle Erfahrung“. Jetzt könne man den Namen Stalingrad im Kopf mit neuen Bildern füllen. „Und es sind auch positive Bilder dabei.“

Burgel Rindermann

Russland habe ihr immer Angst gemacht, sagt Burgel Rindermann, Jahrgang 1941. Russland – das war Eis, Schnee, Kälte, Kampf, Niederlage. So hat es sich der früheren Sonderschullehrerin aus Rheinland-Pfalz von klein auf eingeprägt.

Als Dreijährige lag sie in Bad Hersfeld mit einer Blutvergiftung im Lazarett, inmitten von Verwundeten von der Ostfront. Und immer wieder fiel auch der Name Stalingrad. Manchen Männern fehlte ein Bein, anderen ein Arm. „Ich habe lange gedacht, das muss so sein. Erst mit sechs Jahren ist mir klar geworden, dass es auch Männer mit zwei Armen und zwei Beinen gibt“, erzählt Rindermann. Ab und zu sagt sie mit jugendlicher Verschmitzheit Sätze wie „Das Leben ist aber auch ein Drama“, die ihren Erinnerungen die Schärfe nehmen. In Russland wolle sie ihren Horizont erweitern und Menschen mit ähnlichem Schicksal treffen. Wegen ihrer Negativassoziationen mit dem Land meint sie: „Für mich selbst ist diese Reise heilsam.“

Der Artikel erschien erstmals ind er Moskauer Deutschen Zeitung 03/2018.

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