Und in welcher Sprache träumen Sie?


Der neue Aussiedlerbeauftragte Bernd Fabritius antwortet auf Fragen von und zu Russlanddeutschen.

Gleich seine erste Dienstreise führte Bernd Fabritius nach Moskau: Der neue Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten traf sich mit Vertretern der Russlanddeutschen, besuchte auch die MDZ. Statt eines Interviews haben wir Fragen aus dem russlanddeutschen Spektrum eingeholt und dem CSU-Politiker zwischen seinen Terminen vorgelegt.


Olga Litzenberger, Historikerin, Mitglied der Internationalen Assoziation zur Erforschung der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen, Mitglied des Göttinger Arbeitskreises und des Historischen Forschungsvereins der Deutschen aus Russland, selbst Spätaussiedlerin

Warum bekommen Spätaussiedler so eine kleine Rente, viel weniger als die alteingesessenen Deutschen?

Ich bezeichne das als eine der Generationen-Ungerechtigkeiten im deutschen Rentensystem. Die Wurzeln liegen im Jahre 1996 und einer Neid-Debatte, die damals, auf dem Höhepunkt des Aussiedlerzuzugs, in der deutschen Gesellschaft angezettelt wurde. Man hat der Bevölkerung vermittelt, da kämen jetzt massenhaft Menschen, die in Deutschland nie Rentenbeiträge gezahlt hätten, aber nun ungerechterweise Rente erhielten. Das zielte auf die komplette Abschaffung des Fremdrentengesetzes – so nennt man das Gesetz zur Wiederherstellung und zur Eingliederung der Anwartschaften von Spätaussiedlern in der deutschen Rentenversicherung.

Die Kompromisslösung waren drastische Rentenkürzungen, begründet mit dem schäbigen Begriff der „Akzeptanzerhaltung“. Mit anderen Worten: Man hat zunächst die Akzeptanz in der Öffentlichkeit kaputt gemacht, um dann zu sagen, dass man sie wiederherstellen muss, indem man über die Hälfte streicht. Zunächst wurde eine pauschale Kürzung um 40 Prozent eingeführt und zusätzlich eine Deckelung geschaffen, mit der man die Gesamthöhe einer Altersversorgung unabhängig vom Lebenslauf auf einen Betrag unterhalb der Armutsgrenze festgeschrieben hat, nämlich auf 25 Entgeltpunkte. Das entspricht etwa 750 Euro.

Was meinen Sie mit „Generationen-Ungerechtigkeit“?

Das Argument, die Spätaussiedler hätten ja nie etwas eingezahlt, ist grundfalsch. Wir haben in Deutschland kein kapitalgedecktes Rentensystem, bei der man Geld in einen Topf einzahlt und dann nach 30 Jahren von den Zinsen etwas bekommt. Wir haben ein Generationen-Umlagesystem: Damit hat man die Unterhaltungsverpflichtung in der Familie von vor 200 Jahren in eine Solidargemeinschaft überführt. Man wollte Familien, die aus den unterschiedlichsten Gründen keine Kinder haben oder wo ein Teil verstorben ist und eine Person im Alter deshalb allein dasteht, nicht allein lassen. Deshalb hat man sich gesagt: Wir nehmen von denen, die heute arbeiten, Beiträge und zahlen davon an jene, die nicht mehr arbeiten, Renten. Ein Generationen-Vertrag also.

Nun ist es so, dass von den Spätaussiedlern, auch den Russlanddeutschen, weitaus mehr an Beitragszahlung in die Rentenkasse erfolgt, als die Eltern entsprechende Leistungen daraus bekommen. Das liegt an der Altersstruktur. Ich zum Beispiel habe noch zwei Geschwister, wir sind zu dritt. Bei der Wohnbevölkerung in Deutschland sind drei Kinder die Ausnahme. Die Dichte der Beitragszahler ist bei Spätaussiedlern sehr viel höher. Deswegen kann ich die Kritik an den niedrigen Renten absolut verstehen. Ich kämpfe seit Jahren darum, dass wir diese Ungerechtigkeit beseitigen. Und das wird auch weiter ein Hauptansatzpunkt bleiben.


Olga Silantjewa, Chefredakteurin der „Moskauer Deutschen Zeitung“, Leiterin des Lehrstuhls für Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen am Institut für Ethnokulturelle Bildung (BIZ) in Moskau

Geht mit Ihrem Amtsantritt eine neue Politik gegenüber den Russlanddeutschen in Russland einher?Bislang hat jeder Ihrer Vorgänger seine eigenen Akzente gesetzt. Stehen Sie eher für Kontinuität oder für Umbruch?

Ich betrachte meine Arbeit nicht als Abgrenzung oder Fortsetzung. Jede Zeit braucht ihre Antworten. Ich sage Ihnen gern, was aus meiner Sicht heute die Schwerpunkte sein sollten und welche ich also setzen will, differenziert nach den beiden Aufgabenbereichen: den Interessen der Russlanddeutschen in Deutschland und in Russland. Um mit dem zweiten Bereich zu beginnen: Für mich ist die Festigung der eigenen Identität und der kulturellen Selbstverortung unerlässlich. Dabei ist die Muttersprache von zentraler Bedeutung. Ich sehe die besondere Vulnerabilität der Deutschen in Russland, die in einem riesengroßen Land in einer Diaspora-Situation leben. Das macht es unglaublich schwierig, sich als Volk zu verstehen.

Ich möchte all das fördern und voranbringen, was das Zusammengehörigkeits- und Gemeinschaftsgefühl stärkt. Das funktioniert nur, wenn ich die junge Generation mitnehme. Wir brauchen diesen Transfer der kulturellen Selbstverortung. Ich will deshalb einen großen Schwerpunkt auf die Jugendarbeit legen und auf die Vernetzung der Deutschen aus Russland und aus den anderen GUS-Staaten. Mehr noch: Wir sollten es schaffen, dass die deutschen Minderheiten außerhalb Deutschlands mehr zusammenarbeiten, dass wir deren Eigenständigkeit bewahren und einer Assimilation entgegenwirken.

Und in Deutschland?

Dort ist es genauso wichtig, dass man diese kulturelle Selbstverortung pflegt. Wir sollten den Menschen klarmachen, dass ihre Kultur etwas Wertvolles ist und dass wir als Bundesrepublik Deutschland sie damit nicht allein lassen. Im Paragrafen 96 des Bundesvertriebenengesetzes ist festgeschrieben, dass die Pflege und Weiterentwicklung der Kultur der deutschen Heimatvertriebenen und ihrer Heimatgebiete eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Darüber hinaus gibt es viele Einzelprobleme, die ich als „Anwalt der Spätaussiedler“ angehen will.

Da sind die besagten Renten ein großes Thema. Ich sehe aber auch bei der jungen Generation der ausgewanderten Russlanddeutschen einen großen Bedarf an Unterstützung. Diese jungen Leute fühlen sich vielfach nirgendwo mehr richtig zu Hause und vermissen gerade in den letzten Jahren die Willkommenskultur in Deutschland. Ich versuche, da aufklärend dagegenzuhalten.


Pawel Eckert, Leiter des Deutsch-Russischen Hauses in Omsk

Sollte man sich bei der Unterstützung der Russlanddeutschen nicht vor allem auf Jugend und Sprache konzentrieren und weniger auf politische Verfolgung zu Sowjetzeiten, auf Alte und humanitäre Hilfe wie bisher?

Für mich gibt es hier kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Die Geschichte, das, was diese Volksgruppe geprägt hat und zu ihrem Selbstverständnis gehört, muss auch in die Zukunft transportiert werden. Für kommende Generationen der Russlanddeutschen wird wichtig sein, dass sie das, was im letzten Jahrhundert passiert ist, kennt und als Wurzel mitnimmt.

Aber ich teile die Auffassung, dass dafür der Erinnerungstransfer zur Jugend gelingen muss. Und die Sprache ist selbstverständlich der Schlüssel dazu. Ich will den Begriff der Identität nicht überstrapazieren, aber ich bin sicher, dass die Sprache, insbesondere die Muttersprache, der wichtigste Zugang zum eigenen Ich, zur Kultur, zur Gemeinschaft und Geschichte ist. Deshalb müssen wir in die muttersprachliche Kompetenz sehr viel früher investieren, als das jetzt passiert. Ich halte es für viel zu spät, dass man damit irgendwann in der dritten, vierten oder fünften Klasse beginnt, wenn die Persönlichkeitsausprägung schon so weit fortgeschritten ist, dass man eine solche Sprache nicht mehr als etwas Natürliches empfinden kann.

Ich glaube, dass gelebte Muttersprache sich dadurch auszeichnet, dass man darin träumt. Ich frage Menschen immer, in welcher Sprache – oder Mundart – sie träumen. Meine Muttersprache ist Siebenbürgisch- Sächsisch, ein Mittelhochdeutsch, das dem Luxemburgischen ähnelt. Ich träume in dieser Mundart, weil ich so aufgewachsen bin. Wenn es uns gelingt, bei den Russlanddeutschen die deutsche Sprache aus dem Winterschlaf zu holen, in die sie durch die Repressionen nach dem Zweiten Weltkrieg verfallen ist, und sei es in Form der regionalen Mundart, in der Großeltern gesprochen haben, dann ist damit ein wichtiger Baustein für die kulturelle Zugehörigkeit geschaffen. Dass humanitäre Hilfe und Beistand für unsere Senioren wichtig bleiben, ist für mich ebenfalls eine Selbstverständlichkeit.


Oleg Strahler, Vizepräsident der National-Kulturellen Autonomie der Russlanddeutschen

Die Projektarbeit in den Regionen wird vielfach durch einen hohen bürokratischen Aufwand gelähmt. Kann man nicht Einfluss auf die GIZ als Mittler nehmen, damit die Empfänger von Zuschüssen weniger in Papier ertrinken und mehr Zeit für die Menschen haben?

Ich bin ein großer Freund von Vereinfachung auf das Notwendige. In diesem Sinne wird es demnächst auch ein Gespräch mit der GIZ geben. Aber da wir hier über Steuermittel reden, muss ich auch ein wenig um Verständnis dafür werben, dass deren Verwendung geprüft wird. Das ist kein Misstrauen, es dient schlicht der Transparenz und der Rechtfertigung.


Alexander Heier, Direktor des Deutsch-Russischen Hauses in Tomsk

Die Deutsch-Russischen Häuser arbeiten sowohl mit russischen als auch mit deutschen Einrichtungen zusammen. Wie sehen Sie ihre weitere Entwicklung, welche Rolle sollen sie spielen?

Es ist aus meiner Sicht genau richtig, sich in dem existierenden Umfeld zu integrieren, anstatt sich ethnozentristisch auszuklammern. Diesen Häusern kommt eine wichtige Brückenfunktion zu – innerhalb der Gemeinschaft, für die sie da sind, zu der Gesellschaft, die sie umgibt, und sogar bei bilateralen Verbindungen zwischen Russland und Deutschland. Ich sehe das maximal umfassend.


Jelena Geidt, Leiterin der National- Kulturellen Autonomie der Russlanddeutschen in Marx

Altenheime der deutschen Minderheit in Rumänien werden aus dem deutschen Staatshaushalt gefördert. Wäre das auch in Russland vorstellbar?

Diese Altenheime arbeiten sehr professionell und wirken sehr segensreich. Ich bin aber auch der Auffassung, dass der Staat, in dem die Menschen leben, eine ureigene Verantwortung für die sozialen Belange seiner älteren Bürger hat. Andererseits ist es auch im deutschen Interesse, dass Menschen, die in ihrer Heimat verwurzelt sind, nicht an ihrem Lebensabend entwurzelt werden, weil die Versorgung vor Ort zum Verbleib nicht reicht. Der deutsche Staat kann aber sicher nicht flächendeckend im Ausland Altenhilfe betreiben. Er kann nur unterstützend und flankierend tätig werden. In jedem Land gibt es eigene Projekte, die den Notwendigkeiten am besten gerecht werden.

Abschließende Frage: Wie kommt es, dass Sie als neuer Aussiedlerund Minderheitenbeauftragter als erstes nach Russland gereist sind?

Ich habe überlegt, wo es am wichtigsten ist, baldmöglichst vor Ort zu sein. Und für mich war völlig klar, dass die Deutschen in Russland zur vulnerabelsten Gruppe gehören. Es ist die größte deutsche Minderheit, es ist die am weitesten entfernte und diejenige, die im Wechselspiel der großen Politik am schutzbedürftigsten sein könnte. Ich habe deshalb keine Sekunde daran gezweifelt, dass ich zuerst nach Russland fahren muss.

Der Artikel erschien erstmals in der Moskauer Deutschen Zeitung 08/2018. Zusammengestellt von Tino Künzel.

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