200 Jahre Karl Marx: Ein Festival feiert sein Erbe in Russland

Lenin machte die Lehre von Karl Marx zur Standardlektüre eines jeden Sowjetbürgers. Nach dem Zerfall des Arbeiter-und-Bauern-Staates sind seine Theorien im wilden Kapitalismus verblasst. Doch der marxistische Nachwuchs regt sich wieder.

Karl Marx war nie in Nischnij Nowgorod. Nicht einmal in Russland. Und doch ist der Philosoph auf das Engste mit dem Land verbunden, das seine Theorien zum Fundament des Arbeiter- und Bauernstaates machte.

Marx‘ Gespenst geht in Russland immer noch um. Eine Stadt im Süden Russlands trägt seinen Namen, unzählige Denkmäler und nicht zuletzt rund tausend Straßen, die nach dem Denker benannt sind, zeugen von seinem Erbe. Auch in Nischnij Nowgorod. Entsprechend beging das staatliche Zentrum für zeitgenössische Kunst der Wolgametropole, das seinen Sitz im ehemaligen Arsenal des Kremls hat, in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Moskau am 5. Mai den 200. Geburtstag des einflussreichen Visionär – mit einem Picknick für die ganze Familie.

Eine Stadtführung durch das marxistische Nischnij Nowgorod gibt den Überblick. Doch nicht in der Karl-Marx-Straße beginnt sie, sondern am Denkmal zu Ehren der Marxisten. Eins, dass die meisten Bewohner in ihrer Hast entlang der Prachtstraße Pokrowka nicht mehr zu bemerken scheinen, meint die Führerin. Zu sehen ist Lenin, wie er in Nischnij Nowgorod die führendsten Marxisten empfängt. Es sind Persönlichkeiten wie Pawel Skworzow, Sergej Mickiewicz und die Schwestern Newsorowy, die kritische Salons im zaristischen Russland organisierten, um die Ideen des Marxismus zu propagieren und eine revolutionäre Bewegung zu entfachen. Doch das erlebte Marx nicht mehr, als sein „Kapital“ in den 1890er in Russland zur geistigen Nahrung der Intelligenzija wurde.

Und so geht es entlang einer Route, vorbei an historischen Bauten, die einst Zentren der marxistischen Idee waren: die Redaktion der Zeitung „International“, die die Ideen von Marx und Engels druckte, Buchhandlungen und Bibliotheken, die verbotene, aufklärerische Literatur verkauften oder ein Gymnasium, das geheime marxistische Zirkel abhielt. Dass es in Nischnij Nowgord eine aktive Jugend gab, kam nicht von ungefähr. Hierher wurden viele Revoluzzer verbannt. Auch der Revolutionär Maxim Gorki ist ein Kind dieser Stadt, genau wie Jakow Swerdlow, der den roten Terror der Bolschewiki und die Erschießung der letzten Zarenfamilie mitorganisiert hat.

Moderne Marxisten

Ein junger, schlaksiger Mann im braunen nordkoreanischen Kostüm schüttelt an dieser Stelle den Kopf. Er ist offensichtlich einer anderen Meinung. Auf seiner Brust prangen zwei kleine Anstecker, auf denen das Porträt von Kim Il-sung und Kim Jong-il zu sehen sind. Anton Tjumkow leitet die Abteilung der russischen Gesellschaft zur Erforschung der Chuch’e-Philosophie, die vom ersten Präsidenten Nordkoreas, Kim Il-sung, entwickelt wurde. „Natürlich interessiert mich auch der Marxismus“, sagt Tjumkow, der darüber hinaus Mitglied der russischen Komsomolzen ist. Bis 2012 hing auf dem Kim-II-sung-Platz von Pjöngjang auch ein Porträt von Marx. Da hat sich der 34-Jährige das Kostüm zugelegt, womit er in Nischnij Nowgorod auffällt. Für ihn ist Marxismus eine Ansammlung von Ideen, die Politik, Wirtschaft und Kultur betreffen und „die nur sehr schwer zu erfassen sind.“ Doch würde Marx heute noch leben, dann hätte er die Sprache der Jugend gewählt, da ist sich Tjumkow sicher. Das Kapital als Statusmeldung auf Facebook oder als eine Reihe von Memes.

Tjumkow ist nicht der einzige Besucher des Festivals, der sich als Marxist bezeichnet. Rauschebärte, schwarze Rollkragen-Pullover und Che-Guevara-T-Shirts sitzen im Saal. Sie alle heben ihre Hand, als Alexej Zwetkow, Schriftsteller, Publizist und politischer Aktivist, den Saal auffordert, rote Farbe zu bekennen. In seinem Vortrag erklärt er, warum Marx immer noch aktuell ist. „Die Finanzkrise beförderte ein Umdenken. Anhänger von Occupy Wall Street und des bedingungslosen Grundeinkommens machten Kapitalismuskritik wieder salonfähig, denn Marx’ Thesen dienen ihnen als Erklärungsmodell für viele Probleme“, sagt Zwetkow.

Auch in der Publizistik hat Marx wieder Konjunktur. Angefangen bei Thomas Piketty, der den Bestseller „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ schrieb, hin zu Paul Mason, der in seinem Buch „Postkapitalismus“ prophezeit, dass wir noch zu Lebzeiten das Ende des Kapitalismus erleben werden.

Während die Großen über das Wirken und das Erbe von Karl Marx lernen, malen die Kleinen sein Markenzeichen: buschige Brauen und graue Mähne. Es wird getauscht, gehandelt und verkauft. Mit Spielgeld lernen Kinder, wie Kapitalismus und Kommunismus funktionieren – mit allen Vor- und Nachteilen.

„Anti-Marxismus wurde wie Tafelsilber vererbt“

Die Nachteile des Kapitalismus sehen vor allem junge Leute. „Unsere Eltern wollten westliche Literatur und Musik konsumieren, wir dagegen sind von diesen Dingen vollgefressen. Und nun fragen wir unsere Eltern, warum sie diesen Weg gewählt haben und ob er besser ist“, erklärt Alexandra, Studentin der Internationalen Beziehungen. Oder es ist das Vakuum, dass nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden ist, das nun der Marxismus in Russland füllt, sagt Alexander, Student der Politikwissenschaft.

Dass Studenten sich wieder für den Visionär interessieren, freut Zwetkow, der an Wochenenden in der Buchhandlung Ziolkowskij in Moskau arbeitet. Viele junge Menschen kommen dorthin, um über den Marxismus zu diskutieren. Das sei nicht selbstverständlich. „In Intelligenzja-Familien wurde der Anti-Marxismus wie Tafelsilber vererbt. Ein paradoxes Phänomen. Doch diese Marx-Allergie wird vergehen”, ist sich Zwetkow sicher. Nach dem Vortrag ist er von jungen Menschen wie ein Popstar umringt, die seine Bücher dabei haben, um sie signieren zu lassen.

Die heutige progressive Ausrichtung gefällt auch Tatjana Leonidowa. Die 61-jährige Philosophie-Professorin lauscht, notiert und fotografiert. „Der Marxismus steht im Lehrplan wie zu sowjetischen Zeiten. Aber beim Festival habe ich neue Impulse bekommen.“

Am Rande des Picknicks war zu vernehmen: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“

Der Artikel erschien in erstmals in russischer Sprache in der Moskauer Deutschen Zeitng (17.05.2018).