„Moskauer Gespräche“ in München: Sozialreformen und Ängste der Russlanddeutschen


Im Rahmen des 4. Kultur- und Geschäftsforums „Made by Deutschen aus Russland“ in München fanden „Moskauer Gespräche“ statt – eine Diskussionsplattform zu aktuellen Fragen der deutsch-russischen Beziehungen. Das Format von Gesprächen ist den ständigen Teilnehmern schon bekannt, in München aber wurden die Gespräche zum ersten Mal abgehalten. Das Diskussionsthema lautete „Sozialreformen in Russland und Deutschland und die Ängste der Russlanddeutschen“.

In Russland sorgte die geplante Anhebung des Renteneintrittsalters im vergangenen Jahr für viel Aufregung und Widerwillen in der Bevölkerung. Der Reform zufolge sollen Männer künftig statt mit 60 erst mit 65 Jahren in den Ruhestand gehen. Bei den Frauen wird die Marke auch um fünf Jahre – von 55 auf 60 Jahre – angehoben. Vor allem Gering-Verdiener und Männer, die in Russland oft keine 65 Jahre alt werden, befürchten nun, nach einem anstrengenden Berufsleben das wohlverdiente Rentenalter gar nicht mehr zu erleben.

Auch die Gruppe der Russlanddeutschen in Deutschland ist von den sozialen Reformen betroffen. Die Spätauswanderer sind von der Rentenangleichung ausgenommen. Sie fallen unter das sogenannte Fremdrentengesetz, das auch nach Jahrzehnten der Arbeit Höchstrenten von maximal 800 Euro für die Zuwanderer vorsieht. Vielen Russlanddeutschen droht so ein Lebensabend
in äußerst bescheidenen Verhältnissen. Mehrere Landsmannschaften machten bereits auf ihre schwierige Situation aufmerksam.

Wie gehen die beiden Länder mit den demographischen Herausforderungen um? Mit welchen Reformen reagieren sie auf das wachsende Konfliktpotential? Was können Russland und Deutschland im Bereich der sozialen Reformen voneinander lernen und welche unterschiedlichen Ansätze verfolgen sie dabei? Um diese Fragen ging es beim diesem Moskauer Gespräch.

Als Experten zu diesem Thema waren Dr. Horst Wiesent, Leiter der SeniVita Sozial gGmbH, Prof. Dr. Michail Firsow, Lehrstuhlleiter für Sozial und Rehabilitierungsarbeit am Institut für zusätzliche Berufsausbildung für Mitarbeiter der sozialen Sphäre in Moskau und Anne Hofinga, Initiatorin und Leiterin des Deutsch-Russischen Sozialforums im Petersburger Dialog, Vorstandsvorsitzende Perspektive Russland e.V. (Frankfurt/M.) und Centr „Perspektiva“ (Moskau) aufgetreten. Moderiert wurde die Diskussion vom Journalisten, Chefredakteur des Deutschlandfunks, Andreas Stopp.

Horst Wiesent wies darauf hin, dass das heutige Sozialversicherungssystem in Deutschland noch von Otto von Bismarck, dem Kanzler des Deutschen Reiches, erfunden wurde. „Was heute alles existiert – Rente, Krankenversicherung, Arbeitsversicherung – all das wurde damals erfunden“, sagte er. Michail Firsow sprach über das von Katharina II. eingeführte regionale Finanzierungssystem: „Die Regionen erhielten sogenanntes unvergängliches Kapital und konnten es zu einem hohen Prozentsatz an die Bank weitergeben. Die erhaltenen Dividenden gingen an soziale Projekte. Spätere Kaiser fügten diesem System die Möglichkeit für soziale Einrichtungen hinzu, kleine Unternehmen zu gründen, und das durch den Verkauf erhaltene Geld erneut in den sozialen Bereich zu investieren. Heute ist es in Russland verboten“.

Beide Experten bestätigten, dass ältere Menschen in beiden Ländern heute die gleichen Probleme haben: Einsamkeit, mangelndes soziokulturelles Engagement, Armut und die Entwicklung von altersbedingten Krankheiten (z. B. Demenz). Horst Wiesent wies auch darauf hin, dass zukünftige Rentner möglicherweise bereits andere Probleme haben werden: Die Gesellschaft geht rasch in Richtung Digitalisierung, was bedeutet, dass es in 15 bis 20 Jahren die anderen Krankheiten von Rentnern entstehen, die infolge des allgemeinen „Smartphonisierung“ aufgetreten werden.

Es wurde auch die Rentenversicherung unter den Russlanddeutschen besprochen. Spätaussiedler erhalten eine niedrigere Rente als die anderen Deutschen. Arbeitserfahrung in Russland und anderen postsowjetischen Ländern wird ihnen nicht immer zugeschrieben. Sie können nicht die Rente gleichzeitig in beiden Ländern bekommen, dies verstößt gegen das deutsche Recht. Daher müssen sie oft in beengten Verhältnissen leben. Aber die Mehrheit der russischen Rentner befindet sich jedoch in dieser Situation. Anne Hofinga bemerkte, dass viele russische Rentner in Fürsorge ihres Verwandten stehen und dass dies einen gewissen Vorteil hat: „Ich weiß, dass ich im Ruhestand nicht nach Deutschland zurückkehren werde, weil hier niemand ist, der sich um mich kümmern wird“.


Zur Kenntnis:

Das Kultur- und Geschäftsforum der Russlanddeutschen findet schon zum vierten Mal statt. Im Jahr 2018 fand das Forum in Kaliningrad statt und versammelte etwa 140 Teilnehmer.

In diesem Jahr findet das Forum unter der Teilnahme des Bundesbeauftragten für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten Dr. Bernd Fabritius und des Leiters der Föderalen Agentur für Nationalitätenangelegenheiten der Russischen Föderation Igor Barinow statt.

Veranstalter: Internationaler Verband der Deutschen Kultur und Moskauer Deutsche Zeitung mit Unterstützung der Hanns-Seidel-Stiftung. Partner: Businessclub der Russlanddeutschen und Verband der deutschen Unternehmer aus Russland.

Das Kultur- und Geschäftsforum „Made by Deutschen in/aus Russland“ ist eine internationale Plattform für offenen Dialog und Erfahrungsaustausch im Bereich des Klein- und Mittelunternehmertums. Die Idee des Forums entstand im Businessclub der Russlanddeutschen. Das Forum findet seit 2016 jährlich statt – abwechselnd in Russland und in Deutschland.

Zu der positiven Entwicklung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Unternehmern und Regionen beider Länder tragen die Kultur- und Geschäftszentren der Russlanddeutschen und Deutsch-Russischen Häuser in Moskau, Kaliningrad, Omsk, Nowosibirsk und Tomsk bei.

Das Kultur- und Geschäftsforum findet Unterstützung auf höchstem staatlichem Niveau – die Veranstaltung wird immer anlässlich der Sitzungen der Deutsch-Russischen Regierungskommission für die Angelegenheiten der Russlanddeutschen durchgeführt.

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