Literat und Polyglotte


Nur wenige Landsleute wissen heute, dass am 29. Oktober dieses Jahres Franz SCHILLER (Pseudonym Fritz Petersen), ein hervorragender Wissenschaftler, Literaturhistoriker, Schriftsteller und Pädagoge, 120 Jahre alt geworden wäre. In der Vorkriegszeit war sein Name in der Sowjetunion weit und breit bekannt. Und zwar schon deshalb, weil er auf zahlreichen Lehrbüchern für die Literatur europäischer Länder stand.

Franz Schiller wurde in Mariental an der Wolga in einer Armbauernfamilie geboren. Bis zu seinem 12. Lebensjahr besuchte Franz Schiller keine Schule. Das deutsche und russische Lesen und Schreiben sowie die vier Grundrechenarten lernte er in der Hausschule, die sein Vater für die Winterzeit einrichtete. Als Halbwüchsiger war der Junge Gemeindehirt. Nach der Semstwoschule bestand Franz die Aufnahmeprüfungen in die vierklassige Vorbereitungsschule des Saratower katholischen Seminars. Danach hatte Franz Schiller keine Aussicht, ins Gymnasium zu kommen. Deshalb erwarb er sich 1917 den Titel eines Volkslehrers durch externe Prüfungen und wurde im Heimatdorf angestellt, wo er Sprache, Literatur und Geographie unterrichtete. Für Franz Schiller waren das Jahre aktiver pädagogischer und gesellschaftlicher Tätigkeit. Er leitete die örtliche Theaterkommission, brachte im Volkshaus Dutzende russischer und deutscher Bühnenstücke zur Aufführung, verfasste selbst zwei Bühnenstücke, die noch lange nach seiner Abreise gespielt wurden.

1922 wurde er am 2. Kurs der literarischlinguistischen Fakultät, Abteilung Westliteratur, der zweiten Moskauer Universität immatrikuliert. Noch während der Studienzeit, im Oktober 1923, wurde Franz Schiller Mitarbeiter des Marx-Engels-Instituts in Moskau. Er wurde mit der Verwaltung, Übersetzung und Redaktion der Manuskripte (Fotokopien) von Marx und Engels aus der Originalsprache betraut. „Der schriftliche Nachlass von Marx und Engels enthielt Dokumente in 16 Sprachen. Wenn ich bis dahin geläufig in sieben bis acht Sprachen arbeitete, so musste ich jetzt noch sieben bis acht Sprachen hinzulernen. 1933 arbeitete ich schon in 16 Sprachen.“ (Autobiographie). Die 1971 verstorbene Lehrerin und Folkloristin Klara Obert erinnerte sich: „In den meisten Memoiren ist die Rede von dem Professor und Gelehrten Schiller. Doch wir, die wir ihn noch aus der Jugendzeit kennen, haben ihn als geistreichen und trotz aller Miseren lebensfreudigen Mann im Gedächtnis. Einmal waren wir, einige Landsleute, bei ihm zu Gast. Franz erzählte von seinem Leben in Moskau, seine Arbeit. Gestand, dass ihn im Sommer oft das Morgenrot am Schreibtisch antreffe. Wir kannten ihn ja, wussten, dass er nicht selten ins Extreme verfiel. Drangen auf ihn ein, eine solche Lebens- und Arbeitsweise schade der Gesundheit, die man nicht so ganz und gar in den Hintergrund drängen durfte. Er hörte eine Weile zu, dann wehrte er entschieden ab: `Nein! Ich will nicht, dass nach meinem Tode jemand Vorwürfe machen kann, ich hätte nicht alles getan, was in meinen Kräften stand. Das soll mir keiner nachsagen! So was gibt`s nicht! Schluss mit dieser Gesundheitspflege! Es gibt interessantere Themen!`“

1929 promovierte Franz Schiller zum Doktor der philologischen Wissenschaften. Das darauff olgende Jahrzehnt war die Blütezeit seiner wissenschaftlichen und pädagogischen Tätigkeit. Ab 1925 trat Schiller aktiv in der Periodika auf. Er ist Autor von zahlreichen Büchern, Artikeln, Erzählungen in russischer und deutscher Sprache. Weltbekannt war sein literarisches Werk „Kampfblätter aus der Steppe“. Schillers Bibliographie „Literatur zur Geschichte und Volkskunde der deutschen Kolonien in der Sowjetunion für die Jahre 1764-1926“, die von Reinhold Keil 1990 in Deutschland neu herausgegeben worden ist, ist bis heute für Wissenschaftler, Institutionen des Bildungswesens, aber auch für Interessenten und Laien von außerordentlicher Bedeutung. Zu den bedeutendsten wissenschaftlichen Werken gehören auch folgende: „Marx und Engels über Kunst“, „Beiträge zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert“, „Geschichte der westeuropäischen Literatur der Neuzeit“ und viele andere.

Schillers Kandidatur wurde von der Abteilung „Sprache und Literatur“ bei der Akademie der Wissenschaften der UdSSR zur Aufnahme als korrespondierendes Akademiemitglied aufgestellt. Kurz darauf folgte aber die Verbannung nach Sibirien.

Wegen einer Lungenkrankheit wurde Schiller aus dem Arbeitslager entlassen, durfte aber nach Moskau nicht zurückziehen und musste sich daher bei der sibirischen Stadt Omsk niederlassen. Eine kurze Zeit lang arbeitete er in einer Schule. Das Verbot des Wiedersehens mit der Tochter seitens seiner Frau hatte eine Lähmung und einen Schlaganfall zur Folge. Zeitweilig verlor er die Sprache und konnte nicht arbeiten. Schließlich kam er in ein Invalidenheim.

„Aus dem Invalidenheim Tinskaja an den Bruder Jakob schrieb der kranke Professor 25 Briefe“, berichtete der Altaier Schriftsteller Woldemar Herdt in einem seiner Berichte. „Sie umfassen die Zeitspanne vom 11. Mai 1953 bis zum 3. Mai 1955. Das waren die qualvollsten Tage in Schillers Leben. Er war schon ein vom Tod gezeichneter Mann, aber welche Willensstärke, welchen Lebensmut äußerte er in seinen Briefen.“ Und weiter: „Es ist kaum zu glauben, aber Tatsache, dass Franz Petrowitsch in diesem jämmerlichen Zustand noch drei fundamentale Werke schuf: Die Abhandlungen über Lord Byron, Heinrich Heine und Friedrich Schiller.“ Dass der große deutsche Dichter Schiller einer seiner Vorfahren war konnte Franz Schiller damals noch nicht wissen. Diese Verwandtschaft konnte erst vor einigen Jahren der Germanist Viktor Schmunk nachweisen. Die Studien von Franz Schiller „Goethe und die Gegenwart“ und „Der Schaff ensweg Friedrich Schillers im Hinblick auf seine Ästhetik“ erschienen 1955-1962 in Moskau nach dem Tod und Rehabilitierung des Verfassers. Sie waren seinen langjährigen Freundinnen N. F. Deputatowa und N. I. Nepomnjaschtschaja gewidmet.

Schwer krank ans Bett gefesselt, nutzte Franz Schiller jedoch jeden Augenblick, um das letzte zu tun, was in seinen Kräften stand. Bis zum letzten Atemzug blieb er ein Kämpfer, ein echter Wissenschaftler. Franz Schiller starb am 22. Juni 1955 im Invalidenheim für Lungenkranke in Tinskaja, Region Krasnojarsk.

„Um den Sarg des großen Gelehrten und Atheisten stand nur ein Häuflein einfacher Menschen und ein Mütterlein mit der Bibel. Viktor Klein war gerade von dieser Szene gerührt und wünschte sich, dass auch ihn einfache Menschen aus unserer trauten Wolgaheimat zu seiner letzten Ruhestätte begleiten möchte“, schrieb damals Woldemar Herdt.

* Dieser Artikel erschien zuerst in der „Zeitung für Dich“