Was uns heilig ist - die Rolle von Religion heute


Glaubensfragen stehen immer wieder im Brennpunkt, wenn Gesellschaften ihre kulturellen Fundamente diskutieren. Beim jüngsten Moskauer Gespräch sprachen Experten darüber, was Religion für den modernen Menschen bedeutet.

Es können traurige oder freudige Anlässe sein, die uns an unseren Glauben erinnern. Auch wenn die Zahlen der Kirchenmitglieder in Deutschland und Europa abnehmen, sei der Wunsch nach Spiritualität in der Gesellschaft nach wie vor vorhanden, sagte Karlies Abmeier, Leiterin des Teams Religions-, Integrations- und Familienpolitik der Konrad-Adenauer-Stiftung, beim jüngsten Moskauer Gespräch.

Thema des Abends: Religion im 21. Jahrhundert: Sinnstifter, Wertekompass oder Störenfried? Religion könne grundlegende Werte vermitteln, so Abmeier. Die Würdigung des Einzelnen gehört dazu, daran anknüpfend Solidarität. Ein Wert, den alle Religionen gemeinsam haben, ist die Nächstenliebe. Nicht zuletzt ist aber auch Wissen zur Religion gefragt. „In Deutschland ist erstaunlicherweise Religion das einzige Fach, das im Grundgesetz verankert ist. Je vielfältiger wir werden, desto mehr braucht man Kenntnisse der Religion“, sagt Abmeier. Heute gebe es Bestrebungen, muslimischen Religions unterricht einzuführen, „damit auch Muslime selbst von bekennenden Muslime etwas über ihre Religion lernen können“.

An russischen Schulen stehen im Rahmen des Fachs „Grundlagen der religiösen Kulturen und der säkularen Ethik“ insgesamt sechs Unterrichtsmodule zur Auswahl, aber oft nur auf dem Papier. In der Praxis gebe es diese Wahlfreiheit vielerorts nicht, sagte Olga Litzen berger, Religions-Historikerin und ausgewiesene Expertin für die Geschichte des Luthertums in Russland. Religiöse Minderheiten hätten es in Russland nicht leicht. Religion sei historisch immer in geduldete und nicht geduldete Konfessionen eingeteilt worden. In der aktuellen Gesetzgebung werde zudem nicht klar definiert, was eine traditionelle Konfession sei, klagt die Historikerin. Im vorigen Jahr wurden hunderte religiöser Organisationen verboten, darunter die Zeugen Jehovas. Sie stehen nun auf der Liste extremistischer Vereinigungen. „So wurde ein Prinzip der russischen Verfassung, die Glaubensfreiheit, missachtet“, sagte Litzenberger und fragte: „Wer ist als Nächstes dran? Vielleicht Protestanten wie Baptisten oder Adventisten?“

Anton Tichomirow , Rektor des Theologischen Seminars der lutherischen Kirche in Nowosaratowka, ist auch Pfarrer einer kleinen Kirchengemeinde in St. Petersburg. Er sagte, Religion heute könne Ruhe sein, aber auch Mahnung. Das Bild von Christus am Kreuz stehe für Leid und Schmerz in der Welt, die uns umgibt. „Das kann man leicht vergessen, wenn man sich im Einkaufszentrum vergnügt.“ Kirchen wird es deshalb auch in 100 Jahren noch geben, waren sich die Experten einig. Nur werden sie kleiner sein.

Der Artikel erschien erstmals in der Moskauer Deutschen Zeitung 08/2018.

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