Zwischen Krylatowo und Shanghai


Ein Coming-of-Age-Roman über Sehnsüchte und abweichende Lebensentwürfe - ein Artikel der Moskauer Deutschen Zeitung.

Nach dem Sachbuch „Russland to go“ erschien nun Wlada Kolosowas Romandebüt „Fliegende Hunde“. Darin schildert die in Sankt Petersburg geborene Journalistin die Schwierigkeiten, sich als Jugendliche in der Tristesse russischer Vororte selbst zu finden.

Oxana und Lena, beide 16 Jahre alt, wachsen in einem fiktiven Vorort von Sankt Petersburg namens Krylatowo auf. Die Mädchen kennen sich seit ihrer Kindheit, leben Wand an Wand und teilen gemeinsame Sehnsüchte und Träume, neuerdings auch erste körperliche Berührungen, die über eine Freundschaft hinausgehen und die sie sich nicht einzugestehen trauen. Das Leben in Krylatowo ist so öde und trist wie der Name klingt: Kaputte Ehen, Alkoholismus und Gewaltbereitschaft stehen an der Tagesordnung. Eine Satellitensiedlung eben, „..nur drei Kilometer außerhalb der Stadtgrenze von Sankt Petersburg, aber Lichtjahre davon entfernt: sechstausend Einwohner, fünf Straßen, drei Geschäfte, eine Bushaltestelle“. Für Lena, die „Dünne“, wendet sich das Blatt, als sie von einer Modelagentur gecastet wird und für drei Monate nach Shanghai fliegt.

Eine echte Chance, Krylatowo und auch ihrer engen, verwirrenden Freundschaft zu Oxana den Rücken zu kehren und ein neues, spannenderes Leben zu beginnen. Die vermeintlich bessere Perspektive wird allerdings schnell von der harten Realität auf die Probe gestellt. Lena muss zusammen mit sieben anderen jungen Mädchen in einem winzigen Apartment in einem Vorort von Shanghai leben und sich strengen Regeln unterziehen: Sie darf nicht rauchen, nicht braun werden, auf keinen Fall zunehmen und muss auch für „Nachtschichten“ offen sein. Die endlosen, trostlosen Castings und Männer, die sie als Freiwild betrachten, treiben Lena in die Hände eines älteren Fotografen, Steve, der ihr kleinere Jobs verschafft und im Gegenzug ihren Körper bekommt.

Oxana, die voller Kummer allein zurückbleibt, landet in einer skurrilen Online-Community, die mit dem Spruch „Die härteste! schnellste! wirkungsvollste! Abnehmkur des Internets“ für eine besondere Diät wirbt. Die sogenannte Leningrad-Diät, bei der nur das gegessen werden darf, was es angeblich während der Belagerung von Leningrad im Zweiten Weltkrieg zu essen gab, hat viele Anhänger. Die Forum-Seiten strotzen von magersüchtigen Körpern und Rezepten wie Pappmaché-Buletten oder Tapetenkleistergelee mit Nelken. Um sich abzulenken, fängt Oxana die obskure Diät an und wird allmählich eine Expertin für Gerichte, die aus der damaligen Zeit stammen. Gekonnt wechselt die in Sankt Petersburg geborene und seit ihrem zwölften Lebensjahr in Deutschland lebende Journalistin Wlada Kolosowa in ihrem Romandebüt zwischen Lena und Oxana, zwischen Krylatowo und Shanghai, zwischen dem faden Kleinstadtleben und dem vermeintlichen Metropolenglanz und bleibt dabei immer nah an ihren Figuren. Relevante Themen, wie Erwachsenwerden und erste Liebe, aber auch Einsamkeit und eine durch das Internet verzerrte Realität verwebt sie dabei einfühlsam miteinander.

Die Mädchen könnten genauso gut aus Berlin-Marzahn oder Liverpool stammen. Mädchen, die es auf Shootings für billige Pyjamas oder in eine absurde Magerwahn-Community verschlägt, könnten auch Madeleine oder Kate heißen. Diese gewisse Ortlosigkeit kompensiert Kolosowa durch einen schonungslosen Realismus, mit dem sie die zerplatzenden Jugendträume und die weitreichenden Folgen der ersten Lebensentscheidungen ihrer Protagonistinnen erzählt. Ihr flüssiger Erzählstil mildert dabei die Schwere mancher Szenen, etwa die Likes und Herzchen der Magersüchtigen, mit denen sie sich zu immer krasseren Rekorden anstacheln.

Wenn Kolosowa die historischen Ereignisse während der Leningrader Blockade schildert, erscheint deren Missbrauch durch die Community umso krankhafter. Zugleich geizt die Autorin nicht mit knallharten Formulierungen, etwa wenn sie den Modelalltag nahe an die Grenze zur Prostitution rückt. „Mich geht alles etwas an: deine Regel, deine Verdauung, die Farbe deines Urins, dein Sexleben“, erklärt Lenas Agent. Mädchen, die keine Aufträge ans Land ziehen, drängt er seinen chinesischen Freunden auf. Als Lena am Ende für ein paar Tage nach Hause zurückkehrt, bleibt die Frage offen, ob die Freundschaft der beiden die Trennung verkraftet hat und wie es weitergeht. Ein mitfühlender Comingof-Age Roman, der die Höhen und Tiefen des Erwachsenwerdens mit einer großen Prise schwarzen Humors erzählt.

Der Artikel erschien erstmals in der Moskauer Deutschen Zeitung 10/2018.

Rubriken: Wissenswertes