Kampf geht weiter


Tatjana Lukaschewa (40) hat in Lipowka einen Gemischtwarenladen. Nebenbei ist sie zur vielleicht größten „Aktivistin“ von allen geworden. Wie das kam, erzählt sie hier - ein Beitrag der Moskauer Deutschen Zeitung.

Ich habe sogar an Putin geschrieben. Und an Ihre Zeitung, unter anderem. Ich habe beim Denkmalschutz angerufen und bei der Unesco in Moskau. Im Internet habe ich russlanddeutsche
Organisationen ausfindig gemacht und mich mit ihnen in Verbindung gesetzt. Ich schlage überall Alarm, wie eine Verrückte. Manchmal werde ich dafür belächelt. Oder gefragt: Sind Sie Deutsche? Lutheranerin? Nein, bin ich nicht. Ich lebe einfach von klein auf in Lipowka und lasse nicht zu, dass man unsere Kirche weiter ruiniert.

Es ist ja ohnehin schon nicht viel von ihr übrig geblieben. Das sollten wir bewahren, anstatt ihm den Rest zu geben. Unsere Kirchglocke läutet schon lange nicht mehr. Aber sie gilt als Talisman. Weggegeben werden darf sie auf keinen Fall. Aberglaube, denken Sie? Was sagen Sie dann dazu, dass alle, die in den 90er Jahren das Kirchdach abgetragen haben, innerhalb eines Jahres gestorben sind?

Damals war Jelzin hier bei uns im Dorf gewesen und hatte erklärt, dass es keine Wiederherstellung der wolgadeutschen Autonomie geben werde. Also hat man sich über die Kirche hergemacht. Allerdings wollte die Motorsäge, heißt es, auf dem Dach einfach nicht funktionieren. In unserem Nachbarort Ossinowka stand einst eine Holzkirche. Als man sie zu Sowjetzeiten abgerissen hat, haben die Einwohner eines Nachts die Glocke demontiert und vergraben. Wo, weiß heute keiner mehr. Aber in dem Dorf halten alle zusammen, da ist es wirklich so: Einer für alle, alle für einen.

Und sie hätten mal sehen sollen, was bei uns hier los war, als man sich an unserer Glocke vergreifen wollte. Das ganze Dorf war auf den Beinen, egal welcher Nationalität und welchen Glaubens die Leute auch sein mögen. Bei mir sind sie aufgeregt in den Laden gestürmt: Tanja, die holen unsere Glocke herunter. Einer, Veteran des Afghanistan-Krieges, hat sogar gedroht, die Autos anzuzünden, mit denen diese Brigade bei uns angerückt ist.

Irgendwelche Papiere, was das Ganze soll, hat man uns nicht vorweisen können. Wir haben die verschiedensten Erklärungen gehört: Die Glocke würde nur restauriert und wieder zurück an ihren Platz gebracht. Oder: Sie werde vor dem Dorfklub aufgestellt, aber was soll das denn? Der Chef der Brigade hat uns hinter vorgehaltener Hand gesagt: „Es ist richtig, dass ihr kämpft. Ich würde mir das auch nicht gefallen lassen. Aber wir sind Untergebene, wir müssen tun, was man von uns verlangt.“

Ich habe das Fernsehen informiert. Und als das TV-Team aus Saratow gekommen ist, war die Aktion schnell beendet: Die Verantwortlichen sind buchstäblich geflüchtet.

Einige Zeit später fand bei uns eine Ortsversammlung statt, mit Ljudmila Bokowa, die als Senatorin die Oblast Saratow in Moskau vertritt. Einwohner, Medien – so viele Leute habe ich hier noch nie auf einem Fleck gesehen. Unsere Babuschki haben dort das Wort ergriffen. Eine hat sogar ein Gedicht verfasst, das der Verteidigung der Kirche gewidmet ist. Inzwischen geht es nicht mehr nur um die Glocke. Wir wollen, dass die Kirche wieder aufgebaut wird. Irgendwie muss das doch möglich sein. Usner Kampf geht weiter. wir klopfen an alle türen und hoffen, dass uns jemand öffnet.

Aufgeschrieben von Tino Künzel.

Quelle: Moskauer Deutsche Zeitung Nr. 17(456).