Endstation Barmherzigkeit: Zu Besuch in einem psychiatrischen Pflegeheim in Sibirien

Das psychiatrische Pflegeheim in Marianowka bei Omsk ist nicht, was man gemeinhin als „Irrenanstalt“ bezeichnet: Bei seinen 336 Patienten besteht nämlich keine Hoffnung auf Heilung. Der russische Staat unterhält zahlreiche Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung und neurologischen Störungen, in denen sie kostenlos untergebracht und versorgt werden (Moskauer Deutsche Zeitung vom 20. September 2015). 

Das psychiatrische Pflegeheim in Marianowka bei Omsk ist nicht, was man gemeinhin als „Irrenanstalt“ bezeichnet: Bei seinen 336 Patienten besteht nämlich keine Hoffnung auf Heilung. Der russische Staat unterhält zahlreiche Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung und neurologischen Störungen, in denen sie kostenlos untergebracht und versorgt werden (Moskauer Deutsche Zeitung vom 20. September 2015).

Allein im Gebiet Omsk gibt es sechs solcher Einrichtungen, die zum russischen Sozialwesen und nicht zum Gesundheitssystem gehören. Die Einweisung kann beim Arbeits- und Sozialministerium beantragt werden, wenn das Leben in der Gesellschaft nicht mehr aus eigenen Kräften zu stemmen ist. Einen Weg zurück gibt es für die Menschen nur, wenn sich jemand ihrer annimmt – über Adoption etwa oder Heirat. In Marianowka geschieht es etwa fünf Mal im Jahr, das jemand so „abgeholt“ wird.

Das Heim ist wie eine Burg mitten in der sibirischen Steppe, umgeben von den Einfamilienhäusern des Dorfes. „Hier lebt die Barmherzigkeit“, steht am Eingang geschrieben, das Motto des Hauses. Es ist das Reich von Wladimir Schuchart, dem Direktor des Internats. Der 61-jährige Russlanddeutsche ist Manager und Vaterfigur zugleich, jemand, der für alles zuständig sein möchte. Pausenlos klingelt sein altes Nokia: Er ist Chef von 300 Mitarbeitern, auch die Patienten haben seine Nummer. Schuchart blüht auf, wenn er Anweisungen erteilt, Probleme löst und im Trainingsanzug durch die Flure seines Hauses streift. Dann herzt er die Bewohner und wirft den Krankenschwestern Scherze zu.

Im Büro schlüpft er in Hemd und Krawatte für das Foto. Wenn er von seinem Heim erzählt, dann nicht wie ein König von seinem Reich, sondern wie eine Hausfrau von ihrem Alltag: Von den Vorräten der Küche für den Winter, von Blumen für den neuen Garten, von den Bastelsachen, die seine „Kinder“ anfertigen und bei Veranstaltungen den Menschen „draußen“ zeigen. Und wie er das Material dafür bei Fabriken erbettelt. Nur vorsichtig streift er das Thema Geld: Die Mitarbeiter könnten besser bezahlt werden, sagt er. 200 bis 500 Euro verdienen sie, je nach Qualifikation.

Von Bojan Krstulovic
Moskauer Deutsche Zeitung

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