Die Außenstelle des russischen Zaren

Die hessische Stadt Darmstadt ist bekannt für sein Jugendstilviertel. Dort steht eine von Nikolaus II. in Auftrag gegebene russische Kapelle – der russische Zar wollte bei Besuchen bei der Familie seiner Frau, der Darmstädter Prinzessin Alix, nicht auf Gottesdienste verzichten.

Wer heute die Künstlerkolonie auf der Darmstädter Mathildenhöhe besichtigt, wird zwischen all den Jugendstilbauten kaum mehr das erste Gebäude ausmachen können. Erst auf den zweiten Blick fällt es etwas aus dem durchkomponierten Ensemble: die russische Kapelle Maria Magdalena mit ihren vergoldeten Zwiebelkuppeln und reich ornamentierten Wandkacheln.

Die Geschichte der Kapelle reicht weit zurück. Das Fürstentum Hessen-Darmstadt hatte zwischen 1773 und 1894 vier Darmstädter Prinzessinnen in die russische Zarenfamilie nach Petersburg verheiratet. Prinzessin Alix von Hessen und bei Rhein war die letzte in dieser Reihe – sie wurde als Alexandra Fjodorowna, Ehefrau des Zars Nikolaus II., zur letzten russischen Kaiserin. Ihretwegen steht auch die Kapelle in Darmstadt.

Im Jahr 1884, mit nur 12 und 16 Jahren, waren sich Prinzessin Alix und Nikolaus II. zum ersten Mal in Petersburg begegnet. Bedenken aus dem Hessischen Fürstenhaus zum Trotz heirateten sie 1894. Um bei Familienbesuchen nicht auf ein Gotteshaus verzichten zu müssen, gab Zar Nikolaus II. die Kapelle in Auftrag. Der Großherzog von Hessen-Darmstadt, Ernst-Ludwig, hatte ihm eine Baugenehmigung für den noch unbebauten Stadthügel, die Mathildenhöhe, gegeben.

Von 1897 bis 1899 wurde die Kapelle dann vom Petersburger Architekten Léon N. Benois (Leontij Nikolajewitsch Benois) im Stil der russischen Kirchen des 16. Jahrhunderts erbaut. Als Baugrund hatte man russische Erde aus allen Gouvernements anliefern lassen. Die Kirche wurde der Heiligen Maria Magdalena geweiht.

Der Bau der Kirche mit den auffälligen Zwiebelkuppeln und vergoldeten Dachfirsten war aufwendig. Der Marmor im Sockelbereich wurde aus Russland importiert, die Fassadenkacheln sind extra für die Kirche angefertigt worden. Auf ihnen prangen stilisierte Zarenadler. Die Ikonen der Ikonostase stammen vom Kirchenmaler Karl Timoleon Neff, der auch die Christi Erlöser Kathedrale in Moskau ausgemalt hatte. Das besondere an den Darmstädter Ikonen: Sie entsprechen nicht der russischen Ikonographie nach byzantinischem Vorbild, sondern sind Zeugnis einer Verwestlichung der Kirchenmalerei, wie sie für russische Kirchen in Westeuropa dieser Zeit typisch ist. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wurden die kleinteiligen Mosaikarbeiten im Innenraum, ausgeführt vom russischen Maler Wiktor Michailowitsch Wasnezow, beendet.

In dieser Zeit hatte Großfürst Ernst-Ludwig bereits die so genannte Künstlerkolonie bei bekannten Jugendstilkünstlern wie Joseph Maria Olbricht, Peter Behrens und Hans Christiansen in Auftrag gegeben. Heraus kam etwas Außergewöhnliches: ein weit verteiltes Ensemble neuer Bauformen, dutzende Künstlervillen, ein Park und der Hochzeitsturm, der heute Darmstadts Wahrzeichen ist. In dessen Sichtachse steht die Kapelle. Ernst-Ludwig hatte die Künstler angewiesen, den Kirchenbau zu integrieren – was sie mit einer Brunnenanlage, in der sich die Kapelle spiegelt, taten.

1918 dann, nach dem Ersten Weltkrieg und im Zuge der russischen Oktoberrevolution, wurde die russische Zarenfamile in Jekaterinburg hingerichtet. Die Kapelle ging in den Besitz der Russisch-Orthodoxen Diözese über. Im Ersten Weltkrieg waren die Edelmetalle und die Glocken als „Feindvermögen“ beschlagnahmt worden. Die so am Gebäude entstandenen Schäden waren so groß, dass sie bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges nicht behoben werden konnten. Erst in den 70er Jahren begannen umfassende und teure Reparaturarbeiten. Die Kirche wurde mehrfach neu geweiht. Von 2005 bis 2008 war die Kapelle dann noch einmal für 1,1 Millionen Euro restauriert worden.

Die Kapelle Maria Magdalena ist für Russen in Deutschland bis heute eine Gedenk- und Pilgerstätte: Es finden reguläre Gottes-dienste an Sonn- und Feiertagen statt und seit 1981 wird jährlich eine bischöfliche Liturgie mit Bitt-gottesdienst für die kaiserlichen „Märtyrer Zar Nikolaus, Märtyrer Zarin Alexandra, Märtyrer Zarewitsch Alexej und die Märtyrer-Zarentöchter Olga, Tatjana, Maria und Anastasija“ durchgeführt.

Heute sind die Mitglieder der Kirchengemeinde überwiegend Aussiedler aus der ehemaligen Sowjetunion und zugezogene Russen und Ukrainer. Da sie zuvor eine Familienkirche war, bekam die Kapelle ihre erste Gemeinde erst 1946. Damals betreute Erz-priester Tichon Kiritschuk 3000 Serben und 200 orthodoxen Polen aus einem nahegelegenen Flüchtlingslager. Zur Gemeinde gehörten in den Nachkriegsjahren bis zu 400 Christen verschiedener Nationalitäten.

Seit 1994 steht Priester Ioann Grintschuk der Gemeinde vor. Durch Zuzug und angeheiratete Gläubige wächst sie kontinuierlich.

Die Kapelle ist so über die Jahre zum Zentrum der Orthodoxen im gesamten Rhein-Main-Gebiet geworden. Mittlerweile werden um die 50 Kinder im Jahr in der Kapelle getauft, so viele wie noch nie.

Dieses Artikel erschien zuerst in der Moskauer Deutschen Zeitung

Rubriken: Wissenswertes