Geschichte des Russlanddeutschen Nikoaj Friesen


Zum Tag des Sieges in Russland, dem 9. Mai, erzählt ein Russlanddeutscher von der Zeit seines Vaters in der Trudarmee.

Lange Zeit sammelte Wladimir Friesen, Bewohner des Dorfes Ischalka, Informationen über seinen Vater. Vieles konnte er dank seiner zahlreichen Erinnerungen festhalten, manches mithilfe von Dokumenten und Fotos. Das systematisch gesammelte Material brachte Wladimir Friesen in die Redaktion der Zeitung „Krasnogwardejez“. Wir entschieden uns dazu, bedeutsame Fakten dieser umfassenden Sammlung zu veröffentlichen. An dem Beispiel eines einzelnen Menschen lässt sich das Schicksal aller Russlanddeutschen während des zweiten Weltkrieges vorstellen…

„Mein Vater, Nikolaj Jakovlevitsch Friesen, wurde 1919 in einer Großfamilie geboren. Sie lebten damals in Baschkir, und später, 1937 während um sich greifenden Hungersnot, zogen sie nach Ischalka.

Die damalige Generation hatte es nicht leicht. Welch ein Auf und Ab ihrer Schicksale mussten die Bürger des Landes ertragen! Und doch glaubten sie an Wahrheit und Liebe, und nahmen das Leben so an, wie es war. Ich denke, dass wir viel von ihnen lernen können. Leider leben viele aus dieser alten Generation heute nicht mehr. Auch mein Vater ist gestorben. Doch die Lehren aus deren Leben sind für uns Beispiele für Tapferkeit.

Mein Vater konnte sich ein einen Vorfall in seinen jungen Jahren erinnern. Vor dem Krieg gab es eine erfreuliche Nachricht für alle: Die Jugend von Ischalka sollte nach Busuluk gefahren und fotografiert werden! Der Vorsitzende der Kolchose Franz Nickel hat bei der Rayonverwaltung um einen Güterwagen gebeten. Der „Anderthalbtonner“ fuhr zum Club, an ihm wurde eine Seitenwand befestigt und eine Bank hingestellt. Doch auf dem Weg in die Stadt kehrte das Fahrzeug vor Gratschjowka um. Zum Glück ist keiner der Jungs und Mädels zu Schaden gekommen und ist noch einmal davon gekommen. Das Erinnerungsfoto bleibt.

Schreckliche Botschaft

Papa erzählte, dass der Himmel an dem Tag, an dem der Krieg verkündet wurde, klar war. Die Bürger von Ischalka feierten ein Volksfest, das Maifeier genannt wurde. In langen Holzrollwagen und guter Laune fuhren sie zur Feier. Konzert, Wettrennnen… das Fest war ein voller Erfolg.

Als alle nach Hause kehrten, wurde die sommerliche Abenddämmerung durch das Getöse der „Kukurusnik“ gestört. Von den Flugzeugen fielen Flugblätter herunter. Der erste, der sich das Blatt durchgelesen hatte, schrie sofort: „Der Krieg hat angefangen!“ Allen verging das lachen.

Nikolaj Friesen war damals 22 Jahre alt.

Strapazen

1942 wurden Vater und andere nach einem Erlass von Stalin in die Arbeitsarmee eingezogen. In dem einzigen „Anderthalbtonner“ des Dorfes, mit dem die jungen Leute noch vor kurzem zum Fotografieren gefahren waren, wurden sie zur Station Sorotschinsk gefahren. Dort wurde Vieh in den Wagon für die Weiterfahrt gebracht, es ging in die Stadt „Gremjatschinsk“ im Gebiet Molotow (heute Region Perm). Als sie dort ankamen, konnten schon viele der Trudarmisten nicht mehr gehen. Doch man musste noch 15 Kilometer zu Fuß zum Lager laufen.

In der Zone nahmen die unendlichen Strapazen ihren Lauf, der harte Kampf ums Überleben. Die Baracken waren graue Steingebäude mit zweistöckigen Pritschen. In ein Gebäude passten bis zu 200 Menschen. Die Pritschen waren nicht bezogen. Besonders hart war das im Winter. Sie schliefen auf zugefrorenen Brettern. Die Steinwände der Baracken waren vereist, sogar der Eisenofen in der Mitte der Zimmer konnte die Schlafenden nicht vor der Kälte retten. Deswegen war deren Kleidung am Morgen oft mit der Wand vereist.

Bewacht wurden die Trudarmisten von Kasernenwächtern. Das ganze Territorium der Zone war mit einem Maschendrahtzaun umgeben. Vater erzählte, dass sie vom frühen Morgen bis spät abends arbeiteten, 16 Stunden am Tag. Die Männer bekamen einmal am Tag flüssigen Haferschleim, von dem man kein Hungergefühl bekam. Es gab am Tag 300 Gramm Brot. Ausgehungerte aßen Baumrinde und gefrorene Kartoffeln, die sie auf Feldern sammelten.

Überleben um jeden Preis

Alle zwei Tage wurden die Männer von einem Arzt untersucht, der ihnen eine Arbeitserlaubnis erteilte. Die Gesunden arbeiteten im Bergwerk, die Kranken arbeiteten etwas Leichteres. Vater erinnerte sich oft an Genrich Mantler, der im Lager der Zone arbeitete. Er teilte das Essen an die Trudarmisten aus. Manchmal gab es gesalzenen Fisch, der auch mal schlecht wurde. Die Leiter aßen diesen Fisch nicht mehr und Genrich verteilte diesen an geschwächte Arbeiter. Für sie war das eine kleine Möglichkeit zu überleben.

Vater wurde damit beauftragt, Eisenbahnschienen zu verlegen. Das war eine Strafarbeit. Viele Trudarmisten starben bei dieser Arbeit und das Aufsichtspersonal sagte, dass unter jeder Eisenbahnschwelle ein Deutscher liegen werde. Der Hass auf diese Nation war groß, auch den unschuldigen Bewohnern ihres Landes gegenüber.

Nikolaj lernte im Lager das Verputzen und nach seiner Schicht bei den Eisenbahnschienen wurde er dazu gezwungen, in den Häusern der Leiter zu arbeiten. Als er spät abends in die Baracke kam, nähte er die Walenki und Stiefel der Gefängnisleiter und des Personals. Dafür bekam er Stücke von schwarzem Brot und deren Essensreste. Hungrig und müde wie er war, hat er nie die Reste alleine gegessen, sondern nahm sie immer mit in die Baracke. Er war willensstark, was ihm beim Überleben dieser schwierigen Momente sehr weiterhalf.

Wie ein Traum

Die Erde war mit menschlichen Überresten der deutschen Trudarmisten übersät. Im Winter 1943 wurden jeden Morgen mehrere Leihen aus den Baracken getragen. Besonders im Frühling starben viele, da neben dem Hunger auch Infektionskrankheiten umgingen. Die Bestattungsleute kamen kaum hinterher, die Toten wegzuschaffen. Sie wurden in Container gelegt und die Familie wurde über deren Tod informiert. Wenn keiner die Leiche abholte, wurde sie im Waldfriedhof begraben.

Schreckliche Bilder des Lebens in der Trudarmee bewegen die Trudarmisten noch bis heute. Sie wühlen immer noch ihre Träume auf.

Gute Nachricht

Im Mai 1945 kam es endlich zum langersehnten Sieg. Da hatte Vater die Hoffnung, dass er irgendwann wieder seine Verwandten wiedersehen würde. Doch alle früheren Trudarmisten bekamen nach Ende des Krieges den Status von speziellen Siedlern und sollten in Gremjatschinsk (heute Perm) leben, ohne das Recht auf die Ausreise in andere Gebiete des Landes. Wie bekamen nach wie vor 300 Gramm Brot am Tag. Sie sollten in einem schlammigen Gebiet am Stadtrand leben, das nur von Wald umgeben war.

Zu dieser Zeit aus einer anderen Trudarmee das Mädchen Elisaweta in die Stadt, die Vater sofort gefiel. In Perm lebte Vater für 14 Jahre, gründete dort eine Familie, seine Kinder wurden hier geboren. Und nach 1956 und dem Erlass der Rehabilitation der Russlanddeutschen konnten sie nach Hause zurückkehren.

Vater arbeitete bis zu seiner Rente in seiner Pferdefarm in Ischalka. Mehr als 70 Jahre schwieg er zu den tragischen Tagen, die er in der Trudarmee Gremjatschinsk verbrachte. 2013 starb er.

Es gibt immer weniger Zeitzeugen. Ich möchte, dass die Erinnerungen unserer Verwandten für immer fortwährend und alle von ihrer Tapferkeit erfahren.

Lesen Sie die Geschichte hier auf Russisch.

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