Inklusion live: Natascha in Flensburg


In der Moskauer Deutschen Zeitung berichtet Natascha Pisarenko, Studentin für Operngesang und Klavier in Moskau, über ihre Zeit in Flensburg, Deutschland.

Im Oktober stellten wir die blinde junge Frau Natascha Pisarenko vor, die für eine aktive Teilnahme von Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft plädiert – und die händeringend nach Kontakt zu Deutschen sucht. Eines hat der Artikel schon bewirkt: Der Internationale Verband der deutschen Kultur (IVDK) hat Natascha auf eine Gruppenreise nach Flensburg eingeladen. Hier beschreibt sie ihre Eindrücke.

Anfang Dezember reiste eine russische Gruppe nach Flensburg, um an einem praktischen Seminar zur Sozialarbeit teilzunehmen. Ziel war es, den Gästen die Erfahrung der Stadt mit der Einbeziehung von Menschen mit Behinderung in das gesellschaftliche Leben – kurz: Inklusion – zu vermitteln. Angereist waren Ärzte, Erzieher und Leiter von gemeinnützigen Stiftungen aus Moskau, Rostow am Don sowie den sibirischen Metropolen Omsk und Tomsk. Auch ich durfte Teil der Delegation sein, und zwar als ehrenamtliche Übersetzerin.

Natürlich verband mich nicht nur die deutsche Sprache mit dem Projekt. Weil ich früh in meinem Leben das Augenlicht verloren habe, steht mir das Thema der Inklusion im Bildungswesen nahe. Schon als Kind lernte ich in der Musikschule auf dem Akkordeon, dem Klavier und der Geige zu spielen. In einem Hobbyzentrum tanzte ich, sang im Chor und war auch sonst gut eingebunden. Das alles fand aber nicht an „inklusiven“ Einrichtungen statt, sodass die Lehrer mir immer mit Verwunderung gegenüberstanden. Doch dank der Hilfe meiner Eltern lernten wir schnell, uns zu verstehen.

Diese frühe Erfahrung der Inklusion half mir später, auf ganz gewöhnliche Schulen zu gehen, auf denen es oft noch nie Kinder mit Behinderung gegeben hatte und erst recht keine blinden.

Die Frage der Inklusion in der Bildung bleibt an der Tagesordnung. Es wird heftig gestritten, ob sie mehr Vor- oder Nachteile mit sich bringt – in Deutschland und in Russland. Ersteres bewegt sich aber schneller in Richtung Inklusion. Die Reise nach Flensburg bestätigte mir diesen Eindruck. Ich selbst bin natürlich eine Verfechterin der Inklusion. Kinder sollten von früh an Kontakt zu Gleichaltrigen mit den verschiedensten Besonderheiten haben und gemeinsam mit ihnen lernen. Das hilft später zu mehr Verständnis – sei es gegenüber Menschen mit Behinderung oder ohne. Daran mangelt es unseren heutigen Gesellschaften leider häufig.

Von der Reise nach Flensburg bleiben mir einige unvergessliche Eindrücke. So besuchten wir die Mürwiker Werkstätten, die Menschen unabhängig von der Schwere ihrer Behinderung Arbeit bieten: Sie beschäftigen etwa auch Menschen mit Querschnittslähmung, Down-Syndrom oder schweren psychischen Störungen. Wir haben diese Leute gesehen und uns mit ihnen unterhalten. Es verblüffte mich, mit welchem Enthusiasmus sie ihre Aufgaben erfüllten. Der Geschäftsführer der Mürwiker, Günter Fenner, sagte mir, dass die Selbstbestimmung das wichtigste Prinzip der Werkstätten sei. „Wir sprechen ständig mit den Leuten und versuchen zu verstehen, ob sie Interesse an der jeweiligen Arbeit haben. Wenn das Interesse nachlässt, bieten wir einen Wechsel an“, erklärte Fenner.

Doch die Arbeit ist nicht die einzige Mission der Mürwiker. Die Menschen sollen hier lernen, miteinander und füreinander zu leben. Besonders interessant war für mich die Praxis der sogenannten „gemischten Gruppen“: Hier verrichten Menschen mit verschiedenen Behinderungen im Team eine Arbeit, die sie einzeln nicht bewältigen könnten.

Außerdem durften wir einen Inklusions-Kindergarten kennenlernen. Heiko Frost, Geschäftsführer des Flensburger Trägers Adelby 1, erklärte uns, dass es dort nicht um frühe Vorbereitung der Kinder auf ihre Schullaufbahn gehe, sondern um ihre allseitige Entwicklung. Die Tagesstätte, die wir besuchten, war bestens für behinderte Kinder eingerichtet. Hat das Personal aber wirklich keine Hemmungen im Umgang mit diesen Kindern? „Wir unterscheiden nicht: Dieses Kind ist blind, jenes gehörlos, deutsch oder russisch. Unsere Erzieher wollen eine freundschaftliche Atmosphäre schaffen“, sagte Heiko Frost.

Sehr überrascht hat uns der Besuch bei der Stadtpräsidentin von Flensburg, Swetlana Krätzschmar: Ihre Muttersprache ist Russisch! Sie empfing uns herzlich und erzählte uns von der Geschichte der Stadt und von ihren gegenwärtigen Problemen. Mich wunderte, dass sie ihr Amt ehrenamtlich ausübt.

Die Reise nach Flensburg war reich an Eindrücken. Ich wünschte mir, dass derartige Projekte zwischen unseren Ländern so oft wie nur möglich stattfänden. Denn so können wir voneinander lernen.

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