Augusts Stamm

Laut kleinsten Berechnungen besteht die Familie Schreyder aus 270 Mitgliedern. Sie leben alle in verschiedenen Städten und Ländern – und sind zum ersten Mal zu einem großen Familientreffen zusammengekommen. Das Treffen mehrerer Generationen fand im kleinen sibirischen Dorf Roschdestvenka statt – dem Ursprungsort der Familie.

Das Dorf Roschdestvenka befindet sich 160 km von Omsk und 500 km von Novosibirsk entfernt. Der Zeitunterschied zu Moskau beträgt vier Stunden. Im Dorf leben etwa 300 Menschen. Es gibt eine orthodoxe Kirche, einen Friedhof, ein Denkmal für den Zweiten Weltkrieg, eine Grundschule und ein Club mit einen Bibliothek. Landwirtschaft ist der größte Arbeitgeber.

Sklaven des Schicksals

Die Familie Schreyder ist nicht freiwillig nach Sibirien gekommen. In den Familienarchiven und Erinnerungen der Großmütter geht hervor, dass der erste Schreyder in Russland Filipp Christianowitsch war. Er kam aus Bayern in die wolgadeutsche Kolonie Bangert und war Landwirt. Sein Sohn war ebenso Landwirt und lebte in wohlhabenden Verhältnissen. Die Schreyders hatten ein Gästehaus und eine Dienerschaft. Filipp Filippowitsch hatte fünf Söhne – einer von ihnen, August, ist der Vorfahre der Schreyders in Roschdestvenka.

1941 wurde August Filippowitsch mit seinen Brüdern nach Sibirien deportiert. Dort war er zum zweiten Mal verheiratet und hatte sieben Kinder: Maria, Ivan, Christina, Erna, Andrej, Filipp und Viktor. Ihre Kinder reden so übereinander: „Vovka von Djadja Vanja, Vitja von Djadja Filipp, Andrej von Tante Marusja“, so kann man leichter über seine Verwandtschaft sprechen.

August Schreyder und zwei seiner älteren Geschwister wurden in die Trudarmee eingezogen. August wurde in einen Holzeinschlagort nach Ivdel in das Gebiet Sverdlovsk gebracht. Ivan wurde in einen Schacht nach Prokopevsk, Marija in eine Kriegsfabrik nach Novosibirsk gebracht.

„Großvater war sehr gesund und groß – fast zwei Meter. Doch die schwere Arbeit brachte ihn um. Er fiel nach seiner Schicht tot um“, erzählt sein Enkel Andrej Traise. Die jüngeren Kinder waren zu jung für die Trudarmee und arbeiteten im Kolchos in Lagunak. Später wurde dieser mit anderen zusammengelegt. Das Zentrum des landwirtschaftlichen Lebens war in Roschdestvenka. Die Schreyders arbeiteten nach ihrem Schulabschluss alle im Kolchos.

Trotz aller Schwierigkeiten hat die Familie des geschafft, ihre deutsche Sprache und Traditionen zu erhalten.

Nach den Rezepten der Uromas

„Mit uns lebte Oma Christina (die Frau von August). Sie sprach deutsch und wir antworteten ihr auf Russisch. Manchmal ging sie aus dem Haus und sprach mit anderen Großmüttern. Sie konnte ihnen nichts auf Russisch sagen, wollte aber etwas quatschen. Und sie rief uns, damit wir für sie übersetzten“, erzählte Valentina Schreyder. Heute sprechen die zwei jüngeren Generationen kein Deutsch mehr, sie feiern aber immer noch katholisch Ostern und Weihnachten, kochen Schnittsuppe und Krebli nach alten Rezepten.

Kuchen, Strudel und süße Suppen bereiten wir noch immer zu!“, sagt die Enkelin von August, Elvira Brik. „Mit der Sprache ist es anders: Ich verstehe deutsch, spreche es aber nicht. Das ist mir natürlich peinlich, aber ich kann nichts machen. Von unseren Eltern haben wir die Bibel. Früher wurde sie immer weitergegeben, bei mir steht sie als Erinnerung an früher.“

Stammbuch der Familie

Das Treffen der Generationen in Roschdestvenka wurde organisiert, damit sich alle Generationen kennenlernen können. Einer der Initiatoren für das Treffen war der Aktivist in Politik und Gesellschaft und Mitglied der Duma Viktor Schreyder: „Unsere Kinder sollen ihre Wurzeln kennen, und die Geschichte ihrer Familie“, erklärte er die Gründe des Treffens.

Das Familientreffen fand in der Schule des Dorfes statt, fast 200 Menschen nahmen daran teil. Manche der Familienmitglieder haben sich seit Jahrzehnten nicht gesehen, manche kannten sich gar nicht. „Wenn ich meinen Bekannten erzählte, dass meine Familie aus ca. 300 Menschen besteht, glaubt mir das keiner. Heutzutage so eine große Familie zu haben ist etwas sehr besonderes. Ich bin stolz, dass ich so eine große Familie habe“, sagt Roman Stengauer. Der junge Mann aus Novosibirsk hat es geschafft, bester Florist Russlands zu werden.

Jeder Verwandte wurde vorgestellt. Wenn man nämlich 38 Cousinen und Cousins hat, ist es schwer, sich jeden zu merken.

Das Familienarchiv leitet Irina Schreyder und möchte ein Familienbuch herausbringen, indem die Familiengeschichte niedergeschrieben ist. „Ich möchte, dass es nicht nur eine Liste von allen Generationen ist, sondern ein Buch über uns alle, mit Erinnerungen, Erzählungen und Familientraditionen- und Werten. Unsere Enkel können das lesen und darauf stolz sein, aus welcher fleißigen, starken und freundschaftlichen Familie sie stammen“, sagt Irina.

Auf dem Familienfest wurde beschlossen, dass das Buch zum nächsten Treffen fertig sein soll. Dies wird wohl 2020 stattfinden und ein neues Kapitel in der Familiengeschichte Schreyder öffnen.