Olga Martens: „Es ist notwendig, die Kultur der Russlanddeutschen zu bewahren. Dabei muss bei sich selbst angefangen werden“

Kurz vor dem Jubiläum der Organisation erzählte Olga Martens, die erste stellvertretende Vorsitzende des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur, in einem Interview mit dem Portal RusDeutsch über die Ergebnisse, die der IVDK in den 30 Jahren ihres Bestehens erreicht hat und welche Zukunftsaussichten der Verband erwartet.

RD: Der Internationale Verband der deutschen Kultur feiert dieses Jahr sein 30-jähriges Jubiläum. Was konnte bis zu diesem Tag erreicht werden?

O. M.: In Zahlen gesprochen, sind es Tausende von Menschen und Projekten, Hunderte Begegnungszentren der Russlanddeutschen, Publikationen und Forschungsarbeiten sowie Dutzende von ethnografischen Expeditionen, Festivals und Konferenzen.

Qualitativ gesehen handelt es sich um ein einheitliches und verzweigtes System der öffentlichen Selbstorganisation, die bis in die entlegensten Kirchendörfer reicht, in denen unsere Russlanddeutschen leben.

Dank der Initiative und der Tätigkeiten des IVDKs gibt es auf föderaler Ebene aktive Fachräte und Klubs: Wir haben eine Geschäftsgemeinschaft, den Rat für soziale Arbeit, den Rat für Spracharbeit, die Künstlervereinigung der Russlanddeutschen und sogar die Fußballmannschaft „RusDeutsch“, welche die Deutschen in Russland sowohl bei inländischen als auch bei internationalen europäischen Wettbewerben vertritt.

Mitte der 1990er-Jahre konnten wir Wissenschaftler vereinen, welche die Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen erforschen und damit weiße Flecken auf der Karte unserer Geschichte beseitigen.

Trotz großer geografischer Entfernungen und dem Fehlen territorialer kompakter Siedlungen waren wir moralisch und geistig in der Lage, ein Gefühl der Einheit zu schaffen. Wir organisierten die Veröffentlichung von Gedenkbüchern, um die Namen der Gefallenen und Vermissten in der Arbeitsarmee und den Sondersiedlungen wiederherzustellen. Unsere wichtigste Quelle der Kraft war die historische Erinnerung und die Schicksalsgemeinschaft der Zeitzeugen und unsere Pflicht ihnen gegenüber.

RD: Wie sehen Sie die Tätigkeiten des Verbandes in naher und ferner Zukunft?

O. M.: Durchgehend waren wir in Kontakt mit der lebendigen Geschichte der Russlanddeutschen: mit Mundartsprechern sowie mit Zeitzeugen des Lebens in der Republik der Wolgadeutschen und der darauffolgenden Deportationen im Jahre 1941. Vieles war mit den tragischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts verbunden. In naher Zukunft werden wir nicht mehr die Möglichkeit haben, mit Trägern dieser authentischen Kultur der Russlanddeutschen arbeiten zu können, die unser Volk seit 250 Jahren bewahrt hat. Die Generationen, die sich mit dem Thema „Russlanddeutsche“ auseinandersetzen, ändern sich und es kommen immer mehr neue Menschen hinzu.

Das Verhältnis der ethnischen Konsolidierungsanzeichen verändert sich, die Erinnerungskultur wird umgestaltet und das Virtuelle wird aktiv in unseren Alltag eingeführt. All dies wird zweifellos auch die Tätigkeit des Verbandes beeinflussen.

Wir müssen technischer und dynamischer sein und wir müssen gleichzeitig den Wert der persönlichen Kommunikation bewahren. Hinzu kommt eine allgemeine Professionalisierung der Tätigkeit von öffentlichen Verbänden. Der IVDK initiierte die Gründung von Kultur- und Geschäftszentren in großen Regionen der Russischen Föderation, die von der Föderalen Agentur für Nationalitätenangelegenheiten (FADN) und den regionalen Regierungen unterstützt wurde. Diese Zentren werden Arbeitsgemeinschaften und Partnerschaften mit Organisationen in Deutschland entwickeln. Wir sehen eine Reaktion auf unsere Arbeit und auf die deutsche Kultur.

RD: Während der Tätigkeiten des IVDKs hat der Verband zahlreiche interessante Projekte organisiert. Was ist Ihrer Meinung nach notwendig, damit ein Projekt erfolgreich wird?

O. M.: Es gibt unterschiedliche Projekte und dementsprechend basieren sie auf unterschiedlichen Erfolgskriterien. Ich werde sie hier nicht auflisten, denn dafür gibt es Handbücher zum Projektmanagement. Für mich sind die drei Schlüssel zum Projekterfolg das Team, das Team und nochmals das Team!

RD: Wie hat sich die Situation mit dem Coronavirus auf die Arbeit des Verbandes ausgewirkt?

O. M.: Die Arbeit der gesamten Organisation wurde neu umgestaltet. Unter Berücksichtigung der weiten Verteilung der Wohnorte war es notwendig, die Arbeit so zu organisieren, dass man sich trotzdem noch sieht, dass virtuelle Kontakte geknüpft werden und dass, soweit möglich, Bedingungen geschaffen werden, damit sich Menschen in einem neuen Format treffen können. Dabei werde ich nicht auf die zusätzlichen organisatorischen Schwierigkeiten eingehen, die mit Vorschriften, Dokumentation, dem Wechsel zum Online-Format mittels einer für viele neuen Software und dem Erhalt von Arbeitsplätzen verbunden sind, was in dieser Zeit sehr wichtig ist.

Die Pandemie erzwang eine Überarbeitung der Programme und lenkte den Großteil der Projektmittel auf die Unterstützung von Menschen, insbesondere der älteren Generation. Durch die Absage vieler Offline-Projekte konnten diese Mittel in soziale Programme und die Medikamentenhilfe umgeleitet werden.

Auf der positiven Seite muss gesagt werden, dass der IVDK im Allgemeinen auf eine solche Entwicklung vorbereitet war, denn seit Ende der 90er-Jahre hatte er seinen informierenden Bereich entwickelt: Es gab viele Programme zur Vermittlung von Computerkenntnissen, auch für die ältere Generation, traditionelle Projekte wurden sehr aktiv digitalisiert, und es kam der Moment, in dem all dies dringend gebraucht wurde: eine elektronische Bibliothek, ein Online-Museum der Russlanddeutschen und eine elektronische Enzyklopädie. Neue Ideen im Bildungsbereich tauchten auf und der Konsum von Videoinhalten stieg.

RD: Das Forum-Festival „Wir sind Teil deiner Geschichte, Russland. Wir sind dein Volk!“, das vom 25. bis 29. Juni stattfindet, war eine der Veranstaltungen des Deutschlandjahres. Was bringt das Ihrer Meinung nach für das Projekt?

O. M.: Es geht um eine breitere und offenere Erfassung von Ereignissen und eine größere Erkennbarkeit. Darüber hinaus sind wir ein integraler Bestandteil nicht nur der großen russischen Kultur, sondern auch der großen deutschen Kultur, sodass wir sozusagen mit den Veranstaltungen des Deutschlandjahres verschmelzen.

RD: Was ist Ihrer Meinung nach am wichtigsten für den Erhalt der Kultur der Russlanddeutschen?

O. M.: Der Wunsch, sie erhalten zu wollen. Dabei sollte bei sich selbst und der eigenen Familie begonnen werden.

RD: Was inspiriert Sie bei Ihrer Arbeit und in Ihrem Leben?

O. M.: Ich bin mit einer protestantischen Arbeitsethik erzogen worden. Deswegen sind die Arbeit und das Leben das, was mich inspiriert.

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