„Literatur der Russlanddeutschen und Erinnerung“


Die Ende 2018 erschienene Publikation „Literatur der Russlanddeutschen und Erinnerung“ (Okapi Verlag, Band I) basiert auf Forschungsbeiträgen und Werkanalysen im Rahmen des wissenschaftlichen Kolloquiums „Literatur und Gedächtnis. Zur Inszenierung von Erinnerung in der Literatur der Russlanddeutschen vor und nach 1989“ (Leitung: Prof. Dr. Carsten Gansel, Professor für Neuere deutsche Literatur und Germanistische Literatur- und Mediendidaktik) am Germanistischen Institut der JustusLiebig-Universität Gießen im September 2014.

Der vorliegende Band (Herausgeber: Carsten Gansel) stellt die Literatur der „Sowjetdeutschen“ (so die Bezeichnung bis zur Aufl ösung der Sowjetunion 1991) bzw. der Russlanddeutschen in den Mittelpunkt – in der literatur- und kulturwissenschaftlichen Forschung nach wie vor ein viel zu wenig beachteter Bereich. Bis in die 1980er Jahre fand das Schicksal der Russlanddeutschen kaum Eingang in die literarischen Texte ihrer Autoren. Die Aufsätze machen deutlich, mit welchen Schwierigkeiten die Literaten in der Sowjetunion vor 1989 zu kämpfen hatten, wenn sie eigene Erfahrungen oder die der Volksgruppe literarisch darstellen wollten.

Im Teil I erfolgt die historische Annäherung an das Thema „Literatur der Russlanddeutschen und Erinnerung“.

In seiner Einleitung „Das Vergangene erinnern – Russlanddeutsche Literatur vor und nach 1989“ durchleuchtet Gansel die politisch motivierten radikalen Brüche in der russlanddeutschen Literatur.

Nina Paulsen (Nürnberg) stellt die „Erinnerung als Traumabewältigung in der Literatur der Russlanddeutschen“ dar und gewährt Einblicke in die Entwicklung der Literatur der Russlanddeutschen der letzten 100 Jahre mit den Einschnitten, die der I. und II. Weltkrieg für das Literaturschaffen bedeuteten. Auch wenn sich die „sowjetdeutsche“ Literatur „von politisch-sozialem Auftrag dominiert“ sah (Annelore Engel-Braunschmidt), spielte die Möglichkeit, DEUTSCH zu schreiben und veröffentlicht zu werden, für zahlreiche russlanddeutsche Autoren der Nachkriegszeit eine entscheidende Rolle.

Prof. Dr. Elena Seifert (Moskau) widmet sich in ihrem Beitrag dem „Ethnischen Weltbild in der Literatur der Russlanddeutschen“ der Nachkriegszeit bis Anfang des 21. Jahrhunderts, wobei sie insbesondere die Bedeutung der Leiderfahrungen von 1941 für die Selbstwahrnehmung der Russlanddeutschen unter die Lupe nimmt.

Teil II bietet Analysen ausgewählter Texte russlanddeutscher Autoren.

So geht Carsten Gansel dem Beitrag einer deutschen Exilautorin in der Sowjetunion der Zwischenkriegszeit auf den Grund. Im Mittelpunkt seiner Betrachtung „Erzählen ohne Erfahrung, oder Vom Versuch, die ´wirkliche Wirklichkeit´ zu überlisten“ steht die unveröffentlichte Erzählung „Der Vater. Skizze aus einem wolgadeutschen Dorf“ der Schriftstellerin und Journalistin Berta Lask aus dem Jahr 1936. Abschließend kann man die Geschichte nachlesen.

In seinem Beitrag „Denn ich schreie ja ohne Stimme, weil ich irgendwie ganz stimmlos bin“ analysiert Julian Wessel (Gießen) die Erzählung „Unser Hof “ von Hugo Wormsbecher und geht dabei auch auf die Rolle der Parteizensur ein.

Um Zugeständnisse an die herrschende Ideologie geht es auch im Beitrag von José Fernández-Pérez (Gießen), der die Thematik „Sowjetdeutsche im Krieg und an der Arbeitsfront“ in verschiedenen Erzählungen der „sowjetdeutschen“ Literatur verfolgt. Grundlage dafür sind Hugo Wormsbechers Erzählung „Deinen Namen gibt der Sieg dir wieder“ (entstanden 1975, veröff entlicht 1986) und Konstantin Ehrlichs „Nachklänge oder Anfang einer Biografie“ (1982).

Prof. Dr. Monika Wolting (Wroclaw) verdeutlicht das Thema „Krieg, Frauen und die Utopie der Gemeinschaft“ anhand der Erzählung „Stütze der Welt“ (1980) von Elsa Ulmer. „Im Gefühlshaushalt der Erinnerung“ heißt der Beitrag von Dr. Sylke Kirschnick (Gießen, Berlin), der den Schwerpunkt auf die Emotionalität des Erinnerns anhand von Viktor Schnittkes Erzählung „Eine Kindheit in Engels“ (1986) legt. Politische Problematiken und die Auswirkung der herrschenden Ideologie auf die künstlerische Umsetzung stehen im Mittelpunkt der Untersuchung von Mike Porath, der anhand von drei Beispielen aus der „sowjetdeutschen“ Erzählliteratur bis 1989 der literarischen Verarbeitung der Oktoberrevolution auf dem Dorf nachgeht.

Dem Thema „Kollektives Gedächtnis und Sprache“ widmet sich Teil III.

Prof. Dr. Tatjana Yudina (Moskau) nimmt Identitätstheorien unter die Lupe und verdeutlicht, wie diese sich im Schriftbild ausdrücken können. Alexander Schuklin (Tjumen) befasst sich mit der Darstellung von Sibirien im Literaturschaffen russlanddeutscher Lyriker und Erzähler im Zeitraum zwischen 1960 und Gegenwart. Anna Ritter untersucht in ihrem Beitrag „Vom Deutschen zum Russischen und zurück“ den Sprachgebrauch am Beispiel von acht zugewanderten russlanddeutschen Familien, die seit fast 20 Jahren in Deutschland leben.

„Die kollektive Identitätskonstruktion der Wolgadeutschen in Argentinien und ihr kollektives Gedächtnis“ steht im Mittelpunkt der Analyse von Dr. Anna Ladilova (Gießen).

Mit Einblicken in die „Autorenwerkstatt“ wartet Teil IV auf.

Eckhard Scheld (Dillenburg) gibt eine vielseitige Einführung in das Werk der Autorin Nelly Däs, die 1945 als fünfzehnjähriges Mädchen aus dem Schwarzmeergebiet nach Deutschland kam und seither eine Reihe erfolgreicher Autobiografien und Romane veröffentlicht hat. Die abschließend veröffentlichte Geschichte „Die Begegnung mit dem gekreuzigten Jesus“ stammt aus dem Archiv von Nelly Däs.

Im Gespräch mit Hugo Wormsbecher unter dem Motto „Wir haben die Wolgarepublik nicht zurückbekommen, weil wir zu gut gearbeitet haben!“ gibt Carsten Gansel Einblick in die Spezifik der sowjetdeutschen Literatur bis 1989 und beantwortet Fragen nach der Geschichte der gescheiterten Wiederherstellung der Wolgadeutschen Republik.

In ihrer Gesamtheit dokumentieren die Inhalte der Publikation ein Kapitel der deutsch-russischen Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, das laut Aussage der russlanddeutschen Schriftstellerin Eleonora Hummel (geb. 1970 in Kasachstan, seit 1982 in Dresden) „selbst in groben Zügen den wenigsten bekannt ist“.

Dieser Artikel erschien zuerst in der „Zeitung für Dich“.

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