Vom 7. bis 10. November fand im Deutsch-Russischen Haus in Moskau das 9. kulturhistorische Seminar für junge Forschende zur Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen statt, das auch online als Videokonferenz angeboten wurde. Das diesjährige Thema lautete: „Russlanddeutsche in in- und ausländischen Modernisierungsprojekten: Familie, Ethnie und Wohnraum“.
Dieses kulturhistorische Seminar stellt eine besondere wissenschaftliche Veranstaltung dar. Es vereint sowohl erfahrene und anerkannte Wissenschaftler als auch junge Forschende und Praktiker an einem Ort, wodurch eine gleichberechtigte Diskussion und Kommunikation gefördert wird. Darüber hinaus umfasst das reichhaltige Programm des Seminars einen kulturellen Teil, der es den Teilnehmenden aus verschiedenen Regionen ermöglicht, sich auf vielfältige Weise mit der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen vertraut zu machen. Nicht zuletzt bietet das kulturhistorische Seminar eine Gelegenheit zum Kennenlernen, zur Vernetzung und oft auch zur gemeinsamen Weiterarbeit für die Aktivisten der russlanddeutschen Gemeinschaft sowie für die Forschenden, die aus wissenschaftlichem Interesse zu ihren Themen gekommen sind.
„Heute, während ich unsere Veranstaltung beobachtete, wurde ich von Erinnerungen an mich selbst überwältigt. Es ist kaum zu fassen, wie viele Jahre vergangen sind, seit ich in den frühen 2000er-Jahre zu solchen Projekten kam – damals war ich noch nicht einmal Kandidat der Wissenschaften. Ich war jung, wie viele hier im Raum, und dachte darüber nach, wie bedeutend es für mich war, auf einer Konferenz zu sprechen, die sich mit dem Thema befasste, das mir am Herzen lag“, teilte Oleg Alexandrow, Doktor der philologischen Wissenschaften und Professor der Staatlichen Universität Tomsk, seine Eindrücke bei der Zusammenfassung des Projekts mit. „Es ist eine ganz andere Erfahrung, an der Universität Vorträge zu halten, wo die Themen oft vielfältig sind. Hier jedoch haben wir die Möglichkeit, uns unter Gleichgesinnten auszutauschen und zu diskutieren. Für mich war das von großer Bedeutung – ein entscheidender Schritt: kritisiert zu werden, zu üben und miteinander zu kommunizieren. Rückblickend bin ich wirklich froh darüber, dass diese Veranstaltung fortgeführt wird. Es ist ermutigend zu sehen, dass neue Kolleginnen und Kollegen sowie junge Leute kommen – für sie spielt diese Veranstaltung eine ebenso wichtige Rolle wie einst für mich“.
In diesem Jahr wurde die Arbeit in neun Abschnitten durchgeführt, in denen die Teilnehmenden ihre Vorträge sowohl im Deutsch-Russischen Haus in Moskau als auch online präsentierten:
Geschichte: Russlanddeutsche in den Realitäten des ethnokulturellen Transits und der institutionellen Transformationen des 18. bis 21. Jahrhunderts (zum 100. Jahrestag der Gründung der Autonomen Ssozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen);
Medien: Entwicklung der Kommunikationslandschaft der Russlanddeutschen: von den ersten Zeitungen bis zur Nutzung digitaler Medien;
Ethnographie: Wahrnehmung von Familientraditionen in ethnokulturellen Praktiken und im Alltagsleben der Russlanddeutschen;
Museumskunde: Traditionelle und moderne Formen der Darstellung des kulturellen und histroischen Erbes der Russlanddeutschen: Entwicklung der Museumsformate;
Bildung: Bildungstechnologien in der Konstruktion der ethnisch-religiösen und bürgerlichen Identität der Russlanddeutschen: Traditionen, Projekte und Modernität;
Religion: Religiöse Vielfalt der Russlanddeutschen: Traditionen und Unterschiede in den Epochen;
Sprache: Dialekte und moderne Sprachpraktiken in der Sprachkultur der Russlanddeutschen;
Jugendarbeit: Jugend der Russlanddeutschen: ethnokulturelle Besonderheiten und Unterschiede in der Entwicklung in der modernen Gesellschaft;
Kultur: Werte und Erbe der Russlanddeutschen: Bewahrung der Identität in einer multikulturellen Gesellschaft.
Im Rahmen des Projekts fand eine Podiumsdiskussion mit dem Titel „Russlanddeutsche in Forschungsprojekten und im Bildungsbereich: Ergebnisse und Perspektiven“ statt. Diese Veranstaltung fiel zeitlich mit dem 30-jährigen Bestehen der Internationalen Assoziation zur Erforschung der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen zusammen. Igor Plewe, Doktor der historischen Wissenschaften und Rektor der Staatlichen Technischen Universität in Saratow (2008-2018), leitete einen Workshop zum Thema „Historische Aspekte des Verständnisses der Identität der Russlanddeutschen“. Die Fragen, die während dieses Workshops aufgeworfen wurden, regten sowohl die Vertreter der Internationalen Assoziation zur Erforschung der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen als auch die jungen Teilnehmenden zu intensiven Diskussionen an und begleiteten sie während des gesamten Projekts.
Jelisaweta Rezlaf, Musiklehrerin aus dem Gebiet Omsk und Muttersprachlerin des plattdeutschen Dialekts sowie des literarischen Deutsch, nimmt bereits nicht zum ersten Mal am sprachlichen Teil des kulturhistorischen Seminars teil. Im vergangenen Jahr stellte das Projekt für sie nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine familiäre Entdeckung dar: In Moskau traf Jelisaweta ihre Verwandte Nina Lebedewa, eine Aktivistin des Moskauer Seniorenklubs. Ihr Wiedersehen wurde durch ein gemeinsames Lied, das beide Frauen kannten, zu einem besonderen Erlebnis. Mehr über diese bemerkenswerte Geschichte können Sie hier nachlesen. In Bezug auf ihre Erfahrungen in diesem Jahr äußert Jelisaweta:
Die Teilnahme an dem Seminar bedeutet für mich, für eine Weile aus meiner gewohnten Routine auszubrechen und in einen völlig anderen kulturellen Raum einzutauchen. Hier treffe ich viele Gleichgesinnte – Menschen, die sich für die deutsche Kultur, die Deutschen, die deutsche Sprache und all die damit verbundenen Aspekte interessieren. Besonders erfreulich ist es für mich, dass sich hier zahlreiche junge Menschen versammeln, darunter auch solche, die keine Deutschen sind, aber dennoch großes Interesse an diesen Themen zeigen und sich intensiv damit auseinandersetzen. Es ist mir eine große Ehre, Teil dieser Gemeinschaft zu sein.
Nina war erneut eine Zuhörerin des Projekts im Deutsch-Russischen Haus. Sie äußerte sich optimistisch und versprach, auch im kommenden Jahr an dem Seminar teilzunehmen. Tatsächlich formiert sich um das Projekt eine lebendige Gemeinschaft von Zuhörenden, die aktiv am Geschehen teilnimmt. Das hybride Format ermöglicht es den Teilnehmenden, Vorträge zu spannenden Themen zu verfolgen und direkt Fragen zu stellen oder Kommentare abzugeben – nicht nur für die Bürger Moskaus, sondern für alle Interessierten: Man muss sich dafür nur anmelden. Diese Interaktivität bereichert zweifellos die Diskussionen nach den Vorträgen.
Pawel Blume, ein Dichter und Aktivist der sozialen Bewegung der Russlanddeutschen, reiste nach Moskau, um sein Projekt – den Literaturwettbewerb „Goethes Erben“ – vorzustellen. In seinem Vortrag erläuterte er, wie Literaturwettbewerbe dazu beitragen können, das kulturelle Erbe zu fördern und ethnische Identitäten zu bewahren. Nach seinem Vortrag traf Pawel auf Menschen am Rande des Projekts, die an Kooperation und Zusammenarbeit interessiert sind. Er ist überzeugt, dass dies einer der großen Vorteile von föderalen Projekten wie dem kulturhistorischen Seminar ist:
Wenn wir uns mit historischen Themen beschäftigen, habe ich im Rahmen des Projekts viel Neues gelernt – Dinge, die mir zuvor nicht bewusst waren. Darüber hinaus bietet das Seminar die Möglichkeit, Bekanntschaften zu schließen. Mit einigen Teilnehmenden haben wir bereits kreative Projekte ins Auge gefasst und Ideen entwickelt, die wir in naher Zukunft umsetzen möchten. Seit 13 Jahren bin ich Mitglied der russlanddeutschen Gemeinschaft und habe in dieser Zeit zahlreiche Arbeitsbeziehungen zu Fachleuten aufgebaut – darunter auch Illustratoren. Inzwischen habe ich sieben Gedichtbände veröffentlicht, von denen fünf von russlanddeutschen Künstlern illustriert wurden.
Askar Ahmetow, Dozent an der nach N. I. Wawilow benannten Staatlichen Universität für Genetik, Biotechnologie und Ingenieurwesen in Saratow, nahm zum ersten Mal an dem Seminar teil. Er berichtete von seinem Interesse an dem Forschungsthema „Reflexion des Bildes der Sowjetdeutschen im regionalen Medienraum des Gebiets Saratow an der Wende von den 1980er- zu den 1990er-Jahren: der imagologische Aspekt“. Dieses Thema hatte ihn bereits während seiner Masterarbeit beschäftigt, in der er sich mit dem umfassenden Thema der Perestroika auseinandersetzte. Von seinen Kollegen erfuhr Askar von dem kulturhistorischen Seminar, das für die Teilnehmenden und Zuhörenden von großem Interesse sein sollte. Er entschloss sich, einen Vortrag zu halten:
Ich hatte schon lange positive Rückmeldungen über das kulturhistorische Seminar gehört. Es war für mich eine Entdeckung, dass Menschen zusammenkommen und sich mit den Themen eines bestimmten Ethnos und dessen Herausforderungen beschäftigen. Mein wissenschaftlicher Leiter, Wladimir Hasin, riet mir, es einfach auszuprobieren. Obwohl das Thema meiner Doktorarbeit ein anderes ist, beschäftigt mich die Forschungsfrage rund um das Bild der Sowjetdeutschen schon seit geraumer Zeit. Ich wollte dieses Thema für die Öffentlichkeit aufbereiten, insbesondere für jene, die sich mit den Problemen der Deutschen in Russland befassen. Überraschend war für mich die durchweg positive Reaktion auf meinen Vortrag. Angesichts der begrenzten Zeit hatte ich versucht, die Informationen prägnant und schnell zu vermitteln, um das bedeutendste Material herauszustellen.
Anna Blinowa, Kandidatin der historischen Wissenschaften und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Labors des Instituts für Archäologie und Ethnographie der Sibirischen Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften in Omsk, ist zudem wissenschaftliche Redakteurin des Virtuellen Museums der Russlanddeutschen und leitet die Museumsabteilung des Seminars. Sie betonte die Bedeutung, junge Forschende zu gewinnen und zu unterstützen:
Das Format des kulturhistorischen Seminars ist von großer Relevanz. Auf der einen Seite haben wir Fachleute, auf der anderen Seite stehen junge Forschende, denen wir in unseren Diskussionen Ratschläge geben können. Es geht darum, sie anzuleiten und auf Lücken in der Forschung hinzuweisen. Die Förderung neuer Forschenden ist in allen Bereichen von entscheidender Bedeutung – sei es in der Ethnographie, im Museumswesen, in der Geschichte oder in der Kultur. Überall wird Nachwuchs benötigt, und das Seminar bietet eine hervorragende Gelegenheit, junge Wissenschaftler zu entdecken, zu begleiten und zu ermutigen.
„Das kulturhistorische Seminar spielt eine wichtige Rolle sowohl bei der Vermittlung von Erfahrungen als auch beim Resümieren. In den Impulsvorträgen, die ich üblicherweise verfasse, reflektieren wir über das, was wir in diesem Jahr für das Virtuelle Museum und die Entwicklung des Museumswesens insgesamt erreicht haben. Wir verfolgen auch die Entstehung neuer Museen. Für diejenigen, die in ihren eigenen kleinen Museen arbeiten, ist die Teilnahme an diesem Projekt von großer Bedeutung: Sie spüren den Gewinn, wenn sie ein breites Publikum erreichen – Menschen, die sie nicht kennen und die ihnen als Fachleute gegenüberstehen. Diese Vernetzung ist eine wesentliche Funktion des Projekts, sowohl aus methodischer Sicht als auch hinsichtlich des Austauschs von Erfahrungen“.
„Ich bin müde, aber nicht wegen der Arbeit, sondern aufgrund der lebhaften und emotionalen Kommunikation. Das ist genau das, was ich von unserem Seminar erwartet habe und was es meiner Meinung nach sein sollte“, resümierte Wladimir Hasin, der Moderator des kulturhistorischen Seminars, am letzten Abend des Projekts.
Im Rahmen des Kulturprogramms erlebten die Teilnehmenden eine Aufführung mit dem Titel „Unglaubliche Abenteuer der Deutschen in Russland“ im Genre des Storytellings sowie den Essay „Der Weg“, der in einer theatralischen Darbietung präsentiert wurde. Diese Beiträge waren Teil eines Kunstlabors der Kreativdirektion des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur (Künstlervereinigung der Russlanddeutschen). Zudem nahmen die Teilnehmenden an einem intellektuellen und kognitiven Spiel namens „Was? Wo? Wann?“ teil, das sich den Themen der Russlanddeutschen widmete. Die lebhaften Diskussionen während des Spiels endeten schließlich mit einem gerechten Unentschieden. Darüber hinaus wurden Workshops zu den Themen „Basteln“ und „Küche der Russlanddeutschen“ angeboten. Am letzten Tag hatten alle die Möglichkeit, an einem geführten Spaziergang durch die deutschen Orte Moskaus teilzunehmen, geleitet von Natalja Leonowa, einer Autorin von Reiseführern und Dokumentarfilmen.
„Was mich glücklich macht, ist Ihre zahlreiche Anwesenheit“, sagte Irina Tscherkasjanowa, Doktorin der historischen Wissenschaften und Forschungsleiterin an der nach A. S. Puschkin benannten Staatlichen Universität Leningrad, während der Abschlussdiskussion. „Ich werde meinen Kollegen berichten und ihnen erzählen, wie interessant alles war. Ihre rege Beteiligung – sei es durch Fragen oder durch seltene, durchdachte Vorträge – sowie Ihre aktive Lebenseinstellung sind äußerst erfreulich“.
Bei der Zusammenfassung bedankten sich die Teilnehmenden herzlich bei den Moderatoren des kulturhistorischen Seminars: Wladimir Hasin, Alexej Buller und Alexei Wlasow sowie bei den Organisatoren des Projekts. Es mangelte nicht an konstruktiver Kritik und neuen Vorschlägen zur Weiterentwicklung des Formats. Die Anregungen der Teilnehmenden werden in die Entschließung des kulturhistorischen Seminars 2024 einfließen, die auf der offiziellen Website des Projekts veröffentlicht wird.
In diesem Jahr wurde das Format „Dumme Fragen an einen klugen Menschen“ in den sozialen Netzwerken von RusDeutsch eingeführt. Hierbei hatten Seminarteilnehmende, Forschende und Fachleute aus verschiedenen Bereichen die Möglichkeit, sowohl naive als auch knifflige Fragen zu beantworten. Die dazugehörigen Videos können Sie auf Telegram und VKontakte ansehen. Dort finden Sie zudem umfassende Zusammenfassungen zu jedem Tag des Projekts. Erfahren Sie hier mehr über den Verlauf der Eröffnung des kulturhistorischen Seminars.
Übersetzt aus dem Russischen von Evelyn Ruge