Heimat für die Trauer


70 Jahre nach ihrer Deportation aus angestammten Siedlungsgebieten an der Wolga und anderswo sind die Russlanddeutschen heute über ganz Russland verstreut. Jetzt hat zumindest ihre Trauer um Opfer der Verfolgung in Sowjetzeiten eine Heimat. In Engels, der ehemaligen Hauptstadt der ehemaligen „Wolgarepublik“, wurde ein Denkmal enthüllt – den Toten zum Gedenken, den Lebenden zur Mahnung.

70 Jahre nach ihrer Deportation aus angestammten Siedlungsgebieten an der Wolga und anderswo sind die Russlanddeutschen heute über ganz Russland verstreut. Jetzt hat zumindest ihre Trauer um Opfer der Verfolgung in Sowjetzeiten eine Heimat. In Engels, der ehemaligen Hauptstadt der ehemaligen „Wolgarepublik“, wurde ein Denkmal enthüllt – den Toten zum Gedenken, den Lebenden zur Mahnung.

Sie haben sich fern gehalten voneinander und sie hätten auch keine gemeinsame Sprache gefunden, obwohl es ihnen um ein und dieselbe Sache ging. Während die Kinder deutscher Vertreibungsopfer der Kriegs- und Nachkriegszeit mit roten Nelken in den Händen vor dem Stadtarchiv von Engels auf die Einweihung eines Denkmals warteten, das dieses Unrecht thematisiert, bezogen die Enkel der Vertreiber vor der nahen Lenin-Statue Stellung. Enkel im Geiste, die nicht verstehen wollen, was den Deutschen angetan wurde. Von Deportation, so war auf ihren Transparenten zu lesen, könne keine Rede sein, man habe die Bevölkerung 1941 lediglich „umgesiedelt“ – und zwar zu ihrem Besten. So sei sie nämlich der nahenden Front entronnen und von Vergeltungsaktionen der Wehrmacht verschont geblieben, die in ihr einen Gesinnungsgenossen der Sowjetmacht gesehen habe.

Für Pawel Selesnjow, Initiator der Kundgebung und kommunistischer Abgeordneter im Kreistag, ist deshalb auch das Denkmal ein Stein des Anstoßes. Daraus hatte er seit Wochen und Monaten kein Hehl gemacht. Aber inzwischen sind die einst allmächtigen Kommunisten in der Minderheit. Ihren Auftritt am Rande der Einweihungsveranstaltung nahm kaum jemand zur Kenntnis, bis auf eine Polizeieinheit, die das Treiben zunächst beobachtete und die Handvoll Demonstranten später nebst ihren Plakaten aus der Stadtmitte umsiedelte.

Da war das Denkmal bereits enthüllt. Finanziert wurde die Arbeit aus Spenden, gesammelt in Russland und in Deutschland. Gewidmet ist sie den rund 800 000 Russlanddeutschen, die 1941 nach Kriegsbeginn ihre Heimat verloren, an der Wolga, auf der Krim und in anderen Landesteilen. Nach Sibirien und Zentralasien vertrieben, wurden Erwachsene zwischen 15 und 55 Jahren ab dem Winter 1942 zur Zwangsarbeit verpflichtet, meist in der Waldwirtschaft oder in Kohleschächten, fast überall unter primitivsten Bedingungen. Mehr als ein Drittel der damaligen deutschen Bevölkerung ging daran zugrunde.

Aber auch den Überlebenden setzt das Denkmal nun ein Denkmal. Auf seinem Sockel findet sich ein Auszug aus Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“. Der Schriftsteller schildert in seinem berühmtesten Werk unter anderem, wie er in den 50er Jahren in Kasachstan den verschiedensten Volksgruppen in der Verbannung begegnete. Die Deutschen beeindruckten ihn – neben den Tschetschenen – am meisten, weil sie sofort daran gingen, sich um menschliche Wohnverhältnisse zu kümmern, anstatt ihr Los zu beklagen. Auf dem Denkmal in Engels steht geschrieben, wie viel Hochachtung das Solschenizyn abnötigte: „Es gibt auf der Welt wohl keine Wüste, die die Deutschen nicht in eine blühende Landschaft verwandeln könnten.“


Tino Künzel
(Moskauer Deutsche Zeitung, September 2011)

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