Auf dem kulturhistorischen Seminar wurde die Erinnerungskultur diskutiert


Vom 13. bis 14. Oktober fand zum ersten Mal im Online-Format das jährliche kulturhistorische Seminar statt.

Wie können die Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen popularisiert, und wie können ihr moderne Formen und neue Impulse gegeben werden? Wie können sich Russlanddeutsche im medialen Raum positionieren und was bedeutet das Konzept der „historischen Erinnerungskultur“? Die Speaker und Teilnehmer des Webinars – erfolgreiche Wissenschaftler, Forscher aus Russland und Deutschland, Vertreter von Universitäts- und Museumsgemeinschaften versuchten, Antworten auf diese und andere Fragen zu finden.

Die Teilnehmer und Gäste des Online-Seminars wurden von Bernd Fabritius, Beauftragter der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, und Margarete Ziegler-Raschdorf, Hessens Landesbeauftragte für Heimatvertriebene und Spätaussiedler, begrüßt.

„In den geplanten Arbeitsgruppen geht es im weitesten Sinne um eine Verzahnung der Vergangenheit mit der Zukunft durch eine zeitgemäße und zukunftsorientierte Vermittlung des Kulturerbes. Diesen Ansatz begrüße ich sehr.“

Das kulturelle Erbe der Russlanddeutschen sollte in einer auch für jüngere Menschen interessanten Weise präsentiert werden, sei es im Museum oder in modernen Formaten.

Das Seminar wurde in sechs Hauptbereiche geteilt: das kulturelle Erbe der Russlanddeutschen in der modernen Literatur und Kultur; Museen, Bibliotheken und Ausstellungen der Russlanddeutschen; das immaterielle kulturelle Erbe der Russlanddeutschen in seinen modernen Formaten und neuen Kommunikationsmitteln; das Thema der Russlanddeutschen im Theater, in der klassischen Musik und im Kino; Perspektiven der Entwicklung der Medien der Russlanddeutschen und die Tätigkeiten der Selbstorganisation im Zusammenhang mit der Bewahrung der Kultur und der historischen Erinnerung des Volkes.

„Aufgrund meiner Arbeit besuchte ich mehrfach die Vereinigten Staaten und traf mich mit den Volga Germans“, erzählte Arkadij German, Vorsitzender der internationalen Assoziation zur Erforschung der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen. „So nennen sich die Amerikaner, die Nachkommen von Wolgadeutschen sind. Ihre Vorfahren wanderten nach der Aufhebung des Kolonistenstandes in den 1870er-Jahren von den Ufern der Wolga ab und kamen bis vor Beginn des Ersten Weltkrieges nach Amerika. Heute sprechen sie bis auf wenige Ausnahmen kein Deutsch mehr. Das hindert sie aber nicht daran, sich als Deutsche zu betrachten. Sie haben aus ihren eigenen Spenden ländliche Organisationen aufgebaut. Es ist schwer, den Verein namens ‚Deutsche aus Russland‘ zu finden. Und trotzdem gibt es den Begriff ‚Russian Germans‘. So werden sie von anderen Amerikanern genannt und auch sie selbst nennen sich untereinander so.

Diese Menschen unterstützen die Volkstraditionen und bewahren sorgfältig Familienstücke, Briefe, Tagebücher, Erinnerungen, die von den ersten Siedlern aus Russland niedergeschrieben wurden und sogar kulinarische Rezepte. Wird ihnen gesagt, dass sie keine Deutschen sind, weil sie ihre Muttersprache nicht beherrschen, bringt man sich in eine sehr peinliche Lage.

So verloren diese Menschen ihre Sprache, behielten aber ihre regionale ethnische Kultur durch ihre historische Erinnerung bei“.

Der Historiker stellt fest, dass der gegenwärtige Stand der ethnischen Zugehörigkeit der Russlanddeutschen dem amerikanischen leider immer ähnlicher wird.

„Die Zahl der Deutschen in Russland als auch die Orte der dichten Besiedlung nehmen rapide ab. Der Großteil der russlanddeutschen Familien lebt sehr verstreut in verschiedenen Städten.“

Laut German gab es bei der Vorbereitung der Monografie, die den Russlanddeutschen gewidmet ist, eine Auseinandersetzung darüber, welche Sprache der ethnischen Deutschen als ihre Muttersprache angesehen wird.

„Viele denken, dass Russisch heute die Muttersprache der Russlanddeutschen ist. Es ist schwierig, etwas dagegen zu sagen, da die Argumentation sehr überzeugend ist. Die in Russland lebenden Deutschen sind in erster Linie russische Staatsbürger. Die Muttersprache für sie ist also die Staatssprache: Russisch.

Wie kann die deutsche Sprache als Muttersprache bezeichnet werden, wenn die überwiegende Mehrheit derjenigen, die sich als Russlanddeutsche bezeichnen, sie nicht mehr oder nicht gut beherrscht? Und was soll noch über die Dialekte gesagt werden!

Sie sind praktisch verschwunden und zu toten Sprachen geworden. Nur wissenschaftliche Spezialisten und ältere Menschen beherrschen sie.“

Deshalb ist es nach Ansicht des Wissenschaftlers die wichtigste Aufgabe, die historische Erinnerung der Russlanddeutschen zu bewahren und zu vertiefen. Nur wenn man eine objektive historische Erinnerung hat, kann über die Bildung anderer Qualitäten ethnischer Identität gesprochen werden.

Wie günstig ist die Situation für Russlanddeutsche im Informationsraum und wie sind die Aussichten für die Entwicklung ethnischer Massenmedien? Zu diesem Thema äußert sich Tatjana Ilarionowa, Doktorin der Philosophie und Professorin der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Staatsdienst.

Laut Ilarionowa können wir auf der Grundlage von Daten des Bundesamtes für Presse und Massenmedien einen eindeutigen Schluss über den Sieg der virtuellen Medien gegenüber traditionellen Medien ziehen. Heute „lebt“ praktisch die gesamte erwachsene Bevölkerung im Internet und nutzt diese Informationsquelle als eine der Hauptquellen.

„Die Pandemie hat die Situation der Medien erheblich verschlechtert, und es bestehen Bedenken hinsichtlich der Nachhaltigkeit des Medienmarktes. Besonders besorgniserregend sieht das Schicksal der Zeitungen und Zeitschriften aus.

Viele Printmedien gehen online. In der Situation mit den Russlanddeutschen sehen wir bereits die Konsequenzen. Viele Zeitungsverlage haben geschlossen. Viele der Publikationen folgen nicht den Trends, die sich in anderen Teilen der Medienentwicklung herausgebildet haben.

Und obendrein erleben die Massenmedien der Russlanddeutschen eine große Konkurrenz durch die der Deutschen.“

Nach Angaben der Professorin gibt es heute im russischen Teil nur 43 elektronische Publikationen zu deutschen Themen. Unter den regionalen Zeitungen erfüllt „Ihre Zeitung“ die modernen Anforderungen weitgehend und veröffentlicht nicht nur die Print-, sondern auch die Online-Version.

Ilarionowa achtet besonders darauf, dass deutsch-russische Häuser sowie Begegnungszentren praktisch keine eigenen Websites haben, die als Massenmedien anerkannt werden, obwohl viele dieser Organisationen in sozialen Netzwerken aktiv sind.

Die Berichterstatterin wies auch darauf hin, dass die Website von RusDeutsch die europäische Ebene erreicht hat und multifunktional geworden ist. Heute deckt das Portal alle wichtigen Informationen ab. Auf der anderen Seite wird laut Ilarionowa der Informationsraum auf diese Weise monopolisiert. „RusDeutsch erwirbt weitere Informationsressourcen, indem es nicht nur über regionale und föderale Themen, sondern auch über Fragen der Zusammenarbeit mit Deutschland berichtet. Eine Vielzahl an Bereichen wird entwickelt. Aber in dieser mächtigen Präsenz im Internet gibt es eine Bedrohung für nicht so bedeutende Medien.“

Nach Ansicht der Professorin sieht das völlige Fehlen von Fernsehen und Radio für Russlanddeutsche wie ein „schwarzes Loch“ aus.

„Das Radio ‚Russisches Berlin‘ gibt es in Deutschland seit 30 Jahren und in diesem Sinne müssen auch wir etwas tun. Die moderne Form der Interaktion mit dem Content-Konsumenten ist die Entwicklung verschiedener Anwendungen für das Smartphone. Medienaktivität ist keine Aktivität an sich. Sie ist eine Tatsache der Aktivität und ein Beweis dafür, dass es Neuigkeiten gibt. Das Fehlen regionaler elektronischer Massenmedien ist das größte alarmierende Signal für den Mangel an Nachrichten“, glaubt Tatjana Ilarionowa.

In dem Teil des Seminars, der dem Theater, der Musik und dem Kino gewidmet war, sprach der Schauspieler und Regisseur Jurij Dietz über sein Projekt „Leben jenseits des Horizonts“.

„Wir sprechen von einer Aufführung, die wir derzeit in München inszenieren. Da ich selbst Russlanddeutscher bin, interessiere ich mich schon seit Langem für diese Geschichte und der Schmerz dieses Volkes ist auch in mir präsent. Als ich anfing, im theatralischen Bereich zu arbeiten, hatte ich eine Idee, wie ich diese Geschichte in einer interessanten theatralischen Form zeigen könnte, damit sie vielen Menschen (nicht nur Russlanddeutschen) in Deutschland näherbringen wird.

Das war eine sehr schwierige Arbeit. Wir sammelten viele Informationen, führten Gespräche und Interviews mit denen, die das alles am eigenen Leib erlebt haben, darunter auch meine Eltern.

Als wir alle Informationen sammelten, war es schwierig, dieses Material auf der Bühne zu zeigen, weil die Geschichte so erlebnisreich ist. Es passierten sehr viele schreckliche Dinge, aber es gab auch positive Ereignisse. Das Stück erwies sich nicht als dokumentarisch, sondern als künstlerisch. Am Beispiel einer Familie wird die gesamte Geschichte der deutschen Kolonisten bis in die 90er-Jahre erzählt. Diese Aufführung wird in Deutschland verstanden und sehr gut aufgenommen. Die gesamte europäische Bevölkerung hat eine ähnliche Erfahrung gemacht. Dies ist eine Schmerzstelle, die uns eint, und wir müssen darüber sprechen“.

Während meines Lebens hier wurde mir klar, dass die Russlanddeutschen ein Volk mit Wurzeln, Geschichte und Traditionen sind. Aber dieses Volk hat keinen Boden unter den Füßen. Das sind Menschen, die aus Koffern leben, die noch nicht ausgepackt worden sind. Sie leben in der Angst, dass etwas passieren könnte und sie ihren Wohnort wieder verlassen müssen.

„Ich denke, es ist an der Zeit, darüber zu sprechen, damit die Menschen, die hier und an anderen Orten der Welt leben, endlich diese Koffer auspacken und sich schließlich entspannen, ausatmen und in Frieden leben können, ohne Angst, dass sie deportiert oder vor Gericht gestellt würden, weil sie aus einem anderen Land kommen, ein wenig anders aussehen und anders sprechen. Das sind die Ziele, die mir wichtig waren, und in dieser Aufführung ist die Vermittlung dieser Ziele gelungen.“

Die jungen Regisseurinnen Sofia Bykanowa und Xenija Jasenezkaja aus Moskau präsentierten in diesem Teil des Seminars den Film „Schuldig ohne Schuld“.

„Die Idee zu dem Film kam unerwartet“, sagt Sofia Bykanowa über das Filmprojekt. „Ich wusste immer, dass die Vorfahren meines Vaters Russlanddeutsche waren, aber niemand hat mir davon erzählt. Meine Großmutter hatte große Angst, dass ich davon erfahren würde, weil sie selbst die Repression überlebt hatte. Dies kam ans Licht, als mein Onkel beschloss in diesem Jahr nach Deutschland zu ziehen und er die Familiengeschichte wiederherstellen musste. Wir taten dies gemeinsam und schufen einen Stammbaum unserer Vorfahren. Und je mehr ich versuchte, die Antworten zu finden, desto mehr Fragen kamen auf. Und im Laufe der Zeit hatte ich nicht nur ein Interesse an der Geschichte unserer Familie, sondern auch ein Interesse an der Geschichte im Allgemeinen und ein Gefühl der Ungerechtigkeit gegenüber ethnischen Deutschen.

Auch wenn meine Großmutter mir als Kind nichts gesagt hat, weil sie Angst hatte, meine Psyche zu verletzen, so hat sie mir jetzt alles im Detail erzählt. Und dann beschlossen Xenija und ich, einen Film über dieses Thema zu drehen.

Wir sprachen mit ethnischen Deutschen, die sich als sehr entgegenkommende Menschen erwiesen. Viele schrieben mir per E-Mail, weigerten sich aber, vor der Kamera darüber zu sprechen, weil sie Angst hatten, und so wurde mir klar, dass diese Angst, die schon lange zurückliegt, immer noch da ist.

Das liegt daran, dass nicht viel darüber gesprochen wird. Xenija und ich führten eine Straßenumfrage durch und fragten die Menschen, ob sie wüssten, wer ethnische Deutsche sind. Leider ist die Auswertung nicht ermutigend. Trotz der Tatsache, dass inzwischen genug Zeit verstrichen ist, denken viele Menschen, dass ein Deutscher in Kriegszeiten immer der Feind ist. Und wenn wir sagen: „Aber es gab auch ethnische Deutsche“, wird mit folgenden Worten darauf geantwortet: „Wo ist der Unterschied?“ Mit unserem Film wollten wir zeigen, dass es einen Unterschied gibt und dass der Deutsche nicht immer der Feind ist. Er kann auch Opfer sein, und wir sind uns viel näher, als es vielleicht den Anschein hat.“

Zum Abschluss des kulturhistorischen Seminars sagte die Erste stellvertretende Vorsitzende des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur Olga Martens folgendes:

„Die Besonderheit unseres diesjährigen Seminars besteht darin, dass wir zum ersten Mal eine solche Ausgewogenheit zwischen Teilnehmern aus Russland und Deutschland und eine Ausgewogenheit zwischen Teilnehmern, die in der Forschung und Praxis tätig sind, erreicht haben. Das Ziel dieses Seminars ist eine dreifache Interaktion – die Zusammenarbeit von Wissenschaft, Kultur und öffentlichen Organisationen. Dieses Seminar gibt viele Ansätze für unsere zukünftige Arbeit.

Was ist unsere Kultur? Was ist für uns wichtiger: die Sprache oder die historische Erinnerung? Ich habe immer davon gesprochen, was für uns wichtiger ist als die Sprache. Nun würde ich ein Gleichheitszeichen zwischen historischer Erinnerung und Sprache setzen.

Die historische Erinnerung ist zweifellos wichtig, und deshalb war es das Hauptthema des aktuellen kulturhistorischen Seminars. Aber gleichzeitig hat sie auch viel Negatives an sich.

Wir stehen an der Schwelle zum 80. Jahrestag der Deportation der Russlanddeutschen und das nächste Jahr steht im Zeichen dieses denkwürdigen und zugleich tragischen Datums. Deshalb ist es sehr wichtig, zu verstehen, dass wir in der Lage sein sollten, dies der Öffentlichkeit in Russland und in Deutschland nicht nur auf Russisch oder Deutsch zu vermitteln, und nicht nur aus der Position der historischen Erinnerung, sondern auch in einer Sprache, die für die jüngere Generation verständlich ist.

Christoph Heier, Illustrator und Produzent von Musikvideos, präsentierte seine Sicht auf das Seminar und bereitete eine Reihe von lustigen Skizzen vor. Sie können sich den kreativen Ansatz und den Sinn für Humor des deutschen Teilnehmers anschauen, indem Sie hier klicken.


Die Organisatoren des kulturhistorischen Seminars: der Internationale Verband der deutschen Kultur und das Kulturreferat für Russlanddeutsche im Museum für Kulturgeschichte der Russlanddeutschen in Kooperation mit dem Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte, die Internationale Assoziation zur Erforschung der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen, das Institut für ethnokulturelle Bildung – BiZ sowie der Jugend- und Studentenring der Deutschen aus Russland (JSDR e.V.) und der Jugendring der Russlanddeutschen (JdR).

Das kulturhistorische Seminar wird durch das Unterstützungsprogramm für Russlanddeutsche in der Russischen Föderation finanziert.

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