Vom 6. bis 10. November fand in Moskau das kulturhistorische Seminar statt, das ohne die zentrale Figur unseres Interviews – Irina Tscherkasjanowa, Doktorin der historischen Wissenschaften und Leiterin der Internationalen Assoziation zur Erforschung der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen – nicht denkbar gewesen wäre. In einem Gespräch mit Irina erforschten wir die Entwicklung ihres Interesses an der Wissenschaft, die Herangehensweise junger Forschender und die Arbeit der Internationalen Assoziation zur Erforschung der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen.
Lassen Sie uns mit einer einfachen Frage beginnen: Wovon haben Sie als Kind geträumt?
Als Kind hatte ich viele Träume, doch einer meiner größten Wünsche war es, Archäologin zu werden. Ich war fasziniert von den Büchern Erich von Dänikens und den sowjetischen Fachzeitschriften über Archäologie. In meiner Schulzeit verstand ich zwar oft nicht viel von dem, was ich las, aber allein die Vorstellung, diese Publikationen in den Händen zu halten, erfüllte mich mit Aufregung.
Ich träumte davon, eine Pyramide oder einen antiken Schatz auszugraben – ein romantischer Beruf, der so weit entfernt schien von dem Ort, an dem ich aufwuchs: Karaganda, umgeben von den südlichen Bergehalden. Doch an der Universität wurde dieser Traum Wirklichkeit: Archäologie wurde nicht nur meine erste Vorlesung, sondern auch ein fester Bestandteil meines Lebens.
Wie sind Sie zu Ihrer Leidenschaft für die Archäologie gekommen?
An der Universität tauchten wir sofort in die Welt der Archäologie ein. Unter der Anleitung von Gennadi Sdanowitsch, einem renommierten Wissenschaftler und Entdecker von Arkaim, fühlte ich mich in besten Händen. Gemeinsam organisierten wir archäologische Reisen durch Kasachstan: Im Sommer unternahmen wir Expeditionen, während wir im Winter die gesammelten Daten systematisierten.
Es war ein Traum, die Romantik des Altertums hautnah zu erleben.
Doch zugleich war es auch eine ernsthafte wissenschaftliche Herausforderung: Materialsammlung, Teilnahme an Konferenzen und das Verfassen erster wissenschaftlicher Arbeiten gehörten dazu. Mein Diplomthema beschäftigte sich mit der Keramik der späten Bronzezeit in Nordkasachstan. Auf den ersten Blick mag das vielleicht langweilig erscheinen, doch für mich war die Arbeit mit Ausgrabungen, Artefakten und Rekonstruktionen aus der Antike einfach unglaublich bereichernd.
Irina Janzen (zweite von rechts) – Studentin der Universität in Karaganda, Teilnehmerin der 7. wissenschaftlichen Studierendenkonferenz. Syktywkar, 1975.
War das der Moment, in dem Sie Ihren wissenschaftlichen Weg eingeschlagen haben?
Es war eine Begegnung mit der Wissenschaft, die den Grundstein für meine akademische Reise legte. Damals eignete ich mir die grundlegenden Fertigkeiten an: das Verfassen von Hausarbeiten und die Analyse von Materialien. Das Internet war noch nicht Teil unseres Alltags, und die benötigten Bücher mussten oft monatelang über die Fernleihe beschafft werden. Wir suchten nach Informationen und verwiesen auf seltene Quellen. Diese strenge Schule vermittelte mir eine ernsthafte Herangehensweise an Wissen und Arbeit.
Was hat Sie dazu inspiriert, das Erbe der Russlanddeutschen zu erforschen?
Es hat eine Weile gedauert, bis ich dazu gekommen bin, mich damit auseinanderzusetzen. Ich wurde in eine Familie von Russlanddeutschen hineingeboren; meine Eltern wurden während des Krieges nach Kasachstan deportiert.
Diese Geschichte war für mich stets ein Teil meiner Identität, doch mein wissenschaftliches Interesse an diesem Thema entwickelte sich erst viel später.
Als ich heiratete, wurde mir bewusst, dass Archäologie und Familienleben nicht miteinander vereinbar waren. Ich stand vor der Wahl, eines von beiden zu vernachlässigen, und da ich zu solchen Opfern nicht bereit war, entschied ich mich für die Familie. Bald darauf wurden wir Eltern. Als ich in der Schule arbeitete, hatte ich nicht viel Gelegenheit zur wissenschaftlichen Arbeit. Doch als ich nach Omsk zog und im Omsker Museum tätig wurde, begann sich mein Interesse an der Wissenschaft neu zu entfalten.
I. Tscherkasjanowa (erste von rechts). Mitarbeiterinnen des Omsker Museums für Geschichte und Heimatkunde bei der Feier zum Museumstag. Omsk, 18. Mai 1991.
Фото: Privates Archiv
Während der Umstrukturierung und der Arbeit im Museum kam mir die Idee, eine Ausstellung über die Deutschen zu organisieren. Ich begann, Materialien zu sammeln, die später die Grundlage dieser Ausstellung bildeten. Im Jahr 1993 erhielten wir Besuch von Vertretern deutscher Wissenschaftsorganisationen, darunter Heinrich Martens und Alfred Eisfeld. Heinrich war ein dynamischer und energischer Verwalter, der alles ins Rollen brachte, während Alfred als Ideengeber fungierte und bereits tief in diese Themen eingetaucht war. Sie schlugen uns vor, eine Ausstellung über Russlanddeutsche zu gestalten, die in verschiedenen Städten Russlands gezeigt werden könnte. Mit Begeisterung nahmen wir diese Herausforderung an und eröffneten 1994 unsere erste Wanderausstellung. Damit fing alles an.
Wie ist es Ihnen gelungen, Wissenschaft und Familie harmonisch in Ihrem Leben zu vereinen?
Aus wissenschaftlicher Perspektive betrachte ich mich als eine Frau, die sich selbst erschaffen hat – eine „selfmade woman“.
Meine Entwicklung in der Wissenschaft ist das Resultat harter Arbeit sowie der Unterstützung meines Mannes und meiner Familie, die mir stets als Fundament dienten.
Mein Mann ermutigte mich immer mit den Worten: „Tu, was du für richtig hältst“, und diese Ermutigung gab mir Kraft. Natürlich gab es Herausforderungen, doch die Leidenschaft für die Wissenschaft hat es mir ermöglicht, alle Hindernisse zu überwinden.
Verteidigung der Doktorarbeit von I. Tscherkasjanowa. Sankt Petersburger Institut für Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften, 3. März 2009.
Фото: Privates Archiv
Was inspiriert Sie bei Ihrer Arbeit?
Ich finde große Inspiration im Prozess des Suchens und Entdeckens neuer Erkenntnisse.
Die Wissenschaft eröffnet nicht nur die Möglichkeit, Wissen zu erlangen, sondern auch, die Ergebnisse mit anderen zu teilen und zu beobachten, wie meine Arbeit wahrgenommen wird. Es erfüllt mich mit Freude, dass mein Engagement dazu beiträgt, das kulturelle Erbe zu bewahren und wertzuschätzen. Zudem hoffe ich, andere dazu zu inspirieren, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen.
Können Sie erzählen, wie Sie zur Internationalen Assoziation zur Erforschung der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen gekommen sind und welche Entstehungsgeschichte dahintersteht?
Alles nahm seinen Anfang im Jahr 1994, als Heinrich Martens, Alfred Eisfeld und Igor Plewe die erste Konferenz ins Leben riefen. Leider konnte ich aufgrund meiner Aspirantenprüfungen nicht daran teilnehmen, doch ich kannte die Organisatoren. Diese Konferenz vereinte Menschen, die sich bereits mit diesem Thema auseinandersetzten, und legte den Grundstein für die Gründung der Internationalen Assoziation zur Erforschung der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen. Offiziell ins Leben gerufen wurde die Assoziation im September 1995, gefolgt von einer Konferenz im Januar 1996. Seitdem engagiere ich mich aktiv in der Arbeit dieser Organisation und übernahm später die Rolle der Redakteurin des Bulletins „Russlanddeutsche“.
Verleihung des Georg-Dehio-Preises des Deutschen Kulturforums des östlichen Europas im Bereich Kultur für die Monografie „Leningrader Deutsche. Das Schicksal der Kriegsgenerationen. 1941-1955“
Фото: Privates Archiv
Welche zentralen Arbeitsbereiche prägen di Tätigkeiten der der Internationalen Assoziation zur Erforschung der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen?
An erster Stelle standen stets die Konferenzen. Sie waren nicht nur Plattformen für Vorträge, sondern auch lebendige Foren für den Austausch zwischen Wissenschaftlern, in denen Fragen, Ideen und Pläne zur Sprache kamen. Trotz organisatorischer und finanzieller Herausforderungen war es uns nicht immer möglich, mit Kollegen aus anderen Ländern zusammenzuarbeiten. Dennoch gelingt es uns auch heute noch, Kooperationen zu pflegen.
Sie sind seit geraumer Zeit Redakteurin des Bulletins. Wie würden Sie Ihre Erfahrungen dieser Tätigkeit beschreiben?
Die redaktionelle Arbeit stellt eine unglaubliche Herausforderung dar, die zugleich äußerst bereichernd ist. Sie eröffnete mir den Zugang zu einer Fülle von Informationen, die es mir ermöglichten, ein umfassendes Bild der Themen und Autoren zu gewinnen. Diese Position verschaffte mir einen tiefen Einblick in unsere Tätigkeiten und förderte mein Verständnis für die Internationale Assoziation zur Erforschung der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen. Als wir feststellten, dass die bisherige Form des Bulletins nicht mehr zeitgemäß war, entschieden wir uns, eine jährliche Zeitschrift ins Leben zu rufen, die nun seit fast zehn Jahren existiert. Sie ist zu einem unverzichtbaren Bestandteil unserer Arbeit geworden.
Vor welchen Herausforderungen sieht sich die Internationale Assoziation zur Erforschung der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen in der heutigen Zeit konfrontiert?
Wir stehen vor der Herausforderung, den Status unserer Zeitschrift zu optimieren, da die moderne wissenschaftliche Gemeinschaft zunehmend Wert auf Veröffentlichungen in hoch angesehenen Fachzeitschriften legt. An diesem Ziel arbeiten wir intensiv, doch es handelt sich um einen langwierigen Prozess. Zudem ist die Einbindung der Jugend von großer Bedeutung, denn ohne sie können wir keine Zukunft gestalten.
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Welchen Ratschlag können Sie jungen Forschenden geben?
Ich betone stets: Bleib deiner Arbeit treu. Wähle ein Thema, das dich inspiriert, und verfolge es mit Leidenschaft, auch wenn es dir nicht sofort finanziellen Gewinn bringt. Erlaube dir, andere Beschäftigungen zu erkunden, doch widme dich deinem Fachgebiet mit Ernsthaftigkeit und Gründlichkeit. Gib ein Thema nicht auf, nur um schnellen Erfolg zu erzielen. Diese Hingabe wird zum Kern deiner Identität und wird dir helfen, sowohl als Mensch als auch als Forschender zu wachsen.