Lokomotive des Kulturlebens in Ananjewka

Sie ist für heute eine ungewöhnlich positive und freundliche Person, die ihre Wärme und unerschöpfliche Energie leicht auf die Menschen um sie herum überträgt. Lydia Janzen aus dem Dorf Ananjewka, Rayon Kulunda, ist schon 22 Jahre Leiterin des örtlichen Zentrums der deutschen Kultur „Shurawuschka“ (Kranich) und ist ihrer Lieblingsbeschäftigung mit Leib und Seele ergeben. Ihre Kollegen aus anderen Begegnungszentren der Altairegion sowie ihre Landsleute schätzen ihren Fleiß und ihre Professionalität sehr hoch. Dafür sprechen auch die zahlreichen Auszeichnungen von den Regions- und Rayonsverwaltungen sowie vom Internationalen Verband der deutschen Kultur für ihre langjährige gewissenhafte Arbeit in der Bewahrung der deutschen Sprache, Geschichte und Kultur.

Ananjewka, ein Dorf der Mennoniten (Diese Benennung ist später in Sibirien in die Volkssprache für alle Plattdeutsche eingegangen – Bemerkung des Autors) und Baptisten, wurde 1912 von den Auswanderern aus dem Schwarzmeergebiet gegründet. Zurzeit gehört es zum Rayon Kulunda als Zentrum der Landsiedlung Ananjewka (bestehend aus den Dörfern Ananjewka und Jekaterinowka). Das einst völlig deutsche Dorf blieb von der großen Ausreisewelle der 1990er Jahre nicht verschont. Die meisten Einheimischen wanderten nach Deutschland aus, später wurden sie von Umsiedlern aus Kasachstan und Kirgisien abgelöst. Die hier gebliebenen Russlanddeutschen geben sich alle Kräfte und Mühe, um ihr liebes Heimatdorf und ihre Muttersprache – den plattdeutschen Dialekt – aufzubewahren. Und leitet diese Tätigkeit die unermüdliche Arbeiterin und treue Liebhaberin der deutschen Sprache und Kultur, Lydia Janzen.

ARBEIT, FAMILIE UND BRÄUCHE

Am 28. Januar 1963 erblickte in der Familie Katharina und Artur Friesen das Licht der Welt ein Mädchen, dem der schöne Name Lydia gegeben wurde. Lydia wuchs als ein bescheidenes und sehr verantwortungsbewusstes Mädchen auf. Sie war sehr musikalisch begabt, deswegen wurde sie 1980 nach dem Abschluss der Mittelschule Studentin an der Kultur-Aufklärungsschule in Barnaul, die sie im Dezember 1982 in der Fachrichtung „Leiterin des Laienorchesters der Volksinstrumente“ erfolgreich absolvierte.

Lydia Arturowna kehrte in ihr Heimatdorf zurück, wo sie schon im Februar des darauffolgenden Jahres die Stelle der künstlerischen Leiterin des Dorfkulturhauses antritt. Vom Dezember 1986 bis zum August 1988 leitete sie die Dorfbibliothek in Ananjewka. Die nächsten zehn Jahre arbeitete Lydia Janzen im hiesigen Kindergarten als Musikleiterin. Im April 1997 wurde sie zusätzlich Leiterin des Zentrums der deutschen Kultur „Shurawuschka“. So bekleidete die engagierte Kulturschaffende Lydia Janzen diese zwei Ämter bis 2006. Ab dieser Zeit bis heute ist sie dazu noch Leiterin des örtlichen Kultur- und Freizeitzentrums. 2008 absolvierte sie die Akademie der Volkswirtschaft beim Präsidenten der Russischen Föderation an der RussischDeutschen Hochschule für Management.

Auch ihre Familie gründete die junge Kulturfachfrau in ihrem geliebten Heimatdorf. Ihren Ehemann Andrej Janzen kannte sie von Kindheit an. In der Familie Janzen kamen zwei Kinder zur Welt: der Sohn Alexander (1984) und die Tochter Jekaterina (1986). Heute lebt und arbeitet Alexander im Regionalzentrum Barnaul, wo er 2006 an der Altaier Staatlichen Universität im Fach „Angewandte Mathematik und Informatik“ seinen Beruf erwarb. Jekaterina Janzen liebte von klein auf die deutsche Sprache und wählte für sich auch den damit verbundenen Beruf. Sie studierte an der Barnauler Staatlichen Pädagogischen Universität am Linguistischen Institut das Fach Dolmetscherin für die Sprachen Deutsch und Englisch. Heute lebt die junge Fachfrau in Moskau und arbeitet in der Deutschen Botschaft.

Die Mutter und Frau Lydia Janzen ist überzeugt, dass es sehr wichtig ist, in der Familie die deutschen Sitten und Bräuche aufzubewahren. Das bemüht sie sich auch zu tun. Die Familie versammelt sich am mit so schmackhaften deutschen Gerichten bedeckten Tisch zu den deutschen Festen: Weihnachten und Ostern, oder zu verschiedenen Familienjubiläen. Lepelkucke, Strudel, Rollkucke, Schmages, Brüsh… – diese Lieblingskosten der Ananjewkaer Plattdeutschen sind auch heute in der Familie Janzen sehr beliebt und werden stets zu den Familientreffen zubereitet. Leider kommt man immer seltener zusammen, bedauert Lydia Arturowna.

GUTE MENSCHEN TREFFEN, BRINGT GLÜCK

Als man Lydia Janzen vorschlug, das Zentrum der deutschen Kultur zu leiten, hatte sie ihren Worten nach eine sehr vage Vorstellung von dieser Arbeit. Auch Belohnung bekam sie damals für diese Tätigkeit keine. Erst nach einem Jahr wurde sie offiziell als Leiterin des Zentrums eingestellt und wurde von der Kulturabteilung des Rayons belohnt. „Ich bin ein glücklicher Mensch! Auf meinem Lebensweg traf ich viele gute Menschen, die mein Schicksal wesentlich beeinflussten. Ich bin ihnen dafür sehr dankbar. Um nur einige zu nennen: Lydia Neufeld, Swetlana Wiens, Olga Hermann, Nina Maslowa, Irina Fomenko, Lubow Krylowa halfen mir, in meiner neuen Tätigkeit auf die Füße zu kommen. Ich glaubte an meine eigenen Kräfte und verstand, dass wir, die Ananjewkaer, auch Vieles können und alles wird bei uns klappen. Dann kam der erste große Erfolg. Unsere Kinder beteiligten sich zum ersten Mal am regionalen Wettbewerb „Wir sind alle deine Kinder, Russland“ (Klutschi, 1998) und brachten den Grand Prix und ein Wertgeschenk – ein Musikzentrum – nach Hause. Das war eine Freude!“, erinnert sich heute Lydia Janzen stolz.

Nach dem ersten Erfolg verstand die Zentrumsleiterin, dass sie und ihre Zöglinge das erreichte Niveau nicht nur erhalten, sondern es auch weiter vervollkommnen müssen. Das kostete aber auch viel Mühe: Im Laufe des Jahres wurde emsig am Erlernen der Sprache, Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen gearbeitet. Daneben beschäftigte man sich im Kinderklub mit Musik und Choreografie, mit angewandten Künsten und Computer, machte die Kinder mit der Geschichte der deutschen Siedlungen in der Kulundasteppe bekannt.

„Es ist bestimmt sehr wichtig, dass ich selbst eine Russlanddeutsche bin und den niederdeutschen Dialekt spreche. Wir bemühen uns hier unsere Muttersprache – Plattdeutsch – sorgfältig aufzubewahren. In Ananjewka sprachen diesen Dialekt einst alle Einwohner, denn es war ein völlig plattdeutsches Dorf“, teilt die Zentrumsleiterin mit. Ab 1997 werden im Zentrum „Shurawuschka“ stets Treffen des Klubs der Dialektliebhaber „Landsleute“ durchgeführt. Daran beteiligen sich neben den Erwachsenen auch Kinder verschiedenen Alters. Heute werden die Teilnehmer des Klubs immer öfter zu allerlei Festen eingeladen. Vor kurzem beteiligten sie sich am Festival „Wir sind alle deine Kinder, Russland“ in Omsk, wo sie den Zuschauern plattdeutsche Gedichte und Lieder vortrugen.

Der Wichtigkeit des Erlernens des plattdeutschen Dialekts für die Bewahrung der Geschichte und Kultur der Vorfahren bewusst, kam die Zentrumsleiterin Lydia Janzen auf die Idee, einen ethnokulturellen Klub „Deutsches Märchen im Dialekt“ zu gründen. „Die Drehbücher für unsere Auftritte schreiben wir selbst, dabei schmücken wir die Theaterstücke immer mit musikalischen Zwischensätzen, mit Spielen auf Volksinstrumenten, Liedern und Gedichten auf Plattdeutsch. Das gefällt den Zuschauern sehr“, freut sich Lydia Arturowna.

Nach und nach erweitert sich auch der Besucherkreis des deutschen Zentrums „Shurawuschka“. Immer mehr Erwachsene beteiligen sich an den inhaltsreichen Veranstaltungen. Heute funktionieren im Zentrum neben anderen Vereinigungen noch das Geräuschvolksensemble „Pereswon“ (Glockengeläut) und das Folkloreensemble „Blumenkranz“. Wenn die erste Gruppe schon seit 17 Jahren sich erfolgreich unter Leitung von Lydia Janzen an verschiedenen regionalen und lokalen Veranstaltungen beteiligt, entstand das Letztere erst vor fünf Jahren, aber auch seine Auftritte werden immer mit stürmischem Beifall empfangen. Die 15 Mitglieder des Ensembles sind Mitarbeiterinnen des Kindergartens, Rentner und Teilnehmer der Laienkunst des Dorfklubs Jekaterinowka. Sie singen deutsche und russische Volkslieder, führen allerlei Kompositionen und Theaterstücke auf.

EINZIGARTIGES MUSEUM

Die Idee der Gründung eines Dorfmuseums gehört der Erzieherin des Kindergartens Lubow Welmenko, die damals in einem der Kindergärten im Rayonszentrum Kulunda das Museumszimmer „Russisches Bauernhaus“ besuchte. Sie schlug vor, ein „Deutsches Bauernhaus“ im Ananjewkaer Kindergarten einzurichten. Gerade mit diesem kleinen Zimmer begann 1995 die Geschichte des einzigartigen Museums der Plattdeutschen, das die Einwohner des Dorfes sowie die Gäste aus verschiedenen Regionen Sibiriens mit der Geschichte, dem Alltag, der Kultur und Traditionen der Einwohner der Dörfer Ananjewka und Jekaterinowka bekannt macht.

Von Jahr zu Jahr erweiterte sich die Expositionsreihe, und es wurde immer nach einem größeren Raum gesucht. Heute befindet sich das Museum im Gebäude der ehemaligen Acht-Klassen-Schule und beinhaltet ein Zimmer des deutschen Alltagslebens, ein Zimmer des Schaffens der Russlanddeutschen, ein Raum des Kampf- und Arbeitsruhmes und ein Schulzimmer. Hier gibt es sogar eine Exposition unter freiem Himmel „Mennonitischer Hof“. Die Einwohner bringen immer wieder neue Exponate in das Museum, die sie irgendwo in ihrem Haushalt finden: eine Buttermaschine, eine Mangel, ein Bügeleisen und anderes mehr. Heute zählt der Museumsfonds etwa 1000 Gegenstände.

Im Museum herrscht immer reges Leben, wie seltsam es auch lautet: Hier werden allerlei Maßnahmen zu verschiedenen Festen durchgeführt. Auch Meisterklassen für die Zubereitung der traditionellen mennonitischen Gerichte führt man hier durch: Die Besucher können selbst einen für Ananjewka traditionellen Ribbelplouz oder Krüsasch im deutschen Ofen unter dem freien Himmel backen. Dank finanzieller und Beratungsunterstützung der Assoziation der gesellschaftlichen Vereinigungen „Internationaler Verband der deutschen Kultur“ wurde vor kurzem im Museum ein Miniaturmodell eines Wohnzimmers der Plattdeutschen aus den 1940–1950er Jahren eingerichtet.

Die Tätigkeit des Zentrums der deutschen Kultur „Shurawuschka“ des Dorfes Ananjewka ist vielseitig und inhaltsreich. Lydia Arturowna Janzen – diese freundliche, fröhliche und vielseitig begabte Frau ist Führerin der Lokomotive, die schon etwa 25 Jahren den Zug der Erinnerungen und des Kulturlebens des Dorfes Ananjewka zieht. Sie bemüht sich durch ihr eigenes Beispiel die Geschichte ihres lieben Heimatdorfes und ihre plattdeutsche Muttersprache zu bewahren und an die heranwachsende Generation weiterzugeben. Sollen ihr doch dabei die Kräfte und der Mut ausreichen!

*Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitung für Dich.

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