Das uralte Gedächtnis der Familie Schäfer

Wie gut kennt ihr eure Familiengeschichte? Habt ihr je versucht, den Stammbaum eurer Familie zu schreiben? Unterhaltet ihr euch mit euren Großeltern darüber, wie sie gelebt haben, über ihre Familien und ihre Kindheitserlebnisse? Manchmal führen solche Familienforschungen zu sehr interessanten Entdeckungen, beispielsweise, dass euer entfernter Verwandter der berühmte Dichter Friedrich Schiller war.

Zu solch einer Entdeckung kam Alina Galkowa (Schäfer nach dem Namen der Urgroßmutter), als sie zusammen mit ihrer Mutter im Jahre 2009 die Erforschung ihres russlanddeutschen Stammbaums gestartet hatte. Der entfernteste Vorfahre, der während der Recherche gefunden wurde, hieß Hans „Mathae“ Schiller (1533–1591). Und der direkte Vorfahre von Alina Gottlieb Schäfer, der als erster nach Russland umgezogen ist, war der Cousin fünften Grades von Friedrich Schiller. Somit gehören Alina und der berühmte deutsche Schriftsteller und Philosoph demselben Stamm an.

Warum entschied sich Gottlieb Schäfer, Deutschland mit seiner Familie zu verlassen? Dafür gab es mehrere Gründe – Napoleonische Kriege, zu hohe Steuern, häufige Dürren, die Verarmung und Hunger verursachten, und nicht zuletzt Anregungen religiöser Art. Seine Angehörigen waren Protestanten, während der Katholizismus die primäre Religion im Südwesten Deutschlands war. Außerdem kam das Manifest von Katharina der Großen im Jahr 1763 hinzu, das Aussiedlern viele Privilegien bot: Befreiung vom Militärdienst, Steuervergünstigung und weitere Vorteile. Die deutschen Kolonisten sollten der russischen Bevölkerung beispielgebend für Sparsamkeit und Geschäftstüchtigkeit sein.

Auf diese Weise zogen die Schäfers Anfang der 1830er Jahre aus Hanweiler neben Stuttgart nach Bessarabien in die Kolonie Gnadenthal. Später, in den 1870er Jahren, siedelten sie auf Einladung der Katharina II. nach Kuban in die deutsche Kolonie Eigenfeld-Wannowskoje über. Um herauszufinden, aus welchem Ort in Deutschland die Familie kam, wurden Unterlagen aus dem Nationalarchiv der Republik Moldawien, dem Staatlichen Archiv der Region Krasnodar, Russischen staatlichen historischen Archiv in St. Petersburg, das Verzeichnis der Geburts- und Taufangaben der deutschen Siedler in der Stadtverwaltung Armawir studiert. Viel Information über die Schäfers und deren Umsiedlung nach Russland ist auch im Bessarabiendeutschen Verein in Stuttgart gespeichert, in dem die umfangreichen Dokumente über die ausgewanderten Einwohner des Landes Württemberg aufbewahrt werden.

Das Komplizierte an der Recherche war, dass aufgrund der deutsch-faschistischen Besatzung die Archive des Dorfes Wannowskoje (früher die Kolonie Eigenfeld) verbrannt wurden und die sieben Kinder der Familie Schäfer in der ganzen Welt verstreut leben. Heute bewohnen die Nachkommen dieser Familie Russland, Kasachstan, Deutschland, Kanada und die USA.

Als am wichtigsten für die Wiederherstellung der Familiengeschichte erwiesenen Dokumente waren die Revisionsgeschichten (das sind Dokumente mit Angaben wie Namen, Alter, Hofbesitz und Stellung in der Familie, die damals aus steuerrechtlichen Gründen erstellt wurden) und Geburtslisten der deutschen Kolonien des Akermanischen Landkreises in Bessarabien aus den Jahren 1833 bis 1877. Eine gute Hilfe war auch das Buch von Karl Stumpp mit dem Verzeichnis der Aussiedler aus Deutschland, die in die südlichen Kolonien Russlands gezogen waren, die nach den Geburtslisten der deutschen Kolonisten zusammengestellten Angaben, Ahnentafel aus dem Museum der deutschen Aussiedler in Stuttgart sowie das genealogische Netzwerk „Myheritage“. Als Informationsquellen dienten auch Untersuchungsakten und Registrierkarten verfolgter Familienmitglieder, die Antwortschreiben der Archivverwaltung des Föderalen Sicherheitsdienstes der Region Krasnodar und Kabardino-Balkarien enthielten.

Alina und ihre Mutter haben auf dem Informationsportal für Russlanddeutsche RusDeutsch eine Anzeige veröffentlicht, dank der der Verwandte Albert Rau aus Kasachstan sie gefunden hat. Sie haben einen gemeinsamen Familienzweig: die Mutter von Albert war die Cousine der Urgroßmutter von Alina. Mit Hilfe der genealogischen Firma konnte Albert Rau mehr Informationen schöpfen und erstellte so den Stammbaum seiner Vorfahren. Später wurden alle bekannten Daten im Buch „Die Geschichte meiner Familie 1533–2014“ vereint. Das half der Familie von Alina die Lücken in ihrer eigenen Abstammungsgeschichte zu füllen.

Alina Galkowa wurde im Kuban-Gebiet geboren. Sie wusste immer, dass ihre Vorfahren aus Deutschland kamen, aber nähere Informationen blieben in Archivdokumenten versteckt. Aus Angst vor Repressionen und sonstigen Prüfungen aufgrund ihrer deutschen Abstammung hielten die Schäfers Information über sich und ihre Verwandten geheim. Die Eltern gaben sogar den eigenen Kindern viel nicht preis. Die Nachkommen erfuhren erst mehr, als sie bereits erwachsen waren. Ungeachtet der Anfeindungen und Repressalien las Alinas Uroma, Olga Pantelejewna jeden Abend bis ins hohe Alter Gebete auf Deutsch vor. Und zu Weihnachten wurde das Lied „Stille Nacht“ gesungen. Nie hatte sie mit ihren Kindern Deutsch gesprochen, trotzdem wurde sie in der Familie immer für den Träger der deutschen Kultur gehalten.

Vor drei Jahren bestätigten Alina und ihre Eltern den Status der Spätaussiedler und nun lebt sie schon seit Monaten in Dresden. Heute ist sie 22 Jahre alt, lernt Deutsch und möchte sich im Master in Deutschland immatrikulieren lassen. Neben dem Umzug nach Deutschland passierten in den letzten Jahren mancherlei bedeutende Ereignisse in ihrem Leben: Sie hat von ihren Wurzeln und den Leben ihrer Verwandten erfahren. Zwar sind sie in der ganzen Welt verstreut, gehören jedoch trotzdem der gesamten jahrhundertealten Geschichte der Familie Schäfer an. Diese Tatsache macht viel aus – für ihren Stolz, ihre Macht und ihr Gedächtnis.

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