Bereits seit zwei Jahren beschäftigt sich eine Gruppe von Aktivisten mit der Geschichte der Stadt Klinzy in der Region Brjansk und führt die Webseite des historischen Forschungsprojekts Chronoscope, dem es gelungen ist, aufmerksame und interessierte Leser um sich zu scharen. Das Portal RusDeutsch sprach mit Michail Woronkow, einem der Schöpfer des Projekts, über die unerwarteten Entdeckungen, die die sorgfältige Arbeit mit Archiven bringt, sowie über das erstaunliche Schicksal der Klinzy-Deutschen.
Zusammen mit den gleichgesinnten Freunden Wjatscheslaw Fjodorow und Pawel Tschirkow startete Michail Woronkow im Dezember 2020 das historische Forschungsprojekt Chronoscope, das von der Geschichte der Stadt Klinzy in der Region Brjansk, der Heimatstadt der Projektinitiatoren, berichtet.
In zwei Jahren wurden mehr als 130 Artikel zu einer Vielzahl von Themen veröffentlicht: persönliche Geschichten, Geschichten von Unternehmen und architektonischen Objekten. Nach und nach schlossen sich weitere Aktivisten dem Projekt an: Lokalhistoriker, Bewohner der Stadt, die etwas über ihre Geschichte zu erzählen hatten. Laut den Autoren des Projekts hat sich im Laufe der Zeit für sie völlig unerwartet ein Publikum um Chronoscope versammelt, das die Webseite interessiert liest und auf neue Artikel wartet.
Beruflich haben die Gründer des Projekts mit der Geschichte nichts zu tun. Wjatscheslaw Fjodorow beschäftigt sich mit Werbung und Videodesign. Pawel Tschirkow ist von Beruf Baumeister, Michail, der Gesprächspartner von RusDeutsch, ist Kommunikationsingenieur und arbeitet in der Brjansker Zweigstelle vom russischen Kommunikationsunternehmen Rostelecom. Trotzdem zeichneten sich die Freunde immer durch ein großes Interesse für Geschichte: Welt-, Nationalgeschichte und natürlich die Geschichte ihrer Heimatstadt. Wjatscheslaw absolvierte einst die Fakultät für Geschichte der Staatsuniversität Brjansk, arbeitete aber keinen Tag in seinem Beruf. Pawel spezialisiert sich seit vielen Jahren auf christliche Metallarbeiten sowie historische Rekonstruktion von Objekten aus der Steinzeit. Die Gründung des Chronoscope-Projekts war laut Michail in diesem Zusammenhang nicht unerwartet.
Für die Autoren des Projekts gibt es keine unwichtigen Details und Ereignisse in der Geschichte ihrer Heimatstadt und können es auch nicht sein. Alles, was jemals in der Geschichte der Stadt passiert ist, kann interessant sein: das Erscheinen des ersten Fernsehers, der Besuch des Piloten Michail Gromow, des Dichters und Schriftstellers Alexander Twardowski, das Konzert der beliebten Schauspielerin und Sängerin Ljubow Orlowa, Graffiti an der Wand eines heruntergekommenen Kirche oder die Geschichte der Autovermietung – all diese Themen würden eine Atmosphäre vergangener Zeiten schaffen, über Menschen viel sagen, so die Projektautoren. „Chronoscope“ erzählt von den Architekten, die Stadtgebäude gebaut haben, von der Entstehungsgeschichte von Stadtdenkmälern, Plätzen, Brücken und Kirchen.
Die Stadt Klinzy liegt in der Region Brjansk und feierte im September letzten Jahres ihr 315-jähriges Bestehen. Heute leben etwa 65.000 Menschen in der Stadt. Obwohl Klinzy keine antike Stadt ist, sind die Autoren des Chronoscope-Projekts überzeugt, dass sich ihre Heimatstadt durch ihren wichtigsten historischen Reichtum auszeichnet: einzigartige Geschichten über das Leben und Werke der Menschen, die die Stadt gegründet und hier gelebt haben.
„Die persönlichen Geschichten derer, die ihr Leben der Entwicklung der Stadt gewidmet haben, sind der Hauptwert des Projekts“, betont Michail.
Die Stadt wurde von den Altgläubigen gegründet, die hier Anfang des 18. Jahrhunderts vor der Verfolgung durch die Zentralregierung flohen. Einen wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der Stadt hatte die jüdische Bevölkerung, die 20 Prozent ausmachte, sowie deutsche Kolonisten. Die Deutschen waren im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung der Stadt nicht viele, aber sie bildeten die Schicht der ersten Meister der Textilindustrie, die es ermöglichten, die Siedlung zum Textilzentrum Russlands zu entwickeln .
„Altgläubige, deutsche Kolonisten, Juden, Weißrussen, Ukrainer: Eine erstaunliche Kombination verschiedener Traditionen, Religionen und Weltanschauungen auf dem Gebiet einer Stadt machte Klinzy zu einem echten Phänomen seiner Zeit.
In Bezug auf sein industrielles Potenzial, die Entwicklung ziviler Institutionen und die Stadtplanung war die Possad dem Kreiszentrum nicht nur zehnmal überlegen, sondern sogar dem damaligen Zentrum der ganzen Provinz Tschernihiw praktisch nicht unterlegen“, sagen die Autoren von „Chronoscope“.
Eine der allerersten Leserinnen der Seite, Olga Kletnaja, eine Nachfahrin des russischen Zweiges der deutschen Grinich-Familie, bewegte die Autoren des Projekts dazu, sich näher mit dem Thema der Rolle deutscher Kolonisten in der Geschichte der Stadt zu beschäftigen. Von Ludwig Grinich, der nach Russland gekommen war, stammte die Familie Grinich, die heute mehr als 400 Nachkommen hat, die über ganz Russland und darüber hinaus verstreut sind. Ein bedeutender Zweig dieses Stammbaums verband sich mit Klinzy, wo die Nachkommen des ersten Grinich noch leben.
Beim Eintauchen in das Thema lernten die Aktivisten viele moderne Nachkommen der Deutschen von Klinzy und Nowyje Meseritschi kennen, die den Autoren heute eine unschätzbare Hilfe bei der Materialsuche leisten. Michail bedankt sich bei Olga Kletnaja (Nachkommin der Familie Grinich), Natalja Tachtamyschewa (Nachkommin der Familie Peschel), Waleri Sorin (Nachkomme der Familie Busse), Juri Bagrowzew und Valeria Starodubzewa (Nachkommen der Familie Kant).
Julius Peschel, Eisenbahningenieur, ein Klinzy-Deutscher, der maßgeblich zur Entwicklung der russischen Eisenbahnen beigetragen und während des Ersten Weltkriegs den Moskauer Eisenbahnknotenpunkt geleitet hat
Фото: Aus dem Archiv von Natalja Tachtamyschewa
Auf der Chronoscope-Webseite teilten die Autoren die Lebensgeschichte des berühmten Unternehmers Pjotr Issajew. Ein Waisenkind aus Klinzy zog als Junge nach Moskau, dann nach Brest und dann in das Königreich Polen, das kürzlich dem Russischen Reich angegliedert wurde, wo er ein bekannter Fabrikant wurde und an den dramatischen Ereignissen des polnischen Aufstands von 1830-1831 teilnahm. Die Wechselfälle des Schicksals zwangen Issajew dazu, seine Fabrik teilweise in die Wildnis im Norden der Provinz Tschernihiw zu verlegen und teilweise wieder aufzubauen. Als Vorbild für die neue Fabrik wurde seine ehemalige Tuchfabrik im polnischen Meseritz in Poznań, Schlesien, gewählt, daher der Name der Kolonie – Nowyje Meseritschi. Aus dem Ausland lud Issajew erfahrene Spezialisten als Handwerker für die Arbeit bei der Fabrik ein. Für sie wurden Familienhäuser in der Nähe der Fabrik gebaut. Im Dorf wurden auch eine deutsche Schule, ein Krankenhaus und eine Kirche eröffnet.
Bald kamen deutsche Siedler aus Polen und Preußen nach Nowyje Meseritschi. Die Fabrik von Issajew blieb lange Zeit das fortschrittlichste Unternehmen in der Klinzy-Textilindustrie, und die vier Dutzend deutschen Handwerker spielten dabei eine bedeutende Rolle. Im „Chronoscope“-Artikel können Sie lesen, wie die Erfahrung der Deutschen der Fabrik geholfen hat, internationale Preise zu gewinnen, und zur Entstehung einer Schicht technischer Intelligenz in Klinzy beigetragen hat.
Die Aktivitäten der Autoren des Projekts beschränken sich nicht nur auf die Arbeit mit Archiven und Nachkommen interessierter Personen, sondern umfassen auch echte Feldforschung. Eine weitere prominente Persönlichkeit unter den Klinzy-Deutschen war Julius Peschel, ein Eisenbahningenieur und Nachkomme von Wilhelm Peschel, der eine Rolle im Schicksal von Pjotr Issajew spielte. Materialien für einen Artikel über das Leben von Julius Peschel lieferte seine Enkelin Natalja Tachtamyschewa, die in ihrer Arbeit unter anderem den Mädchennamen der Großmutter ihres angesehenen Vorfahren, Karolina Kant, erwähnte.
Die Familie Peschel. Archivfoto von Michail Woronkow bereitgestellt.
Фото: Aus dem Archiv von Natalja Tachtamyschewa
Und dank der Hilfe fürsorglicher Leser in dem kleinen Dorf Maschina gelang es den Aktivisten, das alte Grab eines anderen Kant, Heinrich, zu finden. Das Denkmal auf dem Grab hatte altgläubige Züge, und die Forscher fragten sich, warum das Begräbnis eines Lutheraners auf diese Weise geschmückt werden konnte. Auf „Chronoscope“ können Sie auch die Geschichte dieser echten journalistischen Recherche nachlesen.
Wie kommen Sie auf Informationen für Ihre Artikel?
Es ist eigentlich ein interessanter Prozess. Wir müssen nicht nur mit den Archiven und Bibliotheken von Brjansk und Klinzy zusammenarbeiten, sondern auch mit den Archiven anderer Städte. Zum Beispiel gab es Informationen, die darauf hindeuteten, dass Alexander Twardowski (ein sowjetischer Schriftsteller und Dichter – Anm. d. Red.) in Klintsy zu Besuch gewesen war, aber nichts mehr. Nachdem wir in der Literatur recherchiert hatten, die Leute über diesen Schriftsteller geschrieben hatten, entdeckten wir, dass Twardowski auf Anweisung der Zeitung, in der er arbeitete, in die Westregion geschickt wurde. Das Zentrum der Westregion war damals Smolensk, und wir beschlossen, dort nach einer Zeitschrift zu suchen, die das beweisen könnte. Wir wandten uns an Kollegen in der Bibliothek, sie gaben uns Fernzugriff. Unter diesen 600 Seiten fand ich nicht nur die Bestätigung, dass dieser Besuch tatsächlich stattgefunden hat, sondern auch einen Artikel über den Aufenthalt des Schriftstellers in Klinzy. Die Artikel unterschrieb Twardowski noch bescheiden „AT“, damals war er noch ein unbekannter Journalist. Dann haben wir alle Informationen gesammelt, und dieser Artikel stellte sich zusammen.
Was war Ihr erster Artikel auf der Webseite?
Ich habe die ersten sechs Artikel über meine Familie geschrieben. Über meinen Urgroßvater Ustin Wassiljewitsch Woronkow, der von Beruf Zimmermann war und wunderbare Holzbauten im Jugendstil hinterließ. Sie stehen noch, einige haben den Status eines historischen Denkmals erhalten. Insbesondere das Haus von Kaidanow. Dann schrieb ich über meinen Großvater und seine beiden Brüder, und dann fesselte mich die Idee des „Chronoscope“-Projekts, und Wjatscheslaw und Pawel, die Gründer des Projekts, ließen mich auch nicht los.
Mein Vater ist unser „Berater“, er liest gerne unsere Materialien und hilft, sie zu verfassen. Meine ersten Artikel sind reine Familienforschung.
Dann wurde das Arbeitsfeld breiter, das heißt, es tauchten Themen auf, die sich auf die Stadt bezogen.
Ist Ihr Projekt von der historischen Fachwelt schon irgendwie gemerkt oder gar ausgezeichnet worden?
Wir haben uns nie selbst gelobt, und unsere Leser werden uns darüber nicht lügen lassen, aber die Russische Historische Gesellschaft hat lange, wie sie sagen, „ein Auge auf uns geworfen“. Professionelle Historiker waren angenehm überrascht von dem Niveau unserer Forschung, unserem Thema, unserem Arbeitsansatz und unserer Fokussierung auf den Leser. Ende Oktober 2022 veranstaltete die Gesellschaft in Weliki Nowgorod einen traditionellen Wettbewerb und ein Festival der Lokalhistoriker. Wir wurden eingeladen, den Festivalteilnehmern von dem Projekt zu erzählen, unsere Erfahrungen zu teilen, wie wir Informationsquellen finden und mit ihnen arbeiten. Um sozusagen einige Geheimnisse unserer „Küche“ zu enthüllen. Während der Präsentation haben wir nicht nur die Arbeitsmethoden von „Chronoscope“ thematisiert, sondern es auch geschafft, die Festivalteilnehmer, die übrigens von Brest bis Jamal kommen, ein wenig mit unserer Stadt bekannt zu machen.
„Chronoscope“-Autoren auf der Konferenz in Weliki Nowgorod
Фото: Aus dem Personalarchiv von Michail Woronkow
Wir werden zu verschiedenen Veranstaltungen eingeladen, hauptsächlich in Klinzy und Brjansk. Neulich war Wjatscheslaw Fjodorow bei einem Treffen mit Schulkindern von Klinzy. Die besten Geschichtsstudenten bereiteten ihre Projekte vor, und „Chronoscope“-Vertreter wurden als Referenten eingeladen. Wjatscheslaw zeigte den Schulkindern an plakativen Beispielen, dass durch solche Projekte die Geschichte beginnt ihre Geheimnisse zu enthüllen. Wir wurden auch zum Brjansker Fernsehen eingeladen. Im Fernsehen kamen ziemlich gute Berichte über die Geschichte von Klinzy heraus.
Was sind Ihre Pläne für die nahe Zukunft?
Pläne - weiter zu arbeiten, Artikel zu veröffentlichen.
Es wäre toll, ein Buch zu veröffentlichen, davon träumen wir schon lange.
Wir haben genug Material: mehr als 130 Artikel mit 3-4 Drucktextseiten, etwa 1000 Fotos (Dokumente, Scans von Zeitungsartikeln, persönliche Fotos usw.). Es gibt genug Material für mehrere Bände, aber dazu müssen wir noch kommen.
Möchten Sie die Leser von RusDeutsch, unter denen sich vielleicht Russlanddeutsche befinden, deren Familiengeschichte auch mit Klinzy und der Region Brjansk verbunden ist, etwas mitteilen?
In Anbetracht dessen, dass Ihr Portal auf die Berichterstattung über die Geschichte der Russlanddeutschen spezialisiert ist, möchten wir uns mit einem Kooperationsvorschlag an Ihre Leser wenden. Vielleicht hat jemand Dokumente, Fotos oder Erinnerungen an die Kolonisten von Nowyje Meseritschi. Wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie diese Materialien an die E-Mail-Adresse chronoscop32@mail.ru senden würden.
Geschichte ist, wie man sagt, ein spezifisches Produkt für einen Amateur. Aber das „Chronoscope“-Projekt zeigte seine Realisierbarkeit. In kurzer Zeit begann man in Klinzy und Brjansk über uns zu sprechen. Manche begannen uns zu loben, zu kritisieren, manche zeigten sich etwa eifersüchtig. Dies zeigt, dass das Projekt interessant ist. Es lebt.
Lehrer der Stadt wandten sich an uns um Hilfe. Bibliotheken, Lokalradio, Zeitungen wollten zusammenarbeiten, wir sprachen im Fernsehen von Brjansk über unser Projekt. Das Interesse für die Geschichte der Stadt ist also vorhanden, es muss nur ordentlich eingeheizt werden.
Das Feedback unserer Leser spornt uns zum Weiterarbeiten, Suchen und Entdecken an.
In Zukunft wird es noch mehr Leser geben, dessen sind wir sicher. Lesen Sie „Chronoskope“. Spannende Geschichte wartet auf Sie!