Über Storytelling im Theater und die neue Generation: Interview mit Art-Labor-Referent Sergei Schtschedrin


Bereits heute, am 23. Mai, findet in St. Petersburg die Aufführung der Abschlussarbeiten der Teilnehmer des Art-Labors für zeitgenössische Kunstformen statt. Am Vorabend der Premiere möchten wir mit Ihnen ein Gespräch mit Sergei Schtschedrin, einem Schauspieler, Regisseur, Lehrer an der Hochkunstschule des Tschechow-Kunsttheaters in Moskau und Referent des Projekts, teilen.

Sergei, Sie nehmen oft an Kunstworkshops teil, bei denen Sie als Referent fungieren. Darüber hinaus „kombinieren“ Sie die „Rollen“ des Regisseurs und des Schauspielers. Aber in welcher von diesen drei Rollen fühlen Sie sich am wohlsten?

Ich habe zwei Diplome: Schauspiel und Regie. Aber jetzt beschäftige ich mich hauptsächlich mit Pädagogik. So ein Lebensabschnitt, in dem ich mich aktuell befinde.

Und ich mag es, weil es in der Pädagogik weniger Egoismus gibt.

Um meine Fähigkeiten aber nicht zu verlieren, trete ich weiterhin in Theaterstücken als Schauspieler auf. Aber ehrlich gesagt nur in denjenigen, die ich persönlich interessant finde. Und Ende Juli werde ich als Regisseur zu einem Projekt in dem belarussischen Brest gehen. So ein Theatermensch bin ich.

Beim Art-Labor sind Sie für die Richtung „Storytelling“ verantwortlich. Die Elemente dieser Methode bzw. des Phänomens sind mittlerweile in vielen Bereichen unseres Lebens präsent. Und was kann der Zuschauer von einer Theater-Performance im Genre „Storytelling“ erwarten?

Storytelling ist ein Wort, das ins Russische aus dem Englischen gekommen ist, obwohl das Phänomen selbst schon lange vor der Einführung dieses Begriffs existiert hatte. Zum Beispiel die Bachari im Alten Rus (Erzähler von Fabeln, Geschichten, Märchen usw., das Wort ist ein Archaismus in der modernen russischen Sprache – Anm. d. Red.). Mit meinen Kollegen und Freunden Alexei Rosin und Ilja Barabanow versuche ich hier heute, dieses Genre zu entwickeln.

Im Theater, wie im Leben, sind manche Menschen fähig, Geschichten zu erzählen, die anderen aber nicht. Und man muss dafür kein professioneller Schauspieler sein. Der Schauspieler interessiert sich für diese Methode aus der Sicht der Heldenanalyse. Zum Beispiel muss er Raskolnikow (Hauptfigur aus dem Roman „Schuld und Sühne“ von Fjodor Dostojewski – Anm. d. Red.) darstellen, und er übernimmt und erzählt die gesamte Rolle aus der dritten Person. Dadurch werden der Schauspieler und die Figur näher.

Der Zuschauer, der sich das Stück im Genre Storytelling anschaut, wird die Schönheit der Live-Kommunikation sehen, die in unserer Zeit verschwindet. Hier gibt es keine Kulisse, nur einen menschlichen Geschichtenerzähler. Es ist wie ein Film ohne Kino.

Es hört sich als eine One-Man-Show an, nicht wahr?

Im Wesentlichen ja. Obwohl Sie es auch zu zweit oder zu dritt machen können. Praktisch ist, dass solche Aufführungen aus budgetärer Sicht keine großen Ausgaben erfordern. Sie können in die Bibliothek, zur Schule – ja, überall hinkommen. Nur der Erzähler zählt.

Wenn ich erzähle und Sie sich vorstellen, was ich erzähle, dann wird das Kino in Wirklichkeit so aussehen.

Ich nenne gerne ein Beispiel aus meiner Jugend und dem Ende der 1980er – damals erschienen Videosalons, aber nicht jeder hatte Geld, um sie zu besuchen. Die Glücklichen kamen nach den Filmvorführungen auf den Hof und sprachen über den Film. Das ist auch Storytelling.

Wie in jeder Geschichte gibt es einen Helden mit bestimmten Werten. Wir sehen ihn am Anfang, dann geht er einen bestimmten Weg, trifft durch Hindernisse auf einen Lehrer oder ein Artefakt und erlangt am Ausgang andere Werte. Es ist großartig, wenn diese bei Ihnen auch Anklang finden. Schließlich sind Sie in der Regel die Hauptfigur.

Für unsere Vorstellungskraft macht es keinen Unterschied, ob etwas tatsächlich passiert oder nicht. Das menschliche Gehirn nimmt alles als Realität wahr.

Das heißt, das Genre des Storytelling ist etwa dem Playback-Theater ähnlich (Improvisationstheater, bei dem das Publikum Geschichten über sich selbst erzählt und die Schauspieler sie sofort auf der Bühne nachspielen – Anm. d. Red.)?

Ja, nur dort spielt man eine reale Situation, aber hier erlebt man ein Märchen. Alles ist wie in der Kindheit. Wir haben den Kindern nicht umsonst Geschichten erzählt. Kinder erfassen die Bedeutung des Märchens, auch wenn sie sich dessen nicht ganz bewusst sind.

Oft verstehen Menschen zeitgenössische Kunst nicht. Aber wenn man einen Rundgang durch die Galerie mit einem Führer machen und verschiedene „Werkzeuge“ zum Studium der Ausstellung finden kann, was macht man dann mit modernen experimentellen Stücken im Theater? Wie gewöhnt man sich daran?

Mein Lehrer, Dmitri Brusnikin, sagte, dass man dafür einfach offen sein muss. Vom ersten Jahr an haben wir für unsere Studenten eine solche Praxis eingeführt – das Ansehen komplizierter Filme. Sie kamen jeden Sonntag an ihrem freien Tag nach Hause und schauten sich zwei schwierige Filme an. Und sie haben es nicht verstanden...

Aber solche Dinge kommen auf einer unbewussten Ebene in uns hinein.

Wenn wir etwas nicht verstehen, entsteht Ärger. Wenn Sie diese Emotion ausschalten, sich sagen: „Ja, ich verstehe nichts“ und den Humor einschalten, dann kommen Sie langsam in den Prozess.

Für mich war es auch schwierig, weil ich in einem eher konservativen Theater gearbeitet habe. Aber das ist nur eine Frage der Selbstentwicklung. Zeitgenössische Kunst wird nirgendwo verschwinden, nur Menschen werden vergessen. Und um einen neuen Tschechow jetzt „zu entdecken“, ist es notwendig, zeitgenössische Dramatiker zu inszenieren. Ja, 95 Prozent sind Unterhaltung. Doch um diese „fünf Prozent von Tschechows“ zu finden, muss man offen für Neues sein.

Sergei, da wir über Offenheit gegenüber Neuem sprechen, sagen Sie, was lernen Sie von Ihren Schülern? Und wie wichtig es ist, in Ihren Überzeugungen nicht starr zu werden?

Manchmal scherze ich: „Wir geben ihnen Erfahrung, und sie geben uns Jugend.“ Aber dank ihnen bleibe ich wirklich länger jung und lerne von ihnen moderne Codes.

Kunst ist eine Art assoziative und intellektuell-emotionale Ressourcen. Um relevant und modern zu sein, können Sie durch die jüngere Generation neue Trends kennenlernen.

Die neue Musik beispielsweise lerne ich durch Schüler kennen. Es ist klar, dass die Grundlage Stanislawski-Lehre (Konstantin Stanislawski war der große russische Theaterregisseur und -reformer, der eine eigene Methode, „Das innere Erleben der Rolle“, entwickelte – Anm. d. Red.) ist, aber wir versuchen, den Studierenden den gesamten Wissensschatz zu vermitteln, damit sie auf dem Markt wettbewerbsfähig sind. Ja, und Stanislawski selbst sagte, dass sich das System abhängig davon ändern sollte, was außerhalb des Fensters passiert.

Was sehen Sie als Ergebnis Ihrer Teilnahme am Art-Labor?

Ich habe eine humanitäre Aufgabe – dass möglichst viele Menschen in Russland etwas über Storytelling lernen. Jeden Tag werden wir mit den Teilnehmern über die Skriptgrundlagen dieses Genres sprechen. Ich möchte, dass die Jungs verstehen, wie man das macht, und dann in ihre Städte kommen und versuchen, ihre eigene Stücke zu inszenieren. Soweit ich die Themen der künstlerischen Aufgaben der Teilnehmer verstehe, handelt es sich dabei ausschließlich um berühmte russlanddeutsche Persönlichkeiten.

Es ist großartig, wenn dann das Projekt zu einem Theaterstück wird. Generell möchte ich, dass sich Menschen mit Storytelling „anstecken“ und weiterhin Geschichten erzählen.


Wir erinnern Sie daran, dass Sie die Abschlussshow am 23. Mai um 19:00 Uhr in St. Petersburg besuchen können. Der Eintritt ist für alle frei, eine Voranmeldung ist erforderlich.

Die Veranstaltung wird mit Unterstützung des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur im Rahmen des Unterstützungsprogramm für Russlanddeutsche durchgeführt.

Rubriken: Eliteförderung/AvantgardeInterview