Bogorodizk – die Stadt der deutschen Bräute


Die Aktivisten von Jugendklubs und -verbänden der Zentral- und Nordwestregionen Russlands sowie die Teilnehmenden eines Arbeitstreffens zur Ahnenforschung besuchten die Senioren von Bogorodizk.

Nach ihrer Ankunft in der von Katharina der Großen gegründeten Stadt führte die gebürtige Bogorodizkerin Alexandra Zilkowskaja die Teilnehmenden auf Deutsch zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten.

Die Reise endete im Begegnungszentrum der Russlanddeutschen von Bogorodizk, wo die Gäste von den Senioren der National-Kulturellen Autonomie unter der Leitung von Ljudmila Besborodowa (Gerber) empfangen wurden. Die stolze Autonomie beherbergt ein kleines, aber äußerst reichhaltiges Museum, welches das Wohnzimmer russlanddeutscher Trudarmisten aus der Nachkriegszeit originalgetreu nachbildet. Während des Großen Vaterländischen Krieges wurden Deutsche aus dem Wolgagebiet und anderen großen Siedlungen der Sowjetunion deportiert und im Winter 1942 zur Zwangsarbeit beim Wiederaufbau der von den Nationalsozialisten zerstörten Bergwerke der Kohlegrube in der Umgebung Moskaus verpflichtet. Sie wurden in Baracken mit zwei- oder dreistöckigen Bettgestellen untergebracht, bevor die Familien erst in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren getrennte Unterkünfte erhielten.

Im kleinen Museumsraum befindet sich ein geschnitztes Holzsofa, das von dem Trudarmisten Heinrich Becker angefertigt wurde. Seine Tochter Alma Sanina stiftete dieses einzigartige Möbelstück dem Museum. Außerdem sind eine Familientruhe der Schwestern Gilda Folmer und Viktoria Kotysch (geborene Schemberg) sowie einfaches Kinderspielzeug aus den fünfziger Jahren, Küchenutensilien und Kleidung ausgestellt.

Das Museum wurde im Sommer 2016 gegründet. Die Kinder der Bergarbeiter folgten dem Aufruf, Exponate zu sammeln. Aktivisten der National-Kulturellen Autonomie in Bogorodizk durchstreiften die Bergbausiedlungen mit Lastwagen und sammelten Möbel, Geschirr und Werkzeuge ein, die von den Besitzern aus Kellern, Dachböden und Schuppen geholt wurden. Seitdem ist die Sammlung erheblich gewachsen. Mit Stolz öffnet Ljudmila Besborodowa die Truhe der Familie Schemberg und holt mit nationalen Stickereien verzierte Handtücher und Schürzen sowie aus Stoffresten gefertigte Teppiche und Vorhänge heraus.

Eine separate, kompakte Ausstellung widmet sich den Werkzeugen der Bergarbeiter: einem Pickel, einer Schaufel, einer primitiven Gaslaterne und einem Helm. In den Bergwerken wurde alles von Hand erledigt. Die Bergarbeiter schlugen die Kohle heraus, luden sie mit Schaufeln auf und schoben die schweren Waggons über die Schienen.

Ein besonders bedeutendes Exponat ist ein Modell, das von den Senioren selbst gebaut wurde. Das Modell zeigt eine mit Stacheldraht umzäunte Baracke, den Eingang zum Bergwerk und ein Fragment des Gleises, auf dem die Trudarmisten die Waggons mit Kohle ausrollten.

Nach einem ausführlichen Rundgang durch das Museum wurden die Teilnehmenden von den Senioren zum Teetrinken eingeladen. Nadeschda Pindrus, die Großmutter von Oksana Koslowa, der Exekutivdirektorin der deutschen National-Kulturellen Autonomie des Gebietes Tula, brachte Kuchenspezialitäten nach alten Rezepten auf den Tisch.

„Wir sind alle bei unserer Oma in der Lehre“, sagt Oksana Koslowa.

„Das Backen von Kuchen ist eine Familiensache! Meine Großmutter ist für alles zuständig, und sie hat dieses Jahr ihren 97. Geburtstag gefeiert.“

Die Teilnehmerinnen des Arbeitstreffens konnten ihre Bewunderung nicht verbergen, als Tamara Katschanowa (Guber) einen traditionellen Brautkranz präsentierte.

„Mein Traum ist endlich wahr geworden“, rief Polina Koslowa, Vorsitzende des Jugendklubs „Erfolg.rd“ in Tula.

„Ich wollte schon lange lernen, wie man einen traditionellen Hochzeitskranz für eine russlanddeutsche Frau herstellt! Im Rahmen des Projekts in Sankt Petersburg haben wir sogar einen Zeichentrickfilm gedreht, dessen Hauptfigur genau ein solcher Hochzeitskranz war.“

Es herrschte reges Treiben: Unter der sorgfältigen Anleitung von Tamara Katschanowa bogen die Teilnehmerinnen Blütenblätter aus Draht, füllten sie mit Watte und tauchten sie in geschmolzenes Wachs. Nach den Handarbeiten folgten angeregte Gespräche.

„Unsere Frauen sind alle großartige Kunsthandwerkerinnen“, sagt Ljudmila Besborodowa, Leiterin der National-Kulturellen Autonomie in Bogorodizk und Initiatorin des Museumsraum-Projekts.

„Die Mütter von Lina Morosowa (Fitterer) und Nina Jefremowa (Seifert) haben auch Blumen hergestellt. Allerdings waren es keine Hochzeitsblumen, sondern Trauerblumen... In der Vergangenheit kam es zu Überschwemmungen in unseren Bergwerken, wodurch es oft zu Brüchen kam.

Bei einem Bruch liefen alle Frauen über das Feld zum Bergwerk und wir Kinder folgten ihnen... Viele Bergarbeiter verloren ihr Leben... Lidia Fitterer und Maria Seifert fertigten damals tagelang Trauerkränze an, um alles für die Beerdigung vorzubereiten. Noch heute erinnern wir uns mit Tränen daran.“

„Und unsere Maria Seifert ist eine legendäre Persönlichkeit“, fährt Ljudmila Besborodowa fort. „Sie ist die Heldin des Dokumentarfilms ‚Die Unbeugsamen‘“.

In diesem Jahr ist sie 97 Jahre alt geworden! Sie ist eine lebende Zeugin der Geschichte der Russlanddeutschen.

Ihre Familie wurde aus dem Wolgagebiet vertrieben und nach Sibirien deportiert. Ihre Eltern wurden zur Arbeitsarmee eingezogen, während Maria mit ihren zwei kleinen Schwestern allein in einem fremden Haus in einem abgelegenen Dorf zurückgelassen wurde. Sie versteckte sich vor den Wölfen in der Taiga auf einem Baum und wurde mit Schnee bedeckt, als sie betteln ging, um ihre kleinen Schwestern zu ernähren... Später wurde auch sie zur Arbeitsarmee eingezogen... Nach dem Krieg begann sich ihr Leben langsam zu verbessern, als sie zu ihrem Bergmannsvater nach Bogorodizk zog, heiratete und ihre Kinder großzog... Doch das Schicksal schlug erneut zu: Ihr Mann starb auf tragische Weise und Maria Seifert blieb als junge Witwe mit sechs kleinen Kindern zurück. Sie hat all ihre Kinder allein großgezogen! Ihre Töchter sind heute unsere Aktivistinnen, meine Helferinnen.“

„Meine Reise nach Bogorodizk hat mir außergewöhnliche Eindrücke beschert“, sagt Oksana Besnosowa, Kandidatin der Historischen Wissenschaften und Referentin des Arbeitstreffens zur Ahnenforschung. „Ich hätte nie gedacht, dass ein kleiner Museumsraum eine solch reiche Ausstellung authentischer Gegenstände beherbergen kann! Als Ljudmila Besborodowa und Lina Morosowa die Truhe öffneten und begannen, die darin enthaltenen Stickereien zu zeigen, war ich erstaunt: ein Ruschnik (Anm. d. Übers.: dekoratives oder rituelles Tuch) in traditioneller deutscher Sticktechnik mit Einflüssen der russischen Stickerei. Natürlich würde eine so reiche Ausstellung einen größeren Raum benötigen. Doch in solch kleinen Räumen lebten einst große deutsche Familien nach der Entfernung des Stacheldrahts. Auch heute haben wir uns im Museum sehr beengt gefühlt. Dafür haben wir alle die Atmosphäre von damals spüren können.“

Die Reise nach Bogorodizk fand ihren Abschluss im Bahnhofsmuseum Schdanka, wo die Leiter und Aktivisten der Jugendklubs und -verbände mehr über die bedeutende Rolle erfuhren, die die Deutschen bei der Entwicklung des russischen Verkehrssystems gespielt haben.

Übersetzt aus dem Russischen von Evelyn Ruge

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