„Keine Zukunft ohne Vergangenheit“: Maria Becker über Leben, Familie und Kreativität


Im Rahmen der Annahme von Bewerbungen für den gesamtrussischen Wettbewerb „Freunde der deutschen Sprache“ hatte das Portal RusDeutsch die Gelegenheit, mit Maria Becker zu sprechen. Sie ist nicht nur Mitglied der Jury in der Nominierung für Jugendliche (Subnominierung „Volkslied-Cover“), sondern auch Lehrerin für klassische Gitarre und Koordinatorin der Jugendarbeit im musikalischen und kreativen Bereich des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur (Künstlervereinigung der Russlanddeutschen). Zudem war sie von 2018 bis 2022 Vorsitzende des Jugendclubs der Russlanddeutschen „RuDeKinder“ in Kaliningrad und gehörte von 2019 bis 2023 dem Rat des Jugendrings der Russlanddeutschen an. In unserem Gespräch teilte Maria ihre Familiengeschichten, persönliche Erfahrungen mit Wettbewerben, Familientraditionen sowie ihre Quellen der Inspiration.

Maria, Du bist vielen in der Kreativ- und Jugendszene als äußerst talentierte Persönlichkeit bekannt, die eine enge Verbindung zur Musik pflegt. Wo und wie fand deine Leidenschaft für die Musik ihren Ursprung?

Ich wurde im Stadtkreis Suetski in der Altai-Region geboren. Als ich drei Jahre alt war, zog meine Familie in das Gebiet Kaliningrad, wo wir seit vielen Jahren verwurzelt sind. In unserer Familie sind wir insgesamt vier Geschwister. Unsere Mutter hat viel durchgemacht, dabei jedoch nie die schönen Dinge des Lebens aus den Augen verloren – wie das Zeichnen. Sie träumte davon, Künstlerin zu werden, und verfasst bis heute Gedichte. Mit ihrer Leidenschaft für Kunst und Schönheit hat sie uns stets inspiriert. Ein besonderer Traum von ihr war es, dass eines ihrer Kinder Gitarre spielen würde – und dieses Kind war ich. Sie erzählte mir, dass sie in Kirgisistan, wo sie zuvor lebten, eine Gitarre kaufte und sich wünschte, dass einer von uns darauf spielt. Leider wurde meine mittlere Schwester aufgrund ihres „hohen“ Alters von zwölf Jahren nicht in die Musikschule aufgenommen, aber mich haben sie mit acht Jahren angenommen. Meine Mutter belegte an dieser Musikschule zum ersten Mal einen Deutschkurs bei der evangelisch-lutherischen Kirche. Dort gab es auch einen Literaturklub, und im Gebäude der Musikschule fanden verschiedene Veranstaltungen wie Literaturabende statt, an denen meine Mutter und ich gemeinsam teilnahmen.

Ich habe selbst einige Gedichte verfasst, die in der Lokalzeitung „Sa doblestny trud“ (dt.: Für heldenmütige Arbeit) veröffentlicht wurden. Diese Zeitung erscheint bis heute, und wir haben mehrere Exemplare erworben, um sie als Erinnerungen in unserem Familienarchiv aufzubewahren. Meine Mutter war viele Jahre lang Mitglied des Kirchenchors. Unser Zuhause befindet sich 120 Kilometer von Kaliningrad entfernt in der Stadt Gusew, die eine wunderschöne Salzburger Kirche beherbergt. Seit vielen Jahren ist meine Mutter Teil dieser Gemeinde und hat zusammen mit anderen Mitgliedern an verschiedenen Reisen in Deutschland teilgenommen. Ich selbst durfte im Kinderchor singen.

Es zeigt sich, dass Du durch Deine Mutter in einem lebendigen und kreativen Umfeld aufgewachsen bist, das von Zeichnen, Musik, Literaturklubs und dem Gesang im Chor geprägt ist. Mich interessiert, welchen Beruf deine Mutter ausgeübt hat.

Meine Mutter ist von Beruf Druckerin und hat als Schriftsetzerin in einer Druckerei gearbeitet. Ihre Aufgabe bestand darin, jeden einzelnen Buchstaben sorgfältig von Hand auszuwählen – eine äußerst anspruchsvolle Tätigkeit, was nicht nur Konzentration erforderte, sondern auch im Stehen ausgeführt wurde. Der Raum war stets von dem charakteristischen Geruch des Masuts durchzogen. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich nach der Schule oft zu ihr zur Arbeit ging; der Anblick der Druckmaschinen und der unverwechselbare Geruch sind mir bis heute lebhaft im Gedächtnis geblieben – er war fast greifbar, wie Eisen auf meiner Zunge. Aufgrund der gefährlichen Arbeitsbedingungen ging sie frühzeitig in den Ruhestand. Zuvor hatte sie als Dozentin für Druckereiwesen in Kirgisistan gearbeitet. Es gibt viele Fotos von ihren Abschlussfeiern zu Hause. Vor allem Mädchen lernten unter ihrer Anleitung, Bücher zu drucken. Wir haben einen ganzen Stapel dieser kleinen Bücher zu Hause, die in die Handfläche passen. Und diese Bücher mit verschiedenen Mustern wurden von ihren Studentinnen unter ihrer Anleitung gedruckt.

Du hast eine große Familie. Mich interessiert, was die anderen Familienmitglieder so machen? Welche Traditionen pflegt Ihr in eurem Familienkreis?

In unserer Familie sind wir vier Geschwister: mein älterer Bruder Dima, meine ältere Schwester Natascha, meine mittlere Schwester Lera und ich, die jüngste. Dima arbeitet als Bauarbeiter und beherrscht eine Vielzahl von Fähigkeiten – er kann nicht nur einen Motor reparieren, sondern auch eine Kuh melken und ein Haus bauen. Natascha ist Buchhalterin, während Lera ebenfalls im Bereich der Wirtschaftsbuchhaltung tätig ist.

An allen Familienfeiertagen kommen wir zusammen. Weihnachten wird gleich zweimal begangen, und auch Ostern ist für uns ein unverzichtbares Fest, das wir ebenfalls doppelt feiern. Meine Mutter wurde orthodox getauft – das waren noch Zeiten – während meine Großmutter Lutheranerin war. So haben sich in unserer Familie verschiedene Traditionen und Feiertage entwickelt. Das Erntedankfest war stets ein fester Bestandteil unseres Familienlebens. Ich erinnere mich noch gut daran, wie meine Mutter und ich zur Kirche gingen, um all das Gemüse, das wir aus unserem Garten geerntet hatten, zum Altar zu bringen.

Welche nationalen Gerichte kocht Ihr an den Feiertagen? Gibt es besondere Lieblingsgerichte?

Meine Mutter erinnert sich mit großer Dankbarkeit und Liebe an die Schnitzsuppe, eine süße Köstlichkeit, die in ihrer Familie schon immer zubereitet wurde. Sie sagt jedoch, dass sie diese wunderbare „Kompottsuppe“ nicht so recht nachkochen kann. Auch das Backen von Strudel gehört zu unseren Traditionen, ebenso wie das Zubereiten von Fleisch, gedünstetem Kraut und Fleisch eingewickelt in Teig. Zu Ostern oder anlässlich des Geburtstags meiner Großmutter, die seit zehn Jahren nicht mehr bei uns ist, backt Mama immer noch Kuchen. Wir besuchen dann den Friedhof und bringen ihr den Kuchen. Es gibt viele nationale Gerichte.

Die Geschichten der russlanddeutschen Familien weisen zahlreiche Gemeinsamkeiten auf – gleichzeitig ist jede Geschichte einzigartig. Kennst Du Deine eigene Geschichte? Weißt Du, woher Deine Wurzeln stammen?

Die Geschichte meiner Großmutter ist besonders schwierig. Sie erlebte den Krieg, verlor ihre Mutter und hatte eine Stiefmutter, die sie nicht liebte. Um endlich aus dieser unglücklichen Situation zu entkommen, heiratete sie nur drei Tage nach dem Kennenlernen ihres Mannes. Daraufhin bekamen sie drei Kinder. Die Namen meiner Urgroßeltern sind Emilia Kanzler und Karl Miller; sie stammten aus dem Kanton Frank in der Wolgaregion.

Welche drei charakteristischen Eigenschaften würdest Du nennen, die Deine Familie besonders prägen?

Der Zusammenhalt. Wir sind stets füreinander da und unterstützen uns gegenseitig. Wenn jemand in Not ist, spielt es keine Rolle, ob der andere am anderen Ende der Stadt oder sogar am anderen Ende der Welt lebt – wir kommen zusammen, um zu helfen. Darüber hinaus zeichnet uns eine tiefe Liebe zueinander und zu unseren Mitmenschen aus.

Du warst die Vorsitzende des Jugendclubs der Russlanddeutschen „RuDeKinder“ in Kaliningrad. Was ist das eindrucksvollste Erlebnis, das Du aus Deiner Zeit im Club und Deinen Tätigkeiten dort mit uns teilen kannst?

Es war eine wunderbare Zeit, die ich im Kreis von Gleichgesinnten verbringen durfte. Wir bildeten ein eingespieltes Team, dessen Mitglieder unersetzlich waren. Wir hatten einen eigenen Videografen; Leute, die schöne und informative Texte geschrieben haben; Annimateure, ohne die keine Veranstaltung auskommen konnte; Ehrenamtler und Helfer. Gemeinsam agierten wir wie eine kleine Familie, setzten ständig Projekte um und reisten zu verschiedenen Zielen. Oft versammelten wir uns bei mir zu Hause in Gusew, wo wir Grillabende veranstalteten und die Natur sowie die Gesellschaft des anderen genossen. Leider hat das Schicksal uns in verschiedene Länder verstreut. Doch nun steht ein neues Team bereit, geleitet von Regina Schäfer, einer äußerst aktiven Frau, die jedes Projekt mit Bravour meistert.

Hast Du am Wettbewerb „Freunde der deutschen Sprache“ oder an anderen kreativen Wettbewerben teilgenommen?

Ich selbst habe nicht am Wettbewerb „Freunde der deutschen Sprache“ teilgenommen, jedoch haben Bekannte von mir daran mitgewirkt und sind durch diesen Wettbewerb zur Jugendbewegung der Russlanddeutschen gelangt.

Zu meiner Zeit nahm ich an verschiedenen Wettbewerben teil, darunter auch solche mit deutscher Ausrichtung. Es gibt die Sammlung „Gumbinner Heimatbrief“, die von ehemaligen Bewohnern Ostpreußens, die in der Stadt Gumbinnen (heute Stadt Gusew) lebten, ins Leben gerufen wurde. Diese Menschen hielten ihre Erinnerungen fest und bereicherten die Sammlung mit Fotos aus ihren persönlichen Archiven. Eines Tages organisierten die Herausgeber dieses Almanachs einen Wettbewerb, die dem es darum ging, einen Aufsatz zum Thema „Deine Heimat – meine Heimat“ zu verfassen. Ich belegte den dritten Platz. Ich erinnere mich an den feierlichen Moment während des Tages der Stadt, als ich mit einer Absolventenschärpe dastand und eine Auszeichnung erhielt. In dieser zweisprachigen Sammlung fand mein Aufsatz seinen Platz, in dem ich betonte, dass wir ohne die Vergangenheit keine Zukunft haben. Viele Jahre später arbeiteten meine Mutter und ich im Gemüsegarten, als plötzlich ein Anruf von der Kirche kam. Man teilte meiner Mutter mit: „Larissa, deine Tochter wird gesucht. Eine Gruppe von Touristen ist angekommen und sucht nach ihr“. Gemeinsam mit meiner Mutter fuhr ich mit dem Bus ins Zentrum, und als wir uns dem Hotel näherten, bemerkten wir mehrere Deutsche, die dort standen. Eine Frau ergriff meine Hand und sagte: „Kommen Sie mit mir“. Sie führte mich ins Hotel und überreichte mir einen Almanach, in dem mein Aufsatz abgedruckt war. Am Rand der Seiten, auf denen ich erzählte, was mein Bruder und ich bei unserem Umzug nach Gusew auf unserem Grundstück entdeckten und wie die Straßen hießen, in denen wir einst lebten, hatte sie handschriftliche Markierungen hinterlassen. Früher lebten wir in einem musikalischen Dorf; unsere Straße war die Beethovenstraße, direkt neben der Mozartstraße. Diese Frau stellte sich als jemand heraus, der aus dieser Gegend stammte und nun zurückgekehrt war, um ihre kleine Heimat zu besuchen. Als Geschenk brachte sie mir Ausschnitte aus Magazinen und Zeitungen mit, die von ihrer Mutter gestaltet worden waren. Darin fanden sich Beschriftungen auf Deutsch, die erzählten, in welchen Geschäften ihre Mutter einkaufte und wo sie gerne spazieren ging. Sie erwähnte, dass ihre eigenen Kinder kein Interesse daran hätten, und schenkte mir diese Erinnerungsstücke. Ich bewahre sie bis heute auf und denke darüber nach, sie eines Tages unserem Museum in Gusew zu übergeben.

Die Teilnahme an Wettbewerben ist alles andere als einfach. Es erfordert einen langen Weg von der Idee bis zur finalen Umsetzung. Doch auch die Bewertung der eingereichten Beiträge stellt eine herausfordernde und verantwortungsvolle Aufgabe dar. Was denkst Du, ist der schwierigste Aspekt der Arbeit einer Jury? Welche Ratschläge würdest Du künftigen Teilnehmenden für die Vorbereitung ihrer Arbeiten mit auf den Weg geben?

Die Auswahl der besten Arbeiten gestaltet sich stets als eine herausfordernde Aufgabe, denn die jungen Talente zeichnen sich durch bemerkenswerte Begabungen aus. Jeder strebt danach, die ersten Plätze zu belegen und verfolgt dabei unterschiedliche Wege, um ihre Ideen zum Leben zu erwecken und bahnbrechende Ergebnisse zu erzielen. Während einige auf moderne Technologien setzen, beziehen andere ihre Großeltern und Urgroßeltern in den kreativen Prozess ein und schaffen so Meisterwerke, die auch im Bereich der Folklore strahlen.

Es ist von großer Bedeutung, keine Angst zu haben. Das wertvollste Geschenk, das jeder Teilnehmende empfangen kann, ist die Erfahrung, die ihn auf seinem Weg voranbringen wird. Ich bin überzeugt, dass dieser Wettbewerb für viele eine hervorragende Gelegenheit darstellt, neue Fähigkeiten zu entwickeln und für einige sogar die Möglichkeit bietet, bereits vorhandene Talente weiter auszubauen. Ich wünsche allen Teilnehmenden kreative Inspiration. Mögen sie ihre Wurzeln nie vergessen und das kulturelle Erbe unserer Großeltern bewahren. Glaubt an euch selbst!

Die Annahme von Bewerbungen für die Teilnahme am Wettbewerb „Freunde der deutschen Sprache“ geht bis zum 6. Oktober. Der gesamtrussische Wettbewerb „Freunde der deutschen Sprache“ zielt darauf ab, das Erlernen der deutschen Sprache zu popularisieren und die ethnokulturellen Traditionen der Russlanddeutschen zu bewahren. An dem Wettbewerb können Menschen jeden Alters und jeden Sprachniveaus teilnehmen. Der Organisator des Wettbewerbs ist der Internationale Verband der deutschen Kultur. Mehr Infos auf der offiziellen Website. Bevor Sie Ihre Bewerbung abgeben, lesen Sie unbedingt die Wettbewerbsordnung!

Übersetzt aus dem Russischen von Evelyn Ruge

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