Andrej Kowsel, Verdienter Schauspieler Russlands sowie Hauptdarsteller des Schauspielhauses in Nowokusnezk, ist ein Mann der Improvisation, „ein Magier des Bühnenzaubers“, „ein talentierter Leiter des Regiekonzepts“ und „der Autor jeder Rolle“. All das ist Andrej laut den Journalisten und Theaterkritikern. Jetzt ist er die Hauptrolle unseres neuen Interviews.
In den fast 30 Jahren seiner Theaterkarriere spielte Andrej Kowsel Dutzende Rollen auf der Bühne, sowohl positive als auch negative, von den Klassikern von Shakespeare, Tschechow und Puschkin bis hin zu experimentellen Rollen des zeitgenössischen Dramas.
Der Theaterschauspieler wurde bei großen Festivals ausgezeichnet und für den renommierten Theaterpreis „Goldene Maske“ nominiert. Auch in diesem Jahr wartet er auf die Ergebnisse dieses prestigeträchtigen Wettbewerbs. Andrej wurde für die „Goldene Maske“ für die Rolle des Macbeth nominiert, des Protagonisten von Shakespeares Stück, der die moralische Grenze überschreitet und vor den Augen des Publikums eine tiefgreifende Metamorphose durchmacht. Das Stück selbst wird in einer modernen Lesart inszeniert: als „Firmen-Silvesterfeier“ der 1990er-Jahre mit Videoaufnahmen, Morden auf der Leinwand und Zuschauern auf der Bühne.
Doch vor all diesen Errungenschaften begann Andrej Kowsel in seinen jungen Jahren mit der Rolle als Käfer und träumte eigentlich davon, ein Leser oder ein Käufer zu sein. Kürzlich vor dem Welttag des Theaters am 27. März hatten wir mit dem Schauspieler auf ironische, lockere und informative Art über seinen Werdegang, seine schwierigsten und liebsten Rollen und die Besonderheiten des deutschen Theaters gesprochen.
Außerdem sprachen wir darüber, wie man sich bei jeder Aufführung bis zu psychosomatischen Zuständen und 38,4 Grad Körpertemperatur in seine Rolle hineinversetzt. Warum darf man im Theater keine Sonnenblumenkerne essen? Wie sieht die Familie Kowsel aus, in der Mann und Frau Schauspieler sind und was machen ihre Kinder?
Andrej, Sie haben schon als Schüler im Theaterkurs mit der Schauspielerei begonnen. Erst später haben Sie sich dem Kindertheater „Junost“ (dt.: Jugend) und später der Haupttruppe des Dramatheaters angeschlossen. Erzählen Sie uns, was Ihre erste Rolle auf der Bühne war?
Ich werde am besten damit beginnen, warum ich überhaupt Schauspieler geworden bin. Als mir die Frage gestellt wurde: „Was willst du werden, wenn du groß bist?“, habe ich immer gesagt, dass ich ein Käufer oder ein Leser werden will. Meine Kreativität war grenzenlos (lacht).
Irgendwann beschloss ich, dass ich Schauspieler werden wollte, obwohl es dafür keine besonderen Voraussetzungen gab. Meine Mutter hat eine kurze Zeit als Kostümbildnerin im Theater gearbeitet und ich habe sie manchmal besucht. Vielleicht hat das ja mein Interesse am Theater geweckt.
Meine erste Rolle bekam ich, als ich dem Theaterkurs beitrat. Ich glaube, das war in der sechsten Klasse. Damals fragte Walentina Sisowa, meine erste Theaterregisseurin: „Wer will im Theater spielen?“ Nun, ich hob meine Hand. Ich war damals ein recht pummeliges Kind, außerdem hatte ich ein blaues Auge, denn ich stürzte am Tag zuvor beim Schlittenfahren. Und so nahm ich, ein kleiner Rabauke, am Theaterkurs teil.
Mir gefiel es dort sehr gut! Wir haben alles Mögliche gemacht, was ich nicht verstanden habe: Wir haben Reden geübt, Etüden gespielt, sind im Kreis gelaufen. Meine erste Rolle war ein Käfer. Es war das Märchen „Komm zurück...“ – entweder „...Preiselbeerchen“ oder „...Traurigkeit“. Ich habe nie von diesem Märchen gehört.
Nach einiger Zeit war ich im Theater „Junost“ im Schauspielhaus in Nowokusnezk tätig. Meine erste Rolle hier war die des Joe Harper in „Die Abenteuer des Tom Sawyer“. Er ist ein enger Freund der Hauptfigur und in diesem Stück fliehen die drei Freunde auf eine Insel. Ich war gerade ans Theater gekommen, der Regisseur sah mich und gab mir diese Rolle. Ich habe sie erfolgreich gemeistert.
Ihre Geschichte erweckt den Eindruck, dass alles wie von selbst und so einfach passiert ist.
Das ist ja auch so.
Ich bin ein Schauspieler, der nie davon geträumt hat, eine bestimmte Rolle zu spielen, und vielleicht ist mir deshalb alles leichtgefallen. Ich zum Beispiel habe nicht unbedingt davon geträumt, wie andere viele Schauspieler, Hamlet zu spielen, aber ich spielte diese Rolle.
Oder Treplew aus „Die Möwe“. Macbeth war das letzte Werk, mit dem ich nominiert wurde. All diese Rollen kommen irgendwie von selbst zu mir.
Aber jede Rolle, von der ich geträumt habe oder nicht, betrachte ich als etwas, das in mir vorgeht. Das bedeutet, dass ich für die Dauer der Proben zu dieser bestimmten Person werden muss. Die Rolle wird in mir lebendig.
Als wir „Iwanow“ (Anm. d. Red.: Anton Tschechows Stück) probten, schoss mein Blutdruck in die Höhe, etwas geschah gegen meinen Willen.
Oder eine andere Situation: Wir führten das Stück „Enthüllende Polaroid-Bilder“ auf. Mein Sohn war gerade geboren, ich war krank und lebte buchstäblich in der Küche, denn meine Frau und mein kleiner Sohn schliefen in unserem Schlafzimmer und meine Tochter im Kinderzimmer.
Ich besuchte Krankenhäuser, aber niemand konnte verstehen, was ich hatte. Ich hatte 38 Grad Fieber und mit diesem Fieber spielte ich letztendlich auf der Bühne. Und tatsächlich weigert sich meine Rolle in dem Stück, Medikamente zu nehmen und stirbt an Aids. Das heißt, ich hatte diese Psychosomatik der eigentlichen Rolle beim Premieren-Wettbewerb vor der Veröffentlichung des Stücks.
Bei jeder Aufführung – und es ging fast 11 Jahre lang – spielte ich mit 38,4 Grad Fieber. So hat sich mein Körper die Rolle gemerkt.
Handelt es sich bei dieser Aufführung um eine besondere Geschichte oder verschwimmt für Sie immer die Grenze zwischen „Ich“ und „das Kostüm und die Rolle, die ich spiele“?
Dieses Verschwimmen der Grenzen geschieht während der Proben, wenn die Rolle und ich uns angefreundet haben. Aber nach der Aufführung lege ich alles ganz leicht ab. Vor einiger Zeit habe ich mich sehr mitreißen lassen und alles mit mir mitgeschleppt. Das war nicht so gut.
Ich stimme mich gegen meinen Willen auf einen Auftritt ein.
Vor manchen Auftritten gehe ich hin und her und ärgere alle: Ich lache, ich ärgere die Leute auf eine gute Art, mit anderen Worten, ich lade mich mit Energie auf. Ich merke es selbst nicht einmal. Und vor manchen Auftritten bin ich schon morgens vollkommen in der Rolle. Ich erinnere mich zwar nicht bewusst daran, aber mein Gehirn merkt sich den Zeitplan, wann welche Vorstellung ist.
Wow, was für ein tiefes Eintauchen in die Rolle.
Ich hatte das schon als Kind. Wenn ich bei Leuten war, die Spaß haben, fing ich sofort an, auch Spaß zu haben, selbst wenn es mir schlecht ging. Das war schon immer eine Eigenart von mir. Diese Eigenart hat sogar eine Bezeichnung, aber ich weiß nicht mehr, wie es heißt.
Ich höre darin ein sehr hohes Maß an Empathie.
Ja, ja, ja, Empathie.
Im Zusammenhang mit dem, worüber Sie gerade gesprochen haben, wäre es interessant, nach dem Inneren zu fragen. Wie bereiten Sie sich auf ein Stück vor, wenn Sie eine neue Rolle bekommen? Wie läuft die Suche nach Ihrer Rolle ab? Wer ist sie und wie ist sie?
Wir lesen, machen uns mit dem Skript vertraut, der Regisseur gibt Anweisungen, und danach liegt es an mir, eine Verbindung mit der Rolle herzustellen. Wenn ich mit etwas nicht einverstanden bin, was selten vorkommt, schauspielere ich etwas Eigenes und beweise so, dass es richtig ist. Es kommt zu keiner Diskussion.
Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es keinen Sinn hat, mit einem Regisseur zu diskutieren. Man muss schauspielern, was er will, aber etwas Eigenes hinzufügen. Dann wird er zufrieden sein und sagen, dass ich es gut gemacht habe.
Es gibt Momente, in denen etwas einfach nicht klappt, aber dann öffnet sich so etwas wie eine Tür in dir. Man weiß nicht, wann es passiert. Vielleicht kommt es in einem Traum vor und man steht morgens auf und man denkt sich: „Oh, das ist es, ich hab's“. Wenn eine Probe stattfindet oder man ein anderes Stück spielt und dieser Prozess im Kopf abläuft, so lebt man die ganze Zeit mit dieser Rolle.
Zu der Zeit als wir „Golowlew“ probten, ging dauernd mein Fernseher zu Hause einfach an. Ich bin jede Nacht aufgewacht und dachte, ich würde von den Teufeln gejagt werden. Und ich kann nicht behaupten, dass ich ein besonders religiöser Mensch bin. Ich bin jedes Mal aufgewacht, als würde mich jemand geschlagen haben. All das geschieht gegen meinen Willen, ich habe nichts damit zu tun.
Es ist, als ob man ein offenes Portal ist, durch das etwas gesendet wird und sich in den Rollen manifestiert. Können Sie uns etwas über Ihre schwierigen Rollen in der Vorbereitung erzählen, die man nur schwer durchleben kann?
Nicht alle Rollen sind schwierig in der Vorbereitung. Aber am meisten schockierend war für mich wahrscheinlich die Rolle des Tim in dem Stück „Enthüllende Polaroid-Bilder“ im Jahr 2011. Er ist ein homosexueller Mann, der an Aids stirbt. Ich, der keine besonders puritanische Einstellung hat, dachte trotzdem: „Eigentlich würde ich echt ungern diese Rolle spielen“. Aber dann wurde mir klar, dass es in dem Stück eigentlich um Liebe geht. Darüber, dass wir Angst haben, dem Menschen, den wir wirklich lieben, „Ich liebe dich“ zu sagen. Über all das viele unwichtige Zeug in Beziehungen und dem Leben. Eigentlich ist es eine wirklich tolle Rolle! Und erst nachdem ich das verstanden habe, fühlte ich mich mit dieser Rolle verbunden.
Vielleicht hatte es auch etwas damit zu tun, dass Ilona gerade erst entbunden hatte (Anm. d. Red.: Ilona Litwinenko, die Frau von Andrej Kowsel). Ich hatte nicht viel Zeit, um mich mit der Rolle auseinander zu setzen, um mein eigenes Vorhaben zu beweisen. Ich kam zu den Proben und fragte, was ich in der Szene tun sollte. „Hier wirst du einen Wutanfall bekommen“, und ich antwortete einfach mit „Ok“. Ich habe alles geschauspielert: „Bin ich hier fertig?“, fragte ich. Der Regisseur bejahte und ich ging. Ich spürte lange Zeit keine Verbindung zu dieser Rolle, bis zu den Durchlaufproben, als ich mit Fieber auftrat. Erst da öffnete sich das Portal für mich. Mir wurde übrigens für diese Rolle ein Preis beim „Transit“ in Nowosibirsk verliehen (Anm. d. Red.: renommierter interregionaler Festival-Wettbewerb „Nowo-Sibirsker Transit“).
Das ist ja sehr kräftezehrend, sich so tief in eine Rolle hineinzuversetzen, dass sogar auf physiologischer Ebene die Körpertemperatur ansteigt. Wie macht man sich da nicht verrückt?
Deshalb schalte ich gleich nach der Vorstellung ab und werde ich selbst: Andrej Kowsel, der nach Hause und schlafen gehen muss. Natürlich kommt es vor, dass ich davon Kopfschmerzen bekomme, aber dann fange ich an zu scherzen und zu witzeln.
Aber warum sollte es als Schauspieler nicht „kräftezehrend“ sein? Abgesehen davon, dass Schauspieler kleine Egoisten sind, muss man für das Publikum da sein! Und wie soll ich in das Publikum eindringen und mit den Zuschauern die Energie austauschen, wenn ich meine nicht weitergebe? Deshalb kann es nur kräftezehrend sein. Wie du die Leute und deine Arbeit behandelst, so bekommst du es auch zurück.
Ja, ich bin völlig einverstanden mit dem gegenseitigen Energiefluss. Aber während ich Ihnen zugehört habe, habe ich mich gefragt, wie man durch all das nicht verrückt wird. Es gibt ja auch schwierige Rollen, zum Beispiel selbstmörderische und leidvolle. Und wie zieht man sinnbildlich eine Rolle aus und sperrt sie wie ein Kostüm im Kleiderschrank ein, so dass Sie sich selbst sagen: „jetzt bin ich Andrej und lebe MEIN Leben“?
Ich bin schon einmal gestorben, und ich weiß nicht einmal, in wie vielen Stücken genau! Deshalb habe ich auch keine Angst davor. Vor allem in Schereschewskijs Stücken sterbe ich während der Aufführungen, angefangen bei „Polaroid-Bilder“ bis hin zu den Stücken „Iwanow“ und „Golowlew“. Zum Glück lege ich mich dabei nie in einen Sarg, denn es gibt bei den Schauspielern ein Omen, dass man sich niemals in einen Sarg legen sollte.
Oh, es gibt ein solches Omen?
Ja, obwohl ich schon recht verrückt bin. Würde man mir sagen...
Das mit dem Aberglauben ist sehr interessant. Ich habe mehrere Jahre lang im Volkstheater gespielt und weiß aus dieser Erfahrung, dass Schauspieler sehr abergläubische Menschen sind. Wie abergläubisch sind Sie in der Theaterwelt? Und vielleicht können Sie einige Omen nennen, die es in Ihrem Theater gibt.
Ich bin nicht sehr abergläubisch. Aber ich lasse zum Beispiel kein Kostüm nähen, das ich gerade trage, bevor ich auf die Bühne gehe, es sei denn, es handelt sich um eine dringende Notwendigkeit. An was ich noch glaube? Ich esse keine Sonnenblumenkerne.
Was ist falsch an Sonnenblumenkernen?
Im Theater darf man keine Sonnenblumenkerne essen, denn ansonsten geht das Publikum verloren. Der wichtigste Aberglaube, dem ich folge ist, wenn man bei der Probe sein Skript fallen lässt, so muss man sich darauf setzen und ihn mit dem Hintern hochheben. Das ist ein bewährter Aberglaube, da führt kein Weg dran vorbei.
Ist das bei professionellen Schauspielern auch so? Ich dachte, das wäre nur bei uns im Liebhabertheater so.
Das ist absolut bei allen so! Alle Schauspieler bücken sich und heben es auf, egal wie alt oder wie gut gebaut man ist.
Es gibt auch Schauspieler, die auf der Bühne nach Nägeln suchen: Das ist so, als würde man eine Rolle gefunden haben. Wenn es ein kleiner Nagel ist, ist es eine kleine Rolle. Ein großer Nagel bedeutet eine große Rolle. Wenn ich welche finde, gebe ich sie den Leuten zurück, die sie hinterlassen haben, also den Bühnenhandwerkern. Aber wenn ich die Straße entlang gehe und eine schwarze Katze meinen Weg kreuzt, nehme ich einen Knopf in die Hand und gehe rückwärts an dieser Stelle vorbei.
Als ich im Internet über Sie las, fand ich viele begeisterte Worte von Kritikern und vom Publikum gleichermaßen. Besonders beeindruckt hat mich der Satz, dass Sie ein Schauspieler sind, der „die Geheimnisse der Schauspielkunst mit der Leistungsfähigkeit“ verbindet. Also das Talent und harte Arbeit. Was ist Ihrer Meinung nach das Geheimnis des Erfolgs von Andrej Kowsel?
Wahrscheinlich die Leistungsfähigkeit und die Tatsache, dass ich mich selbst nicht ernst nehme. Wenn ich mich selbst ernst nehmen würde, hätte ich nach meiner ersten Rolle nichts mehr machen können.
Ich denke, dass Talent eine Art Leistungsfähigkeit ist. Es gibt viele talentierte Leute, die kurz hervorstachen und dann irgendwie vom Bild verschwunden sind. Leistungsfähigkeit steckt in allen Erfolgen. Wir gehen ins Fitnessstudio, um uns in Form zu halten. Wenn man einmal eine Hantel hebt und danach nicht mehr weitermachen kann, dann kann man danach auch nichts mehr machen.
Ich bin dummerweise mit meiner Frau in einen Gruppenkurs gegangen und dachte, das sei einfach. Ich war danach viel erschöpfter als nach einem Training im Fitnessstudio! Aber jetzt gehe ich mit ihr zu diesen Trainingseinheiten und ich verstehe, dass es genau das ist, was man braucht, um sich zu überwinden. Es ist genau die Leistungsfähigkeit, die man benötigt, um für Ergebnisse zu arbeiten.
Ich würde nicht sagen, dass ich immer arbeite. Es kommt vor, dass ich faul bin und dann lerne ich den Text nicht. Danach merke ich, dass die Situation dringlich wird, woraufhin ich den Text auch ganz schnell lerne. Das ist reine Prokrastination. Ich bin schon recht schlau. Sehen Sie, welche Wörter ich kenne?
Zum Thema Leistungsfähigkeit: In welchen Situationen müssen Sie den inneren Schweinehund überwinden, um zu einer Probe zu gehen? Gibt es für Sie eine Unterscheidung zwischen einer großen und wichtigen und einer weniger wichtigen Rolle?
Irgendwie habe ich darüber noch nicht wirklich nachgedacht. Ich trete auch gerne in nur einzelnen Szenen auf. Ich liebe es, in nur einzelnen Szenen zu spielen, denn wenn man auftritt und als der Beste in dieser Aufführung in Erinnerung bleibt, dann ist das auch eine Kunst. Es gibt also wahrscheinlich keinen Unterschied. Ich habe natürlich auch Rollen, die ich nicht besonders mag, aber ich werde nie im Leben sagen, welche das sind.
Und Ihre Lieblingsrollen?
Praktisch alle! Das ist wie bei Kindern. Wie kann man eines der Kinder mehr lieben? Aber normalerweise wählen wir das jüngste aus, das noch nicht sehr gut auf den Beinen steht. Und so ist meine Lieblingsrolle im Moment wahrscheinlich eine der letzten, und zwar Macbeth. Denn das ist Rohmaterial, das noch im Werden ist, das noch schwach ist, das Hilfe braucht.
In Ihrer Biografie findet man sowohl in- als auch ausländische Dramatiker. Aber wir sind bei RusDeutsch, wir sprechen über deutsche Wurzeln. Gibt es in Ihrer Biografie auch Stücke von deutschen Autoren?
Ja, der österreichische Dramatiker Ödön von Horváth und sein Werk „Geschichten aus dem Wiener Wald“. Das ist ein Stück aus dem Jahr 2019 und es wurde von Andreas Merz-Raykov inszeniert. Es stand in der Tradition gerade des deutschen Theaters.
Es ist eine sehr interessante Erfahrung gewesen, aber am Anfang war es schwierig, weil die Entwicklung und die Existenz des deutschen Theaters von der inneren Bewegung, von des eigenen Handelns abhing. Und russische Schauspieler sind es gewohnt, zu leiden und alles im Inneren zu durchleben. Im deutschen Theater hingegen ist es ganz anders; es ist eine Art Clownerie. Schauspielerisch gesehen ist es kompliziert und jeder Wendepunkt in der Geschichte zählt. Ich experimentiere generell gerne und stürze mich in verschiedene Genres und in abenteuerliche Projekte.
Die eigene kreative Erforschung ist sicherlich sehr interessant. Ich würde gerne bei diesem Thema bleiben und es weiter vertiefen. Was sind die Besonderheiten des deutschen Theaters? Sie haben erzählt, dass es durch ein bewusstes Übermaß an Emotionen gekennzeichnet zu sein scheint.
Ja, es ist eine Art Clownerie auf hohem Niveau, es ist eine Maskerade. Es gibt verschiedene Formen des deutschen Theaters. Aber die, mit der wir konfrontiert wurden, ist nahe an der Commedia dell'arte (dt.: Berufsschauspielkunst), wo jede Rolle eine bestimmte Maske trägt. Man muss diese Maske tragen und authentisch, in großem Stil, wie in einer Karikatur, die Bedeutung und den Schmerz dieser Rolle vermitteln.
Kürzlich bin ich im Internet auf irgendein deutsches Stück zu „Hamlet“ gestoßen und ich habe es mir wirklich gerne angesehen. Auch dort gilt das gleiche Prinzip: Es ist ein Übermaß an Emotionen und eine Absurdität, so als würde man das Leben der Rolle leben.
Das ist neu für mich, danke dafür. Andrej, warum lieben Sie die Schauspielerei? Sie haben 30 Jahre Theatererfahrung und stehen immer noch mit großer Begeisterung auf der Bühne.
Dafür, dass ich in dieser Arbeit hundert verschiedene Leben leben darf. Dafür, dass ich mit anderen Menschen die Energie austauschen kann. Und dafür, dass es mir nicht langweilig wird und ich interessante und kreative Menschen kennenlerne. Ich liebe es für eine Menge Dinge! Ich liebe es einfach zu schauspielern.
Wir haben bereits die „Goldene Maske“ und den „Nowo-Sibirsker Transit“ erwähnt. Sie haben viele Auszeichnungen für Ihre verdienstvolle Arbeit erhalten. Und was ist für Sie persönlich Ihre größte Errungenschaft?
Nun, ich habe nicht so viele Auszeichnungen.
Ich weiß nicht, die größte Belohnung und Errungenschaft für mich sind wahrscheinlich meine Kinder und meine Familie. Was mich selbst betrifft: dass ich immer noch ironisch gegenüber mir selbst eingestellt bin. Denn wenn ich anfangen würde, mich wie ein großer Meister zu verhalten, hätte ich diese Karriere und Entwicklung schon längst beendet.
In einem Ihrer Interviews sprachen Sie von einer sogenannten Schauspielerkrone.
Ja, natürlich sollte man eine Krone haben, jedoch muss man sie nur hinterher abnehmen.
Und die Ironie beibehalten.
Ja, ja, das war auch Ironie.
Warum ein Schauspieler eine Krone tragen muss? Weil er sich ohne die Krone nicht wie der Schauspieler fühlen wird, der schon einen Namen hat und alles kann. Er wird anfangen, mit seinen Zweifeln zu hadern und wenn man die Krone aufsetzt, kann man alles tun und man fühlt sich großartig. Danach nimmt man sie ab und sagt sich einfach: „Das war nicht ich“.
Ja, ob Krone oder Narrenhut, man kann die Kopfbedeckung immer wechseln.
Ja, ja, das kann man.
Mir ist aufgefallen, dass für Sie das, was Sie an der Schauspielerei schätzen, die Möglichkeit ist, verschiedene Leben und verschiedene Gefühle zu durchleben. Und hier interessiert mich Ihre Meinung: Kann man die Schauspielerei als eine Art Psychotherapie betrachten? Nicht nur auf der Bühne eines professionellen Theaters, sondern auch in Liebhabertheatern oder auf Schauspielkursen. Eine Möglichkeit, das auszudrücken, was man im Leben nicht verarbeiten kann?
Ja, absolut, das kann man als Psychotherapie betrachten! Ilona und ich geben Kurse in rhetorischen Kompetenzen und Schauspiel. Es kommen Erwachsene zu uns, für die wir öffentliche Reden ermöglichen und alle möglichen Übungen geben.
Eine der Übungen ist die Fähigkeit der Schauspielerei im Leben. Das hilft vielen Menschen, denn wir arbeiten in gewissem Maße als Psychotherapeuten. Wenn jemand im Leben unentschlossen ist, spielt er einen sehr entschlossenen Charakter und geht zum Beispiel zum Wohnungsamt, um zu klären, warum das Wasser seit zwei Monaten nicht die normale Temperatur hat.
Ja, das ist absolut psychotherapeutisch. Das Wichtigste ist, dass man diese Rollen danach wieder ablegt, wenn sie einen überkommen, und dass man nicht zu einer Person mit tausend Gesichtern im Leben wird.
Jetzt können wir sehr gut auf das Thema Haus und Familie übergehen. Das wurde ja bereits angesprochen. Ihre Frau ist auch Schauspielerin. Wie ist das, wenn sie auf der Bühne Kollegen sind, und zu Hause sind sie Ehemann und Ehefrau sowie Mutter und Vater für ihre Kinder? Wie schaltet ihr die Rollen um?
Wir haben schon vor langer Zeit die Regel aufgestellt, dass wir zu Hause nicht über das Theater sprechen.
Überhaupt nicht?
Naja, praktisch. Wir können schon über etwas reden, aber wir machen keine Bemerkungen zueinander oder versuchen nicht, etwas zu inszenieren. Es passiert oftmals, dass wenn sich jemand irgendwo einmischt, dass solche Schauspielpaare sich auseinanderstreiten. Wir haben zu Hause sehr wenig Theater. Es gibt gewisse Situationen, zum Beispiel wenn man von einer Aufführung zurückkommt und man etwas klären möchte, wenn man etwas falsch gemacht hat oder durcheinandergekommen ist. Und ab und zu spricht man auch über die Kollegen. Das war‘s. Wir helfen uns bei den Proben nicht im Sinne von „sag mir, wie ich schauspielern soll“, sondern im Sinne von „sag mir den Text und Stichworte“. Das war's.
Sie haben eine Tochter und einen Sohn. Wie werden Kinder erzogen und wie wachsen sie auf, wenn ihre Eltern Schauspieler sind und die meiste Zeit im Theater leben?
Nun, die Kinder hatten kein Glück (lacht). Eigentlich ging es ihnen gut: Als wir Wolodja bekamen, war Arina 10 Jahre alt, und sie verbrachte die meiste Zeit mit ihm. Jetzt lebt sie in Sankt Petersburg und studiert am Russischen Institut für Bühnenkunst, um Produzentin für darstellende Kunst zu werden.
Unser Sohn ist mittlerweile groß. In den Pausen bringen wir ihn zum Schwimmunterricht. Er hat jeden Tag Training. Er hat beschlossen, Schauspieler zu werden, obwohl ich das nie wollte. Wolodja selbst hat sich in eine Gruppe mit unserem Kollegen für das Theater „Peter Pan“ eingeschrieben, wo er unterrichtet wird.
Er hat auch mit uns in dem Stück „Die Kuh“ gespielt. Es war ein Theater-Workshop mit Angelina Migranowa und Rodion Sabirow. Sie wollten speziell mich und Ilona und baten Wolodja, 40 Minuten lang auf der Bühne zu sitzen. Das war eine äußerst schwierige Aufgabe für ihn. Mit dieser Aufführung sind wir zum Internationalen Platonow-Festival in Woronesch gefahren. Es war eine tolle Reise für ihn und er war damit zufrieden.
So ist das Leben unserer Kinder. Natürlich versuchen wir, den Mangel an Aufmerksamkeit auszugleichen. Wir proben nicht die ganze Zeit und in unserer Freizeit versuchen wir, dies durch Kommunikation auszugleichen. Jetzt kommt Wolodja nur für den Abend ins Theater und bleibt hier, während wir eine Aufführung haben.
Mich interessiert auch Ihre Meinung als jemand, der seit Jahrzehnten im Theater lebt und seine Entwicklung beobachtet hat: Wie lebt das zeitgenössische Theater in unserem digitalen Zeitalter, in dem es eine enorme Auswahl an anderen Formen der Freizeitgestaltung gibt? Wer ist das Publikum im Jahr 2023?
Im Zeitalter der Technologie und der vielen Möglichkeiten erlebt das Theater eine Wiedergeburt. Wir haben fast immer volle Säle, und die Karten sind oft schon im Voraus ausverkauft. Es kommen junge und ältere Menschen gleichermaßen, und wir haben nicht nur klassische, sondern auch avantgardistische und zeitgenössische Aufführungen. Wir versuchen, uns an das moderne Theater zu halten, um ein normales Theaterleben in ganz Russland zu führen.
Ich denke, man bekommt keine Emotionen durch einen Bildschirm und deswegen gehen die Leute ins Theater. Der Mangel an Emotionen im Leben führt sie hierher.
Wir, ich meine die Menschheit, kommunizieren nicht viel persönlich, wir chatten viel und wir gehen nicht viel mit Freunden aus. Dieser Mangel an zwischenmenschlicher Kommunikation führt zum Theater, um den Dialog zu beobachten, um eine Verbindung zu etwas Lebendigem herzustellen.
Das Theater ist also noch sehr aktuell?
Aber sowas von!
Und zum Schluss möchte ich noch einmal auf das Thema deutsche Wurzeln zurückkommen. Erzählen Sie uns etwas über die deutsche Seite Ihrer Familie.
Ich habe auf beiden Seiten deutsche Wurzeln: mütterlicherseits und väterlicherseits. Meine Großmutter mütterlicherseits heißt Marija Tschasowskih. Sie wurden aus Zentralrussland in die Altairegion deportiert, und vermutlich in den 1940er-Jahren auch der Vater meiner Mutter. Sein Nachname ist Kirikesner und er kam aus Saratow. Dort haben er und meine Großmutter sich kennengelernt, und so ist meine Mama entstanden.
Väterlicherseits war meine Großmutter Wera Ukrainerin und mein Großvater Dmitrij Kowsel war Deutscher. Mein Vater ging in seiner Jugend immer in die Bibliothek und zeigte meiner Mutter, was für einen wunderbaren deutschen Hintergrund er hatte. Er hat irgendwo herausgefunden, dass Kowsel eine adlige Familie ist. Dementsprechend habe ich von beiden Seiten her deutsche Wurzeln.
Übersetzt aus dem Russischen von Evelyn Ruge