Seefahrer Nikolaj Litau: Drei Weltumrundungen und ein Zuhause auf See


Nikolaj Litau ist Preisträger des Gesamtrussischen Wettbewerbs „Russlands herausragende Deutsche – 2021“, ein Yachtkapitän, der seit 30 Jahren die Meere befährt, drei Weltumrundungen machte, sich aus dem arktischen Eis befreite und Weltrekorde aufstellte. Lesen Sie in diesem Interview über das Gefühl von Heimat zwischen Meer und Land, Abenteuer und Gefahren, Salzwasser und Träume.

„Seewolf“ Nikolaj Litau wanderte mit Historikern die Route von Baron Tolls verschollener Polarexpedition ab, beobachtete mit Biologen Walrosse und benahm sich vorsichtig bei Treffen mit Eisbären. Ein interessantes Paradoxon: Nikolaj Litau selbst, ein Russlanddeutscher aus Nordkasachstan, wuchs in der Steppe auf. Der Seefahrer hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, darunter den Preis beim Wettbewerb „Russlands herausragende Deutsche“.

Unser Treffen mit dem Kapitän verlief folgendermaßen: Er befand sich auf seiner Yacht in den Gewässern vor St. Petersburg, weil ihm eine Reise zum Weißen Meer bevorstand, und ich saß auf dem Balkon des Hauses in einem sibirischen Dorf.

Während ich auf meinen Gesprächspartner wartete, sang ich ein Lied „Das Meer, das Meer, die bodenlose Welt“ (rus. «Море, море, мир бездонный»). „Singen Sie?“, fragte der Seefahrer. Ein Mann mit grauem Bart, leicht struppigem Haar und einem offenen Gesicht, das überraschend Entschlossenheit und Gutmütigkeit vereinte, blickte vom Bildschirm.

Ich bin eher ein Bergenmensch, ich gehe allein in die Berge. Und normalerweise ernte ich zwei Reaktionen: Entweder werde ich als entschlossen oder als waghalsig bezeichnet. Und das Gleiche möchte ich Sie fragen. Nikolaj Andrejewitsch, sind Sie furchtlos und mutig – oder waghalsig?

Man sagt, es gibt zwei Arten von Kapitänen. Manche sind glatzköpfig – das heißt, sie haben vor nichts Angst und gehen in alle Stürme. Und andere sind grauhaarig, sie reisen mit Glatzköpfen zusammen. Wie Sie sehen, bin ich grauhaarig. Und ich reiste mit einem kahlköpfigen Ersten Offizier (leitender Assistent des Schiffskapitäns – Anm. d. Red.).

Aber ich interessierte mich für verschiedene Arten des Reisens auf dem Planeten. Ich kenne mich auch mit den Bergen aus. In meiner Jugend habe ich bei einer geologischen Erkundungsexpedition mitgearbeitet und den Dsungarischen Alatau besucht. Aber in den Bergen muss man alles selbst tragen, und hier lädt man es auf eine Yacht – und sie trägt alles!

Sie sind nicht an der Seeküste, sondern im Norden Kasachstans aufgewachsen – woher kommt Ihre Liebe zum Meer? Wann hatten Sie zum ersten Mal das Gefühl: „Ich will ans Meer“?

Ich wollte nicht unbedingt ans Meer, sondern einfach nur reisen. Ich habe mich viel mit Tourismus beschäftigt: Wasser, Berge, Reiten und Schneemobilfahren.

Schließlich führte mich das Schicksal zum Yachtclub „Burewestnik“ in der Nähe von Moskau. Ich begann zu segeln und erhielt nach fünf Jahren das Kapitänsdiplom. Doch das Hobby beeinträchtigte meine Arbeit so sehr, dass ich meinen Job aufgeben musste.

Das Schicksal brachte mich mit dem berühmten russischen Reisenden Dmitri Schparo zusammen. 1992 organisierten wir eine Reise mit einer britischen Yacht durch alle russischen Binnengewässer vom Weißen Meer bis zum Schwarzen Meer.

Ein Wendepunkt in meinem Leben war, als Schparo mir die Frage stellte: „Hast Du eigene Reiseideen?“ Und ich träumte von der Nordseeroute. Das waren nur Träume – ich weiß nicht, ob ich damals an ihre Realität geglaubt habe…

Aber wir bauten diese Yacht, in der ich jetzt sitze. Es war Anfang der 1990er Jahre, wir haben lange und mühsam daran gebaut, und schließlich war es so weit. 1996 lief die Yacht in Twer vom Stapel.

Und bald darauf brachen wir zu unserer ersten Reise auf und bewältigten die Nordseeroute (Nikolaj Litau war der Erste, der dies auf einer Yacht machte – Anm. d. Red.). Seitdem konnten wir nicht mehr aufhören. Nächstes Jahr sind es 30 Jahre, seit wir mit dieser Yacht um die Welt segeln.

Und wenn wir noch einmal auf die Frage zurückkommen, warum das Meer … Es ist klar, dass es eine Art von Impuls geben muss, der seit der Kindheit in uns angelegt ist, auf genetischer Ebene. Nun, Bücher spielten eine große Rolle. Ich lese viel und lese immer noch, wenn auch natürlich weniger. Dazu gehören Thor Heyerdahl, Stanjukowitsch und andere Reisebücher. Sie haben den „Bodenstein“ gelegt, der mich zu meiner Reise um die Welt führte.

Sie haben bereits Ihre Heimatyacht „Apostel Andreas“ erwähnt, die 1996 vom Stapel lief. Stimmt es, dass diese Yacht trotz aller Abenteuer für Sie eine funktionierende und treue Yacht ist, mit der Sie immer noch reisen?

Ja. Von 1996 bis 2006 unternahmen wir drei Weltumrundungen mit der Yacht. Dann überlegte ich, was ich als Nächstes tun sollte.

Es scheint, als hätte ich alles geschafft, was ich wollte: Ich umrundete dreimal die Erde, umrundete Arktis und Antarktis, besuchte alle Kontinente und überquerte alle Ozeane.

Wir unternahmen sehr anspruchsvolle Weltumrundungen. Und wir wurden mit vielen Preisen ausgezeichnet: nicht nur russischen, sondern auch amerikanischen, britischen und irischen. Wir erhielten weltweite Anerkennung.

Es schien, als könnten wir ein Denkmal setzen. Und wir beschlossen, die Yacht in Kolomenskoje bei Moskau auf einen Sockel zu stellen. Es gibt viele Beispiele auf der Welt, wie berühmte Yachten zu Denkmälern werden.

Doch aufgrund verschiedener Umstände geschah dies nicht. 2009 übernahm ich die Yacht und fuhr sie nach Twer, wo sie instand gesetzt wurde. Wir begannen eine Reihe von Gedenkreisen entlang der Route bekannter Reisender: Russanow, Sedow, Brussilow, Wilkizki, Baron Toll. Das sind Nowaja Semlja, Franz-Josef-Land, Sewernaja Semlja, die Neusibirischen Inseln – wir besuchten viele Orte. Wir pflügten unsere gesamte Arktis um.

Dann arbeiteten wir mit Biologen zusammen: Wir markierten und zählten Walrosse. Wir arbeiteten mit Funkamateuren und beförderten einfach Touristen.

Natürlich sind 30 Jahre eine lange Zeit. Warum lebt eine Yacht? Wir erhalten sie, investieren regelmäßig unsere Arbeit und unser Geld. Entweder rostet der Rumpf, wir wechseln die Propellerwelle oder reparieren den Dieselmotor.

So wie eine Dame ihre Garderobe erneuert, so ist es auch mit einem Schiff. Wir erneuern die Segelgarderobe.

Sie sind seit fast 30 Jahren Kapitän dieser Yacht. Fühlen Sie eine besondere Verbindung zu diesem Schiff? Dass es nicht nur eine Kombination aus Eisen und Holz ist, sondern etwas, das von Herzen kommt.

Natürlich besteht eine Verbindung. Schließlich haben wir die Yacht selbst gebaut, viele Fehler gemacht und diese dann während der Fahrten, Reparaturen und Modernisierungen korrigiert.

Eine Yacht ist wie ein lebender Organismus: Sie entwickelt sich, altert.

Und all das geschieht hauptsächlich durch meine Hände und die der ersten Crew. Zufällig sind zwei meiner Assistenten, mit denen wir angefangen haben, bereits verstorben. Und jetzt sind von denen, die vom ersten Tag an dabei waren, nur noch ich und der Bootsmann übrig.

Ich sehe das als Analogie zwischen einer Yacht und einem Menschen: Zuerst ist sie wie ein Baby in der Wiege, dann wächst sie allmählich, verändert sich, sammelt Reisen und Erfahrungen.

Und bekommt einen Namen. Denn „Apostel Andreas“ ist bereits ein bekannter Name und überall bekannt.

Das ist vielleicht der einzige Fall im russischen Yachtsport. Normalerweise werden die Namen von Kapitänen berühmt, aber kaum jemand erinnert sich an die Namen der Yachten, auf denen sie gesegelt sind.

Unsere Situation ist anders. Wenn man „Litau“ sagt, meint man „Apostel Andreas“. Wenn man „Apostel Andreas“ sagt, versteht man sofort, dass es „Litau“ ist. Wir sind seit 30 Jahren unzertrennlich.

Obwohl ich in diesen Jahren auch andere Yachten kommandiert habe. Ich habe Touristen auf einem anderen Schiff in die Antarktis gebracht und eine britische Yacht kommandiert.

Apropos „Apostel Andreas“: Es ist immer noch ein besonderer Name. Erzählen Sie uns seine Geschichte.

Oh, das war eine interessante Geschichte im Zusammenhang mit dem Bau der Yacht und einem der Sponsoren. Wir kamen zu ihm, und er sagte: „Möchtest du nicht den Segen des Patriarchen empfangen?“ Aufgrund meiner kommunistischen Erziehung nahm ich es gelassen hin: „Na gut, warum nicht.“ Wir suchten nach einem Namen, und das Patriarchat empfahl, die Yacht zu Ehren des heiligen Apostels Andreas des Erstberufenen zu benennen. Ehrlich gesagt hatte ich zuerst Zweifel, denn in der russischen Tradition werden solche Namen normalerweise Schiffen ersten Ranges gegeben. Und hier war es nur eine Yacht.

Und so wurde unsere Yacht 1996, im Jahr des 300. Jubiläums der russischen Marine, mit dem Segen des Patriarchen von Moskau und ganz Russland, Alexi II., geweiht und auf den Namen „Apostel Andreas“ getauft.

Ich denke, um es edel auszudrücken: Wir haben es geschafft, den apostolischen Namen durch unsere langjährige Tätigkeit auf der Yacht nicht zu entwürdigen, sondern im Gegenteil zu verherrlichen.

Sie haben das Thema Expeditionen mit Wissenschaftlern bereits angesprochen. Ihre Worte in einem Interview haben mir sehr gut gefallen: „Früher habe ich Höchstleistungen vollbracht. Ich war der Erste, der die Nordseeroute befuhr und die Antarktis umrundete. Und dann wurde mir klar, dass ich den Menschen etwas zurückgeben muss.“ Hat sich Ihre Motivation im Laufe der Jahre verändert?

Mir scheint, dass die Essenz der Motivation im Grunde dieselbe ist. Dass ich es damals wie heute in erster Linie für mich selbst getan habe.

Die Ziele waren damals etwas anders. Wir sind die Nordseeroute befahren. Und wir können sagen, wir haben es für Russland getan. Schließlich sagt jeder Sportler, der eine Medaille und Ehre gewinnt, immer, dass er es für sein Heimatland tut. Die Frage ist hier: Kämpfen Sie, um die Flagge zu hissen, oder um die Medaille?

Früher konnte man sagen: Wir haben die Flagge gehisst. Ja, wir waren die Ersten, die die Nordseeroute befuhren. Wir waren die ersten Russen in der kanadischen Arktis. Wir waren die Ersten, die den Ring um den Arktischen Ozean geschlossen haben. Wir bereisten die Antarktis, und niemand hat es je so gemacht wie wir.

Und dann begann ein neuer Lebensabschnitt. Und unsere Herangehensweisen änderten sich ein wenig: Wir waren nicht mehr die Ersten, sondern im Gegenteil, wir gingen dorthin, wo große Vorgänger vor uns gewesen waren.

Das fiel mit vielen 100-jährigen Jubiläen zusammen. Hundert Jahre seit Russanows Umrundung von Nowaja Semlja, hundert Jahre seit der Entdeckung Sewernaja Semljas. Wir wanderten von einem Jubiläum ins nächste.

Aber vor allem ist es für mich und meine Kollegen selbst interessant, Orte zu erkunden, an denen große Reisende hundert Jahre vor uns waren. Und darüber zu erzählen, darüber zu schreiben, eine Videogeschichte zu drehen – um diese Geschichte unseren Landsleuten näherzubringen.

Ich begann auch, Touristen zu befördern, die den Polarkreis besuchen wollten. Und manchmal ergibt sich daraus eine gute Symbiose.

Zum Beispiel kam eine Gruppe, die die halbe Strecke der Nordseeroute zurücklegen musste. Sie brachte Geld mit. Mit diesem Geld legten wir einen Teil der Strecke nach Tiksi zurück, und dann schloss sich uns eine Gruppe von Historikern an. Das heißt, wir hatten Förderer, und Touristen halfen uns, ernsthafte wissenschaftliche Arbeiten zu betreiben.

Gemeinsam mit den Historikern folgten wir den Spuren des Arktisforschers Eduard Wassiljewitsch Toll (ein Wissenschaftler, Geologe und Geograph des Russischen Reiches, ein Deutschbalte – Anm. d. Red.), der Anfang des 20. Jahrhunderts die Russische Polarexpedition organisierte.

Er machte sich auf die Suche nach dem legendären Sannikow-Land. Vielleicht haben Sie diesen Film gesehen?

Natürlich.

Zu Beginn des Films, wenn Sie ihn noch einmal ansehen, wird sogar Eduard Toll erwähnt. 1902 verschwanden Baron Toll und einige seiner Gefährten spurlos. … 1903 unternahm sein Freund Alexander Koltschak eine Rettungsexpedition, jedoch ohne Erfolg.

Wir rekonstruierten die Route dieser Expeditionen. Wir fanden sogar ein Walfangruder, das möglicherweise zu Baron Tolls oder Alexander Koltschaks Gruppe gehörte. Es ist mindestens 120 Jahre alt.

Wir schenkten dieses Ruder dem „Museum der Weltmeere“ in Kaliningrad, wo wir eine interessante Ausstellung gestalteten.

Dann verabschiedeten wir uns von den Historikern und der zweite Teil der Reise führte uns zu Biologen in die Laptewsee. Wir fuhren mit ihnen zu den Walrosskolonien.

Unsere Aufgabe war es, die Wissenschaftler zu begleiten, die Eisbären zu vertreiben und sie an Land zu bringen. Ich habe in meinem ganzen arktischen Leben noch nie so viele Eisbären gesehen!

Biologen kriechen zu den Walrossen, schießen mit einer Armbrust auf sie und entnehmen eine Probe: Mit einem kleinen Röhrchen wird ein Stück für die genetische Materialforschung herausgeschnitten. Anschließend wird dem Walross ein GPS-Sender angebracht.

So sah das Jahr 2022 aus. Es hat mir sehr gut gefallen: erst Touristen, dann Historiker, dann Biologen – tolle Expeditionen!

Jetzt fahren wir mit einer Gruppe von Enthusiasten zum Weißen Meer. Und dann werden wir sehen. Vielleicht beginnen wir mit der Ausbildung von Navigatoren und nehmen sie mit in unsere Praxis. Gleich nach dem Gespräch mit Ihnen treffe ich mich mit dem Leiter der Kapitänsschule.

Vielen Dank, Nikolai Andrejewitsch, für diese Geschichten. Es stellt sich heraus, dass hier so vieles zusammenhängt. Einerseits rein alltägliche und finanzielle Fragen zur Instandhaltung der Yacht. Und andererseits eine selbstlose Tat mit einem wissenschaftlichen, pädagogischen Ziel.

Natürlich kann man einfach Touristen auf eine Fahrt durch die „Marquis Puddle“ (ein ironischer Name für die Newa-Bucht bei St. Petersburg – Anm. d. Red.) mitnehmen und zu Hause übernachten, ohne Risiken eingehen zu müssen. Aber rein kommerzielle Reisen sind nicht unser Ding. Auf einer Expedition trifft man auf interessante Menschen und Aufgaben. Wissen Sie, wie sich das atlantische Walross vom pazifischen unterscheidet?

Natürlich weiß ich das nicht (ich lache).

Ich frage einen Biologen: „Und wie kann man das atlantische Walross vom pazifischen unterscheiden?“ Er antwortet: „Wenn man zwei Walrosse nebeneinander setzt, kann man sie kaum auseinanderhalten.“ „Warum gehören sie dann zu unterschiedlichen Gruppen?“ Aber wenn wir die ganze Herde betrachten, dann können wir schon an der Gesamtheit der Merkmale erkennen, dass sie unterschiedlich sind. Genetisch unterschiedlich. Und sie leben an verschiedenen Ufern der Laptewsee: Das Atlantische Walross lebt am Westufer, das Pazifische Walross am Ostufer und weiter bis nach Tschukotka. Es gibt viele Pazifische Walrosse: Manchmal versammeln sich 10.000 von ihnen in einer Kolonie! Und die Atlantischen Walrosse sind im Roten Buch aufgeführt. Und wir haben sie untersucht.

Und waren Sie auch mit den Wissenschaftlern an Land oder befanden Sie sich in der Nähe, an Bord?

Nun, ich gehe an Land, wenn ich will. Und der Erste Offizier ist mit den Biologen mitgegangen.

Aber zuerst müssen wir die Bären von der Walrosskolonie vertreiben. Und wie vertreibt man sie? Man fliegt einfach mit einem Quadrocopter hoch und winkt ihnen vor der Nase herum. Man winkt und winkt, der Bär wird nervös und geht.

Und dann setzen wir die Biologen ab. Und während sie auf dem Bauch zu den Walrossen kriechen, um sie nicht zu verscheuchen, geht mein erster Maat mit einem Gewehr zwischen der Kolonie und den Bären hin und her. Die Bären sind wohlgenährt und wollen auch keine Probleme, also gehen sie weg und legen sich zur Seite.

Sie reden so locker darüber: Na und, ein Eisbär, ein wildes Raubtier, was für ein Unsinn! Sie erzählen fröhlich Geschichten, obwohl ich verstehe, dass diese Reisen mit gefährlichen Umständen verbunden sind. Und ich möchte wissen, ob es auf Ihren Reisen Situationen gab, in denen es um Leben und Tod ging?

Natürlich gab es sehr schwierige Situationen.

Nehmen wir an, während unserer zweiten Weltumrundung blieben wir in der kanadischen Arktis im Eis stecken. Die Yacht hatte Schlagseite nach Steuerbord und war am Heck getrimmt (Trimm ist die Längsneigung des Schiffes, vom Bug zum Heck – Anm. d. Red.). Wir wussten nicht, wie das alles enden würde. Wir hatten unseren Müll und unsere Dokumente bereits vorbereitet.

Doch dann schloss sich das Eis wieder, die Yacht kam aufs Wasser. Ruder und Propeller waren beschädigt, aber wir „schleuderten“ zum nächsten Hafen, reparierten sie und fuhren weiter. Das war einer der heikelsten Momente in der Arktis.

Dann verloren wir zweimal das Ruder, das heißt, wir waren ohne Kontrolle. Das erste Mal war bei der ersten Weltumsegelung, dann war es ein Tiefschlag.

Als wir bei der dritten Weltumsegelung zum zweiten Mal das Ruder verloren, sagte ich zu einem Crewmitglied: „Andrjucha, dein Glück ist gekommen!“ Eine Tür irritierte ihn ständig, als wäre sie völlig neben der Spur. Es war wirklich eng. Also sagte ich: „Andrjucha, bau die Tür ab, lass uns ein Ruder machen.“

Wir machen niemandem Angst. Klar, damit die Leute über einen schreiben, muss man eine Nachricht machen und den Leuten Angst machen: Die Verbindung ist abgebrochen, Bären haben uns gefressen und so weiter!

Wir haben das nie getan, und die Einstellung uns gegenüber ist etwas anders.

In unseren Yacht-Netzwerken gab es einen lustigen Kommentar, als die Nachricht vom Verlust des Ruderblattes bekannt wurde. Und ein Kamerad schrieb: „Was soll man sich Sorgen machen, wenn Litau das Ruderblatt verliert? Selbst wenn er den Kiel verliert, wird er sich etwas ausdenken und kommen.“ (Der Kiel ist das tragende Hauptelement der Struktur; der untere Balken, der in der Mitte des Schiffsbodens vom Bug bis zum Heck verläuft – Anm. d. Red.) Das war natürlich schmeichelhaft.

Sie sind großartig. Ich höre Ihnen zu: Alles ist positiv und leicht!

Nun, wie entsteht Leichtigkeit? Sie kommt mit den Jahren. Das ist ein multidirektionaler Vektor. Einerseits wächst der Bauch mit den Jahren, und die Sorgen verschwinden. Andererseits geht es um Erfahrung. Und man wird ruhiger. Natürlich war meine Erfahrung mit Seereisen minimal, als wir zu unserer ersten Weltreise aufbrachen.

Gibt es besondere Omen oder Traditionen auf See?

Natürlich entwickelt man mit zunehmendem Alter seine eigenen Omen und Traditionen. Und wir geben nicht nur unser Wissen, sondern auch unsere Traditionen an die Jugend weiter.

Für Anfänger, die den Polarkreis zum ersten Mal überqueren, führen wir beispielsweise ein besonderes Ritual durch. Wir haben einen Lampenschirm von einem Navigationslicht, etwa 200 Gramm schwer. Damit schöpfen wir Polarwasser über Bord – das ist reinstes Meerwasser. Und jeder Anfänger muss einen Lampenschirm voll Wasser trinken.

Nikolai Andrejewitsch, wie unterscheidet sich das Leben auf See vom Leben an Land? Hier ist jemand, der an Land lebt: Er geht jeden Tag zur Arbeit, lebt seine Familie und seinen Alltag – und alles ist besonnen und ruhig. Und Ihr Leben auf See erscheint mir sehr lebendig, vielfältig, im Kontakt mit Menschen aus verschiedenen Ländern. Es ist interessant, Ihnen zuzuhören.

Tatsächlich ist das Leben auf See besonnener als das an Land. Denn hier geht es nur eine Wache nach der anderen.

Wenn man auf See fährt und keinen Hafen anläuft, ist es einfach großartig. Zwei Wochen, drei Wochen, einen Monat – wir legen keinen Hafen an. Und jeder Tag ist gleich. Es ist normal, man liest Bücher, lernt Englisch. Dann – Hafen, Sorgen, Einwanderungsprobleme lösen.

Seeleute sind meiner Meinung nach verlorene Menschen. Man kann sie nicht an Land ziehen. Denn das Leben hier ist verständlicher.

Jetzt fahre ich zum 15. Mal ans Weiße Meer. Und als ich das erste Mal dort war und mich in der weißen Nacht des Weißen Meeres wiederfand, war ich von diesem Mitternachtslicht überwältigt.

Ehrlich gesagt, habe ich von einer weißen Nacht geträumt. Wenn man zum ersten Mal aus Petropawlowsk, Kasachstan, nach St. Petersburg kommt, ist das ein Nervenkitzel! Ich war verzaubert von dieser Dämmerung.

Und jetzt war ich schon in Belomorsk, habe den Polarkreis schon oft überquert, wo die Sonne am Polartag nie untergeht.

Sie haben mich mit dieser Aussage überrascht, dass das Leben auf See maßvoller sein kann als das Leben in einer Stadt an Land. Es ist so interessant, es von der anderen Seite zu sehen.

Nun ja, besonders auf manchen Handelsschiffen ist das ganze Leben nach Schichten durchgeplant. Man steht auf, bekommt was zu essen, geht zum Dienst, übergibt dann den Dienst, trinkt Tee, geht ins Bett. Steht wieder auf, isst, geht zum Dienst. Und so weiter, drei Tage lang, vier, fünf, sechs…

Wie sieht das aus? Du stellst die Füße von der Koje ab, und fertig, du bist an deinem Arbeitsplatz. Du musst dich nicht irgendwohin schleppen, dich durch die U-Bahn oder den Trolleybus drängen. Es ist klar, dass es eine Seeromantik gibt: Die Wellen plätschern, die Möwen fliegen, die Delfine tollen herum. Aber auf See gibt es viel weniger Ereignisse. Du stichst in See, und Tag für Tag – Meer, Meer, Meer, nur Wasser ringsum.

Nun ja, manchmal kommen Wale, deren Schwänze aufs Wasser schlagen, oder Möwen fliegen herum, oder Albatrosse im Süden.

Sie sprechen so über Ihre Reisen, dass ich das wirklich romantisch finde. Es klingt für mich ungewöhnlich, wie in Romanen. Und ich weiß, dass Sie nach Ihren Weltreisen mehrere Bücher veröffentlicht haben. Erzählen Sie uns bitte von Ihren Erfahrungen als Schriftsteller.

Das sind nur Tagebücher. Die ersten Einträge waren trocken. Einige Auszüge aus dem ersten Tagebuch wurden von Twerer Zeitungen veröffentlicht. Ich hatte gute Freunde in der Stadt Twer. Und sie haben, fast ohne mein Wissen, diese Einträge genommen, gesammelt, verarbeitet und das erste Buch veröffentlicht. Es ist fast unmöglich zu lesen.

Mit dem zweiten Buch habe ich es irgendwie versucht: Ich bin jetzt Schriftsteller, seit das Buch veröffentlicht wurde!

Als ich das dritte Buch schrieb, hatte ich meine eigene Webseite – litau.ru. Dort schrieb ich: Ich beschrieb die Ereignisse, die uns widerfuhren. Und irgendwie habe ich den Dreh rausbekommen.

Als ich dann von der Reise zurückkam, sammelten wir alles, was ich in den letzten zwei Jahren geschrieben hatte, und veröffentlichten das dritte Buch.

Wie unser Arzt Lewin sagte, als er das dritte Buch in die Hände bekam: „Na, endlich kann ich es lesen.“

Jetzt hat mir ein guter Verlag angeboten, alle drei Bücher zu verbinden, zu kürzen und unter einem gemeinsamen Titel zu veröffentlichen. Aber das habe ich schon seit zwei Jahren vor: Es ist nicht mein Ding…

Sie reisen so oft, aber haben Sie ein Gefühl von Heimat?

Mit zunehmendem Alter wird es wichtiger, nach Hause zurückzukehren. Das sind vertraute Hausschuhe, ein Sofa, die Katze.

Nach meinem 60. Geburtstag passierten mir drei völlig unerwartete Dinge. Ich landete zum ersten Mal in meinem Leben im Krankenhaus: Ich riss mir den Bizeps – und lernte diesen Ort endlich kennen. Ich wurde sogar zu Hause geboren, ich weigerte mich, ins Entbindungsheim zu gehen (lacht).

Dann das Zweite: Ich verlor meinen ersten Zahn, den einzigen bisher.

Und das Dritte: Ich begann plötzlich zu kochen! Nun ja, vorher konnte ich Pelmeni kochen und Würstchen braten. Und hier liege ich und sehe mir eine Sendung im Fernsehen an: Eine Frau erzählt ein Rezept für Tom Yam. Ich hörte mir das bis zum Ende an, rannte in den Laden, kaufte alles Nötige und kochte. Und aus irgendeinem Grund hat es mir so gut gefallen!

Auf einer Yacht gehe ich nicht in die Kombüse, weil dort ein Koch ist: Das ist seine Aufgabe, nicht die des Kapitäns. Und zu Hause kümmere ich mich selbst meistens um die Küche.

2021 kam zu Ihren zahlreichen Auszeichnungen eine weitere hinzu: Sie wurden Preisträger des Wettbewerbs „Russlands herausragende Deutsche“ in der Kategorie Sport. Dieser Wettbewerb startet nun in die neue Saison. Ich möchte andere Russlanddeutsche mit Ihren Verdiensten inspirieren, damit sie am Leben in der Gemeinschaft teilnehmen und ihren Nachnamen mit Stolz tragen. Was könnten Sie den neuen Teilnehmern des Wettbewerbs sagen?

Wissen Sie, meine Einstellung zu meinem Nachnamen hat sich im Laufe meines Lebens verändert. Ich würde nicht sagen, dass ich während meiner Schulzeit froh war, Deutscher zu sein. Ich wurde 1955 geboren, also nur zehn Jahre nach dem Krieg, und die Einstellung gegenüber Deutschen war zwiespältig. Obwohl in meiner Klasse fast jeder Zweite Deutscher war. Meine Familie wurde in den 1930er Jahren aus der Ukraine nach Kasachstan deportiert, während des Krieges wurden einige Verwandte zur Arbeitsarmee eingezogen.

Als ich erwachsen und reifer wurde, begann ich natürlich, meinen deutschen Nachnamen ganz anders zu behandeln. Mit Stolz auf unsere Nation, mit Stolz auf die Deutschen, die Russland dienen. Erinnern wir uns an russische Seeleute. Wer war der erste russische Weltumsegler? Iwan Krusenstern. Wer entdeckte die Antarktis? Faddej Bellingshausen. Wer gründete die Russische Geographische Gesellschaft? Admiral Fjodor Litke. Oder der bereits erwähnte Polarforscher Eduard Wassiljewitsch Toll. Unter den berühmten russischen Seeleuten finden sich viele Deutsche. Daher gibt es natürlich etwas und jemanden, auf den man stolz sein kann.

Es ist wichtig zu verstehen, wie viel das deutsche Volk seit der Zeit Peters des Großen für Russland geleistet hat. Und auch heute gibt es viele würdige Namen: Akademiker, Künstler, Sportler.

Deshalb ist es natürlich notwendig, neue Namen zu finden, sie zu unterstützen und ihnen die Möglichkeit zur Entwicklung zu geben.

Um das Gespräch zusammenzufassen, möchte ich einen leicht philosophischen Ton anschlagen. Wie würden Sie den Satz beenden: Das Meer ist... Was ist es für Nikolaj Litau?

Das Meer ist mein Zuhause. Ich lege mich in meine Kabine und bin zu Hause. Nur eben nicht das Meer, sondern der Ozean. Das Meer ist mir schon zu eng.

Wenn man auf dem Ozean segelt, schaukeln die Wellen das Schiff, und man liegt in seiner Koje, als läge man auf der Handfläche des Meeres...

Ich habe also sowohl auf See als auch an Land ein Zuhause. Ich kehre gerne zurück und fahre dann gerne wieder zur See.

Sie haben einen interessanten Lebensweg.

Manchmal beneide ich mich selbst!

Meine journalistische Tradition ist es, ein Gespräch mit den Helden mit einem herzlichen Wunsch aus der aktuellen Situation zu beenden. Was wünschen Sie den Lesern, die diesen Text lesen werden?

Ich wünsche ihnen zu träumen! Träumen muss man können.

In der Schule gewann ich die Olympiaden in Mathematik und Physik, interessierte mich für Astronomie und baute ein Teleskop. Und man sagte mir voraus, dass ich Wissenschaftler werden würde. Dann, im Erwachsenenalter, begegnete ich allen möglichen Versuchungen, die mich von meinem Traum abbrachten.

Und in meiner Jugend träumten mein Freund Wolodka und ich von Reisen. Aber das waren nur Fantasien!

Und so führte mich das Leben auf diesen Weg, ans Meer, wo ich nun mit den Sternen zusammen bin. Wenn ich hinausfahre, ist der Sternenhimmel über mir: Ich kann auf dem Rücken liegen und ihn bewundern…


Buchstäblich nur wenige Tage nach unserem Gespräch führte Nikolaj Litau den „Apostel Andreas“ zum Weißen Meer. Wir wünschen ihm auf dieser und allen folgenden Reisen alles Gute!

Und wir erinnern Sie daran, dass Sie die Nominierten des Gesamtrussischen Wettbewerbs „Russlands herausragende Deutsche“ in der offenen Online-Abstimmung auf der offiziellen Webseite des Wettbewerbs unterstützen können. Die Abstimmung beginnt am 8. Juli. Folgen Sie unseren Neuigkeiten und unterstützen Sie die besten Kandidaten!

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