Bis zu ihrem 50. Lebensjahr hatte Jelisaweta Rosanowa nie viel über ihre Wurzeln nachgedacht; Arbeit und Alltag beanspruchten ihre gesamte Aufmerksamkeit. Doch unerwartete Entdeckungen in den Archiven sollten ihr Leben verändern. Es stellte sich heraus, dass ihre Vorfahren Adlige und Geologen waren und ihre Heimat im Gebiet Twer lag. Diese genealogische Suche brachte nicht nur erstaunliche Familiengeheimnisse ans Licht, sondern veränderte auch ihre Wahrnehmung der Gegenwart und verdeutlichte, wie eng die Generationen miteinander verbunden sind.
Heute arbeitet Jelisaweta Rosanowa aktiv an einem Buch über die Geschichte ihrer Familie. In unserem Gespräch erzählt sie von den Entdeckungen, die sie bei ihrer Arbeit in den Archiven gemacht hat, und davon, was die Ahnenforschung einem Menschen über sich selbst offenbaren kann.
Jelisaweta, inwiefern hat die Genealogie etwas mit Ihrem Berufsleben zu tun?
Genealogie hat nichts mit meinem Berufsleben zu tun, und um ehrlich zu sein, hatte ich bis zu meinem 50. Lebensjahr einfach keine Zeit, mich damit zu beschäftigen. Außerdem waren die Archive geschlossen. Im Fall der Auerbachs (Anm. d. Red.: Auerbach ist der Nachname von Jelisaweta Rosanowas Vorfahren väterlicherseits) gestaltete sich die Recherche noch schwieriger, da viele von ihnen im Dienste des Adels im Bereich der Geologie tätig waren und somit schwerer zugänglich waren.
Inwiefern hat die Ahnenforschung Ihre Perspektive auf Ihre Familie und auf sich selbst verändert?
Die Ahnenforschung... sie füllt eine Leere in der Seele, die man spürt, aber nicht recht versteht.
Es gibt den Ausdruck „Leichen im Keller“, der auf dunkle Geheimnisse hinweist. Doch in meinem Fall landeten diese „Leichen“ auf meinem Kopf, sobald ich den „Keller“ öffnete. Sie sind sozusagen lebendig... Als mir Fotos meiner Ururur-, Urur- und Ur-Großmutter zugeschickt wurden und ich begann, ihre charakteristischen Gesichtszüge zu betrachten, bemerkte sogar meine Tochter, dass meine Haare denen ähneln...
Die Geschichte der Deutsch-Balten, die im Dienste Russlands standen, wurde plötzlich zu meiner eigenen. Alles schien zusammenzupassen – meine Pedanterie, meine strenge Einstellung zur Zeiteinhaltung und wahrscheinlich auch mein Perfektionismus.
Wie ich meinen Kindern sage: Man muss sich vor diesen „Leichen“ im übertragenen Sinne nicht fürchten; manchmal nehmen sie dich an die Hand und führen dich auf Reisen durch Zeit und Raum, über die so viele Fantasy-Bücher geschrieben wurden.
Wie haben sich Nachnamen und Familienbeziehungen in Ihrer Familie im Laufe der Generationen verändert?
Basierend auf meinen Recherchen lässt sich schließen, dass die Familienbeziehung der Auerbachs äußerst freundschaftlich war, da gemeinsame Tätigkeiten sonst nicht möglich gewesen wären. Der Gründer dieser Familie, Andrej (Heinrich) Auerbach, ein Deutsch-Balte, ließ sich in Kaschin (Anm. d. Red.: einer Stadt im Gebiet Twer) nieder und gründete später eine Fayencefabrik in Konakowo (Anm. d. Red.: ebenfalls eine Stadt im Gebiet Twer, etwa 90 Kilometer Luftlinie von Kaschin entfernt). Seine Söhne Herman und Heinrich (Andrej) waren mit den Schwestern von Berchholz, Julia und Anastasia, verheiratet. Mein Familienzweig stammt von Herman ab. Heinrich und Andrej hatten mehrere Söhne, darunter Alexander Auerbach, nach dem das Mineral „Auerbachit“ benannt wurde. Weitere Informationen über ihn werden in der Sammlung zu finden sein.
Alexander war mit Sofia Berchholz verheiratet. Sein Bruder Andrej gab trotz seiner kommerziellen Tätigkeit seine Leidenschaft für die Musik nicht auf, die seit seiner Kindheit von seiner Tante Julia gefördert wurde: Er gründete ein Symphonieorchester, eröffnete und leitete die ersten Musikkurse in Sibirien. Heute ist es die nach A. Rubinstein benannte Musikschule Nr. 1.
Was hat Sie dazu inspiriert, ein Buch über Ihre Vorfahren zu schreiben?
Meine eigene Scham war die treibende Kraft, als mir bewusst wurde, wie wenig ich über sie wusste und wie lange ich es vermieden hatte, danach zu suchen.
Erst als ich krank wurde, mich einer Operation unterziehen musste und mich mühsam erholte, wurde mir klar, dass ich mein ganzes Leben lang im Grunde genommen „ohne Familienstamm“ gelebt hatte. Außerdem fand ich mich aufgrund familiärer Umstände im Gebiet Twer wieder. Und welch eine Überraschung war es für mich zu erfahren, dass dies die Heimat meiner Vorfahren ist!
Wie sind Sie an Informationen gekommen?
Schritt für Schritt begann ich, das Durcheinander an Informationen zu entwirren, zunächst über die russische genealogische Website WGD, aber auch über internationale Quellen.
In der Artikelsammlung, die von Lokalhistorikern aus verschiedenen Regionen Russlands zusammengestellt wird, plane ich, nicht nur wissenschaftliche Errungenschaften der Auerbachs zu berücksichtigen, sondern auch biografische Daten und Verdienstlisten.
Mein Ziel ist es, den Lesern vor allem näherzubringen, wer diese Menschen waren, was sie getan haben und wie sie als Persönlichkeiten waren.
Da die Auerbachs über mehrere Generationen hinweg hauptsächlich in den Bereichen Geologie und Mineralienforschung und -erschließung tätig waren, sind die meisten Artikel den Geologen dieser Familie gewidmet.
Ich erinnere mich lebhaft daran, wie mein Vater, der ebenfalls durch Krankheit ans Haus gebunden war, sich mit der Ahnenforschung beschäftigte. Er erzählte mir voller Begeisterung, dass auch er Geologe sei.
Als ich mich daran erinnerte, nahm ich viele Jahre später meine eigene Suche wieder auf. Ich hoffe darauf, dass auch einige Aufsätze meines Vaters in die Sammlung aufgenommen werden, denn er hielt stets Notizen fest. Damals benutzte er eine Ledertasche mit einem Notizbuch und einem Bleistift – unverzichtbare Werkzeuge für die Arbeit eines Geologen.
Planen Sie, Ihre Forschungen fortzusetzen und eventuell eine Fortsetzung des Buches zu schreiben?
Ich würde es sehr begrüßen, wenn der Sammelband über die Auerbacher-Geologen das Licht der Welt erblicken würde. Ebenso sehne ich mich nach der Wiederveröffentlichung der Übersetzungen aus dem Deutschen von Jelisaweta Auerbachs Ehemann Wsewolod Rosanow, dem ersten Übersetzer von Hermann Hesse und Hans Fallada in der UdSSR.
Jelisaweta Auerbach gehörte auch zu den „Ersten“: Als Autorin und Darstellerin von Kurzgeschichten auf der sowjetischen Bühne, trug sie maßgeblich zur Entstehung des heute so beliebten weiblichen Stand-up bei, der in den kleinen Sälen der Moskauer Wohnungsbehörden und auf Tourneen der Philharmonischen Gesellschaft aus den Werken dieser Künstlerin entsprang.
Meine Großmutter verfasste und veröffentlichte zu Lebzeiten mehrere Erzählungen und Theaterstücke, da sie eine der letzten Schülerinnen von K. Stanislawski war und die Nichte seiner Mitarbeiter Nikolaj und Wladimir Podgorny. Halb deutsch stammte sie von ihrem Vater Boris Podgorny ab, einem Juristen und erblichen Adligen aus dem Offiziersstab des Charkiwer Regiments des Don-Heeres, also aus dem Kosakentum. Wie Sie sehen, ist das „Blutgemisch“ unserer Familie nicht ganz so einfach.
Ich hege den Wunsch, ein Buch über meinen Familienzweig der Auerbachs zu schreiben, das nicht nur sie, sondern auch die Podgorny und die Rosanows umfasst, da sich die familiären Verbindungen als überraschend eng erwiesen haben.
Besonders schätze ich die Vertrautheit, gegenseitige Unterstützung und starken ehelichen Beziehungen der Auerbachs. Daher gilt ihnen momentan meine ganze Aufmerksamkeit.
Diese Qualitäten fehlen bedauerlicherweise bei meinen Vorfahren in anderen Familienzweigen sowie in den Familien meines Bruders und meiner eigenen Familie. Ich hoffe, dass unsere Kinder durch das Beispiel der Auerbachs inspiriert werden und unser „zerbrochenes Fayence“ durch ihre Freundschaft und familiäre Verbundenheit wieder zusammengefügt wird.
Im Jahr 2023 wurde über Jelisaweta Auerbach im Material über die Nominierten des gesamtrussischen Wettbewerbs „Russlands herausragende Deutsche“ in der ehrenvollen Zusatznominierung „Name des Volkes“ berichtet. Ihre Geschichte können Sie hier nachlesen.
Übersetzt aus dem Russischen von Evelyn Ruge