Wendelin Mangold: „Sibirische Trüffel“

„Wir haben Herbst für Herbst die Knollen aus der Erde gebuddelt, und wer das nicht getan, überstand den Winter nicht“, heißt es in der Miniatur „Sibirische Trüffel“, die dem neuen Buch von Wendelin Mangold den Titel gegeben hat (Zeitung für Dich, Ausgabe Nr. 5 (3750), Mai 2015). 

„Wir haben Herbst für Herbst die Knollen aus der Erde gebuddelt, und wer das nicht getan, überstand den Winter nicht“, heißt es in der Miniatur „Sibirische Trüffel“, die dem neuen Buch von Wendelin Mangold den Titel gegeben hat (Zeitung für Dich, Ausgabe Nr. 5 (3750), Mai 2015).

In der Publikation „Sibirische Trüffel“, die 2015 im Verlag „edita gelsen“ erschienen ist, sind thematisch zusammenhängende Kurztexte gesammelt, die als Impressionen zu Themen wie Russland, Russlanddeutsche und russlanddeutsche Aussiedler bezeichnet werden können und eine Sache häufig viel besser auf den Punkt bringen als längere Erörterungen. „Denn bekanntlich liegt in der Kürze die Würze“, sagt der Autor, der auch in seinem poetischen Schaffen dem gleichen Ansatz folgt. Durch die gegenwärtige Krise zwischen Ukraine und Russland ist die Aktualität des Buches zusätzlich gegeben. Es ist eine Lektüre mit einem weinenden und einem lachenden Auge.

Wendelin Mangold wurde 1940 in der Nähe von Odessa geboren. Im Krieg floh er mit seiner Familie in den Westen, wurde aber 1945 von Deutschland in den Nordural deportiert. Nach der Entlassung aus der Kommandanturaufsicht zog er 1956 nach Nowosibirsk, studierte dort und bildete von 1967 bis zur Ausreise nach Deutschland 1990 Lehrer für deutsche Muttersprache und Literatur in Nordkasachstan aus. Von 1991 bis zur Pensionierung 2007 war er als Sozialarbeiter und Verwalter bei der Seelsorge für russlanddeutsche Aussiedler in Königstein tätig. Mangold ist Autor einiger Einzelausgaben, seine Gedichte sind in zahlreichen Almanachen und Sammelbänden erschienen. Für sein Werk „Vom Schicksal gezeichnet und geadelt. Tragikomödie“ zum 250. Jahrestag der Auswanderung an die Wolga wurde er 2013 mit dem Hessischen Preis „Flucht, Vertreibung, Eingliederung“ ausgezeichnet.

Nachstehend kleine Leseproben aus dem Buch „Sibirische Trüffel“:

Todeskandidat

1943 schnitt mir in der Ukraine ein Feldscher der Wehrmacht das Geschwür auf und nähte mit elf Stichen die Bauchdecke wieder zu, aus Schmerz pinkelte ich, so die Mutter, ihm ins Gesicht. Der hat nicht lange zu leben, hatte er meiner Mutter zum Abschied gesagt. Ich überlebte die Flucht, den Krieg, die Deportation, den Nordural, Sibirien, Nordkasachstan, die Ausreise, das Einleben hier, erlebte das Rentenalter, lebe immer noch und werde bald 75. Ob aber der Wehrmachtfeldscher den Krieg überlebt hatte, mag ich sehr bezweifeln.

Mamalyga

Ich habe ein sehr schlechtes Gedächtnis auf Gesichter, was mich nicht selten in Verlegenheit bringt und zu Missverständnissen führt, habe dafür ein besonderes Gedächtnis auf Gerüche, Geräusche und Geschmacksgefühle, so prägte sich bei mir fürs ganze Leben der Geschmack des Maisbreis, moldauisch, rumänisch, westukrainisch und karpatisch Mamalyga (eine Art Polenta) genannt, aus der frühen Kindheit in der Ukraine ein. Brei, den ich in der Verbannung im Nordural und später in Sibirien schmerzlich vermisst habe, da kein Maisgries zu kaufen war.

Gedanken beim Kartoffelschälen

Man soll den Apfel nicht schälen, heißt es, denn gerade die Schalen enthalten konzentriert die meisten Vitamine; man soll die Kartoffeln nicht dick oder gar nicht schälen, heißt es, denn direkt unter und in der Schale (zur Kriegs- und Nachkriegszeiten eine Delikatesse für uns Ausgehungerten) sammelt und speichert die Kartoffel das Beste.

Aussiedlerfrosch

Wer kennt nicht die Geschichte von den Fröschen im Butterfass, wobei einer nur jammerte und sich nach unten sinken ließ, der andere aber so lange strampelte, bis sich ein Butterklumpen gebildet hatte, von dem aus er in die Freiheit springen konnte. Dieser Frosch bin ich. Sie staunen und glauben mir nicht! Anderes habe ich auch von Ihnen nicht erwartet. Als man uns 1945 bei Berlin festgenommen, interniert und hinter den Ural auf Nimmerwiedersehen verschleppt hatte, warf man uns in den Milchkessel der russischen Sprache. Dabei hat so mancher die Hoffnung verloren, sich mit dem Los abgefunden und aufgegeben. Ich strampelte aber jahrzehntelang, und siehe da, endlich bot sich die Möglichkeit, nach Deutschland auszureisen.

Unterbrochene Linie

Unsere Eltern haben uns nach den Opas und Omas, Onkeln und Tanten, nach lebenden oder gestorbenen, verhungerten oder erfrorenen, im Krieg gefallenen oder vermissten, repressierten oder erschossenen Verwandten und - ging die Fantasie aus - nach sich selbst genannt; nun heißen die Kinder unserer Kinder: Iwan, Wasja, Kolja, Nadja, Sweta, Oksana usw., neuerdings Kevin, Justin, Jim, Pepe, Chantal, Celina, Mehna usw.

Das hätte noch gefehlt

Ich habe über 20 Jahre in Kasachstan Hunderte von Lehrern der deutschen Muttersprache ausgebildet, und das einzig und allein auf der Basis ihrer verschiedensten deutschen Mundarten und Dialekte (oft nur noch in rudimentärem Zustand) entwickelt und entfaltet - eine mehr als heroische Leistung: Dafür hatte aber der Sowjetstaat keine Auszeichnungen, Orden und Medaillen. Bereits sind praktisch alle längst hier, aber auch Deutschland gedenkt nicht, meine Leistung zu würdigen - nun bleiben meine Absolventen mein einziges Ehrenzeichen.

Heimat

Das Schicksal hat mich hin und her gerissen. Wo ist nun meine Heimat: in Russland, in Deutschland? Ich bin ein Kriegskind - der Krieg bleibt wohl meine Heimat.

Vorbereitet von Erna Berg
Nach „Volk auf dem Weg“
In: Zeitung für Dich, Ausgabe Nr. 5 (3750), Mai 2015

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