„Jeder Mensch ist ein Künstler!“ Joseph Beuys muss wissen, wovon er spricht. Schließlich arbeitete der deutsche Aktionskünstler als Bildhauer und Zeichner. In der russischen Künstlerdynastie der Maniser trifft man auf eine ganze Familie, die Künste meisterhaft ausführt. Bei der Betrachtung ihres russlanddeutschen Stammbaums fallen Bildhauer, Grafiker, Mode- und Puppendesigner ins Auge. Tragen Sie etwa das „Künstler-Gen“ in sich? Ein Blick ins 19. Jahrhundert zu werfen lohnt sich.
Noch zu Zeiten der russischen Zaren wurde Heinrich Maniser 1847 in den baltischen Staaten geboren. Er fertigte Gravuren an und war ein talentierter Zeichner. Sogar der letzte Zar Russlands Nikolaus II. gab bei ihm ein Porträt in Auftrag, welches bis heute sehr berühmt ist. Heinrichs Sohn Matwei entschied sich für die gleiche berufliche Richtung. Er ließ sich in seiner Heimatstadt Sankt Petersburg an der Zentralen Hochschule für Technisches Zeichnen des Barons A. L. Stieglitz ausbilden. Des Weiteren folgte ein Studium der Bildhauerei an der Russischen Akademie der Künste. 1926 trat er in die Assoziation der Künstler des Revolutionären Russlands ein. Sieben Jahre später erhielt er den Ehrentitel „Verdienter Künstler der Belorussischen Sowjetrepublik“.
Matweis Erfolg ist auf seine ihm nachgesagte Willensstärke und Präzision zurückzuführen. Zu seinen bedeutenden Aufträgen gehören diverse Lenin-Statuen. Sogar in Moskau vor dem Olympiastadion Luschniki steht bis zum heutigen Tage der in Bronze gegossene Revolutionär. Während Lenins Monumenten aktuell nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt werden, wenden sich sowohl Touristen als auch einheimische Hauptstädter ganz bewusst den Bronzestatuen der Moskauer Metro zu: Egal zu welcher Uhrzeit – wer an der Metrostation „Platz der Revolution“ das Monument des „Grenzbeamten mit seinem Hund“ passiert, streichelt die glänzende goldene Hundenase. Die Berührung soll Glück bringen. Die Wenigsten wissen, dass diese Standbilder dem künstlerischen Talent Matwei Manisers zu verdanken sind. Sein Sohn Hugo erinnerte sich daran, wie der Vater die Skizzen im Zug nach Moskau zeichnete. Trotz der damaligen Verpflichtung zum Sozialistischen Realismus erklärte Matweis Schwiegertochter Nina Leonidowna in einem Interview mit „Wetschernjaja Moskwa“:
„Matwei war ein klarer Anhänger von Traditionen. Aber es ist falsch, ihn einen sozialistischen Realisten zu nennen. Ich habe gelesen, dass er sich selbst als einen „idealistischen Bildhauer“ sah. Er stellte die ästhetische Schönheit des Modells in den Vordergrund.“ Sein umfangreiches Wissen hielt Matwei in Büchern fest. Er gab es der nächsten Generation nicht nur in seiner persönlichen Werkstatt am Surikow-Kunstinstitut weiter, sondern auch an den Hochschulen Moskaus und Sankt Petersburgs.
Ein ganz besonderer Sinn für Schönheit und Ästhetik wird Matweis Frau Jelena Janson-Maniser nachgesagt. Sie schaffte es, ihre Miniaturskulpturen, Porträts und Reliefs außergewöhnlich exakt zu erstellen. Zu ihrer Lieblingsthematik gehörten Sport und insbesondere Tanz. Die Figuren weisen außergewöhnlich realistische anatomische Eigenschaften der Muskeln auf. Der Betrachter erkennt die Anstrengung der abgebildeten Personen. Dabei darf man nicht vergessen, wie schwer es ist, die Pointen der Bewegung feinfühlig im Moment einzufrieren. Wie ihr Mann Matwei beteiligte sie sich an der Gestaltung der Moskauer Metro. Die Station „Dynamo“, geprägt durch 24 ihrer Porzellanreliefs, zeigt verschiedene sportliche Aktivitäten. Des Weiteren arbeitete Jelena mit der weltberühmten Primaballerina Maja Michailowna Plissezkaja zusammen. Die 1925 geborene Tänzerin begann mit elf Jahren in „Dornröschen“ ihre Karriere im Bolschoi Theater. Die Tänzerin wurde in vielfältiger Weise geehrt. Einerseits erschuf die erfahrene Künstlerin Jelena Janson-Maniser grazile Skulpturen nach dem Vorbild der erfolgreichen Ballerina. Andererseits kann man unweit des Bolschoi Theaters den „Maja Plissezkja Platz“ aufsuchen. Dort schmückt ein 288 Quadratmeter großes Graffti-Kunstwerk im neo-avantgardistischen Stil die freie Fläche, worauf Maja gerade den „sterbenden Schwan“ tanzt. Daneben wurde 2016 eine erhabene Bronzeskulptur aus der Werkstatt des Künstlers Viktor Mitroschin eingeweiht. Es scheint, als würde die grazile Maja Plissezkaja als „Carmen“ in der Luft schweben.
Am Beispiel der Ballerina ist zu erkennen, dass nicht nur die Abgebildeten selber, sondern auch die Künstler der Skulpturen über ihren Tod hinaus wirken. Einerseits säumen die bronzenen Charaktere der Familie der Maniser verschiedene Metrostationen, sodass die Haltestellen dem Begriff der „Paläste des Volkes“ gerecht werden. Andererseits sind einige Werke auf verschiedenen Auktionen zu ersteigern. Doch die Geschichte der Maniser Dynastie gehört nicht der Vergangenheit an. Hugo, der Sohn von Matwei und Jelena, nahm Nina Leonidovna, eine Modedesignerin, zur Frau. Er trat in die Fußstapfen seines Vaters und unterrichtete am Surikow-Kunstinstitut Zeichnen.
Ihre Tochter Olga Maniser lebt heute gemeinsam mit ihrem Mann in London. Sie führt die Tradition ihrer Vorfahren in einer neuen Art und Weise fort: Anstatt Bronzefguren anzufertigen, designt sie seit 2008 einzigartige Puppen. Schon als kleines Mädchen besuchte sie gerne das Theater und den Zirkus. Als sie hinter der Bühne des Puppentheaters Obraztsov einer Schauspielerin zusehen durfte, begeisterte sich Olga für die Art, wie die Puppen auf der Bühne plötzlich zum Leben erwachten. Heute schöpft sie ihre Inspirationen für die Gestaltung ihrer Puppen aus russischen Volksmärchen, verschiedenen Reisen und dem venezianischen Karneval. Ein an die russische Kultur angelehntes Projekt ist es, jede beliebige Frau als Matrjoschka zu verkleiden. So kam Olga auf die Idee, Teilnehmerinnen knallrote Lippen aufzumalen, die Wangen zu bepudern und ihnen bunte Strumpfhosen anzuziehen. Speziell designte Mode verwandelt die Frauen in lustige Matrjoschkas. Das bereite allen Beteiligten eine große Freude, so die Initiatorin. Olgas Aufstieg begann jedoch mit den teils menschengroßen „OliaDolls“. Diese Puppen gibt es als Prinzen, Prinzessinnen, Tänzer, Musiker, Gaukler und Clowns. In einem Interview mit dem Magazin „Zima“ erklärt Olga, die Puppen seien durch den russischen Einfluss gleichzeitig ein Ausdruck ihrer Identität. Zukünftig wird sich herausstellen, ob sich Olga Manisers Kinder ebenfalls für eine der vielen Künste interessieren und damit die lange Tradition weiterführen. Das Künstlergen der Maniser-Dynastie tragen sie ganz sicher in sich.