Zwischen Bleiben und Gehen: Diese Zukunftsstrategien sehen Aktivisten

Alle zwei Jahre treffen sich Russlanddeutsche aus zahlreichen russischen Regionen, um Bilanz ihrer Arbeit zu ziehen, Probleme zu thematisieren und Ideen für die Zukunft zu diskutieren. Auch das 15. Forum im Altai war jetzt für die Aktivisten ein Gradmesser für den Stand der Dinge. Wir haben gefragt, welche Rezepte sie für die Existenzsicherung bei anhaltender Abwanderung sehen.

Jewgenij Wagner, Leiter der Deutschen Jugendvereinigung (Tomsk)

Es ist jedem selbst überlassen, ob er sich dafür entscheidet, nach Deutschland überzusiedeln oder nicht, doch die Selbstorganisation der Russlanddeutschen (Anm. d. Red.: Strukturen und Einrichtungen, die auf die Pflege von Geschichte und Kultur der ethnischen Deutschen in Russland gerichtet sind) wie auch die Regierungen Russlands und Deutschlands tun alles dafür, dass es sich für die Deutschen sowohl in Russland wie auch in Deutschland gut leben lässt. Ich und meine Familie – wir wollen hier nicht weg. Mir gefällt es in meiner Heimatstadt und ich weiß genau, dass ich mich mit meinen Talenten und Fähigkeiten in Russland nützlich machen kann.

Die Zukunft der Russlanddeutschen sehe ich in der persönlichen Weiterentwicklung. Die Leute sollten sich einer Sache widmen, die ihnen am Herzen liegt und in der sie gut sind: Wenn du ein Talent fürs Geschäftliche hast – mach dein Geschäft auf, wenn du künstlerisch veranlagt bist – tanze, male. Je mehr Profis es unter uns gibt, desto besser auch für die Außenwirkung unseres Volkes.

Drei Pfeiler, auf denen die Selbst organisation in den kommenden Jahrzehnten ruhen wird: Bildung, Kultur und Infrastruktur. In der Bildung – mit dem Schwergewicht auf dem Erlernen der deutschen Sprache. In der Infrastruktur – durch die Schaffung von Deutsch-Russischen Häusern überall dort, wo Russlanddeutsche leben. Die Kultur wühlt die Herzen auf, sie bereichert die Gesellschaft. Es gilt, unsere Bewegung interessanter für schöpferische Menschen zu machen. Denn meist sind sie es, die die Ansichten der Leute von einer Ethnie zu ändern vermögen. Über die Russlanddeutschen sind noch immer gewisse Vorurteile anzutreffen. Mit Hilfe der Kunst können wir sie entkräften.


Pawel Eckert, Leiter des Deutsch-Russischen Hauses in Omsk

Unter den Führungskräften der Selbstorganisation sehe ich sehr wenige Jugendliche, das macht mir Sorge. Verzeihen Sie mir diese Banalität, aber die Jugend ist unsere Zukunft, wir müssen ihr beibringen, wie man Führungsaufgaben übernimmt. Denn nur Kontinuität verheißt eine stabile Zukunft.

In Omsk können wir uns ansonsten nicht beklagen. Wir haben das Deutsch-Russische Haus, wo wir Projekte durchführen und von der Kultur der Russlanddeutschen erzählen können, das ist nicht allen Regionen vergönnt. Im Haus hat sich eine junge Mannschaft formiert, alle sprechen gut Deutsch. Unsere Sonntagsschule wird von 78 Kindern besucht, die Deutschkurse sind überfüllt. Wir mussten 200 Interessenten absagen – es gibt einfach keinen Platz, um weitere Gruppen zu eröffnen.

In Omsk und der Omsker Oblast sind die Deutschen als Minderheit stark repräsentiert. Wir haben keine Angst, auf Deutsch zu singen, auf Deutsch zu reden, wie das früher einmal der Fall war. Wir bemühen uns, Traditionen in den Alltag einfließen zu lassen. Nationale Gerichte stehen heute bei vielen deutschen Familien auf dem Speiseplan. Und an großen Feiertagen tragen wir Tracht.


Oleg Strahler, Vorsitzender der National-Kulturellen Autonomie der Russlanddeutschen in der Komi-Republik

Die Selbstorganisation befindet sich im Aufwind. Obwohl wir kein eigenes Territorium haben und über das gesamte Land verstreut sind, fangen wir an, uns als ein Volk zu verstehen. Wir können viele erfolgreiche Projekte vorweisen, allerdings scheint mir, dass wir über den Projekten die Menschen vergessen. Wir müssen ihnen mehr Aufmerksamkeit entgegenbringen, mehr Begegnung schaffen, mehr erklären. Das kostet nichts, außer Seelenwärme.

Ja, es gibt viele Familien, die Russland Richtung Deutschland verlassen. Die Selbstorganisation setzt sich jedoch nach Kräften dafür ein, dass die Menschen bleiben.


Jelena Geidt, Vorsitzende der National-Kulturellen Autonomie der Russlanddeutschen im Kreis Marx (Region Saratow)

Die Zukunft der Deutschen in Russland ist meiner Meinung nach mit mehreren Faktoren verknüpft: Dazu gehören die Interaktion mit anderen Nationalitäten in Russland, die Jugend- und die Sozialarbeit. Wir brauchen mehr Projekte, die das Zusammenleben der Nationalitäten in Russland fördern, von denen es rund 200 gibt. Und jede davon hat unglaublich viel Kultur im Gepäck. Wenn wir uns etwas Gemeinsames einfallen lassen, bereichern wir uns gegenseitig und lernen uns besser verstehen.

Die jungen Russlanddeutschen von heute sind wunderbar: mutig, kreativ, mit guten Deutschkenntnissen. Bei uns im Wolgagebiet floriert das Theater. Stücke, die mit jungen Laienschauspielern besetzt sind, erfreuen sich nicht nur bei Russlanddeutschen großer Beliebtheit. Nach einer Aufführung zum Thema Reformation sagte ein Zuschauer im Saal einmal: „Vielen Dank, endlich hat mir jemand verständlich erklärt, wer Martin Luther war und was er getan hat.“ Ich denke, dass die Zukunft solchen aufklärerischen Projekten gehört. Wobei ich hoffe, dass im Kreis Marx ein Sozial- und Kulturzentrum für ältere Russlanddeutsche geschaffen wird, von dem wir bereits so lange träumen.

Geplant sind auch Touren durchs Wolgagebiet für Menschen, deren Familien einst von dort verbannt wurden. Die Nachkommen der Deportierten werden die früheren Heimatorte mit eigenen Augen sehen, deren Geschichte erfahren, an Gottesdiensten teilnehmen. Denn Geschichte ist nichts, was vergangen ist, sondern das, worauf sich die Zukunft gründet.


Kommentar:

Von den Menschen hinter den Zahlen Im vergangenen Monat sind 802 Spätaussiedler in Deutschland eingetroffen, vor allem aus Russland und Kasachstan. Aufs Jahr wird mit mehr als 7000 gerechnet. Es ist schwer für mich, so etwas zu lesen. Denn hinter den Zahlen verbergen sich Menschen.

Ich kenne fünf von den 802: Es handelt sich um eine junge Familie aus Tomsk mit drei Kindern. 2017 haben wir in der Zeitung darüber geschrieben, dass sie Adventskalender herstellen und im Internet verkaufen. Dieses Jahr gestalten sie keine Adventskalender, sondern ihr neues Leben in Deutschland.

Ich kenne weitere fünf von den 7000, nämlich die Familie einer Professorin und Prorektorin einer großen russischen Hochschule, ebenfalls Mutter von drei Kindern. Ich habe sie nicht gefragt, warum sie gegangen ist. Sie hat mir selbst geschrieben, diese Entscheidung sei das Ende eines langen Prozesses gewesen, sie sei „wohl überlegt und richtig“.

Die Mütter aus diesen beiden Familien kenne ich über 15 Jahre. Was hat sie – erfolgreich im Beruf, gesellschaftlich aktiv und engagiert bei der Bewahrung der Kultur der Russlanddeutschen – veranlasst, nach Deutschland überzusiedeln?

Monat für Monat packt jemand aus dem Freundes-, Bekanntenoder Kollegenkreis die Koffer. Es ist bitter, diesen Exodus mitzuverfolgen, auch wenn sein Höhepunkt in die 90er Jahre fiel. Ich möchte weiterhin daran glauben, dass die Russlanddeutschen als Volk eine Zukunft haben. Und dass unsere Kinder hier glücklich sein werden.

Olga Silantjewa, Chefredakteurin der MDZ, die ebenfalls deutsche Wurzeln hat.

Der Artikel erschien erstmals in der Moskauer Deutschen Zeitung 11/2018. Zusammengestellt von Ljubawa Winokurowa.

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