Vom Parkplatz auf die Bühnen der Welt – „Let´s dance“ Folklore!


Er füllte den Parkplatz, den Friedhof und das ehemalige Beerdigungsinstitut mit neuem Leben: Viktor Scherf ist leidenschaftlicher Tanzlehrer in Rheinland-Pfalz. Sowohl deutschland- als auch weltweit begeistern seine begabten Tanzschüler das Publikum mit ihren einstudierten Volkstänzen. WarumDarum hat ein Interview mit dem Leiter der Tanzschule „Let´s dance“ Viktor Scherf geführt. In insgesamt fünf Räumen in Altenkirchen unterrichtet er heute mit seinen vier Kolleginnen und Kollegen 500 Kinder, Erwachsene und Senioren.

Sehr geehrter Herr Scherf, bitte stellen Sie sich kurz unseren Lesern und Leserinnen vor.

Sehr gerne. Ich bin Viktor Scherf und leite die Tanzschule in Altenkirchen im Westerwald. Ich bin in Kasachstan geboren und habe in Barnaul an der Fachhochschule für Tanzen studiert. 1995 bin ich dann nach Deutschland mit einem einzigen Koffer und 120 D-Mark gekommen. Ich musste mein Leben von null an komplett neu aufbauen. Vor genau 17 Jahren habe ich mit einigen Jugendlichen zusammen eine Tanzschule gegründet. Ich habe mit ein paar Kindern im Wohnheim angefangen zu tanzen. Aber es gab keinen geeigneten Platz für uns. Deswegen sind wir zuerst auf den Parkplatz des Friedhofs gegangen. Da die Polizei das nicht wollte, haben wir im Flur des Wohnheims weitergetanzt. Es ging immer weiter und weiter. Irgendwann haben wir uns entschlossen, eine Tanzschule neu zu gründen. Ein Gebäude zu bauen, hat nicht funktioniert, aber wir haben ein früheres Beerdigungsinstitut gefunden. Nach dem Umbau haben wir mit 40 Leuten die Tanzschule „Let´s Dance“ im Jahr 2001 gestartet.

Kennen Sie Details zu ihrem russlanddeutschen Familienhintergrund?

Vor kurzer Zeit haben wir herausgefunden, dass Nikolaus Scherf vor 250 Jahren nach Russland kam. Mein Bruder schaute im Archiv und in der Kirche nach.

Wie sind Sie zum Tanzen gekommen?

Ich habe mit 21 Jahren angefangen zu tanzen, das ist sehr spät. Ich war damals ein junger Mann. Einmal sah ich auf der Straße einer Tanzgruppe zu. Da wollte ich unbedingt mitmachen. Anfangs tanzte ich als erwachsener junger Mann zusammen mit 12- und 13-jährigen Kindern zusammen. Das war ein bisschen komisch aber es hat mir gefallen! Meinen Job als Bürokaufmann habe ich gekündigt und bin nach Barnaul zum Studium gegangen.

Was finden Sie, zeichnet das Tanzen aus? Inwiefern hebt es sich von anderen Sportarten ab?

Das kann ich am besten an meinem eigenen Beispiel erklären: mit 17 Jahren hatte ich Rheuma. Mein Arzt sagte mir: „Viktor, wenn Du nicht mit dem Sport beginnst, dann sitzt du mit 35 Jahren im Rollstuhl.“ Ich war damals 17 Jahre alt und erklärte, dass ich Leichtathletik mache und Basketball und Volleyball spielte. Dann antwortete der Arzt mir: „Du musst etwas anderes machen: Tanz!“ Mit 21 Jahren fing ich mit dem Tanzen an. Ich erwartete mit sehr großer Angst die 35 Jahre. Aber als es soweit war, habe ich nichts gespürt. Ich führe ein ganz normales Leben.

Was macht Ihnen mehr Spaß – zu tanzen oder das Tanzen zu unterrichten?

Sagen wir so: Es hat mir schon immer Spaß gemacht, zu unterrichten. Kinder kommen zu mir und können anfangs noch nicht tanzen – und auf einmal bewegen sie sich! Und die Erwachsenen sowieso! Nach zwei bis drei Jahren beherrschen sie alle elf Standardtänze. Ich habe es stets geliebt, was ich mache und am Ende ein Resultat zu sehen. Das ist sehr spannend.

Ist Ihre Tanzschule ein Rückzugsort für russlanddeutsche Jugendliche?

Viele Kinder sprechen kein Russisch – sie verstehen natürlich sehr viel, aber sprechen es nicht. Wir haben hier in der Tanzschule 22 bis 25 Nationalitäten. Natürlich sprechen wir hier nur Deutsch. Wenn die Leute das gleiche Hobby haben, dann funktioniert die Integration! „Let´s Dance“ wurde 31 Mal Deutscher Meister und 23 Mal Weltcupsieger. Das ist das Resultat, welches wir mit den Kindern zusammen erreicht haben.

„Moskau begrüßt die Gäste“ ist ein Festival, an dem Sie ebenfalls teilnahmen – was ist es für ein Gefühl, mit den Kindern und Jugendlichen nach Russland für einen Wettbewerb zu fahren?

Wenn wir in Moskau zu Besuch sind, tanzen wir natürlich in russischen Kostümen. Aber die anderen Kinder wissen nicht, dass meine Schüler auch Russisch verstehen. Einmal meinte ein russischer Junge zu seinem Freund: „Hör mal, welche Sprache spricht der denn?“ Der Freund antwortete: „Ich glaube sie sprechen Deutsch.“ Der russische Junge darauf: „Das verstehe ich nicht, wieso haben sie unsere Kostüme an?“ Das war sehr lustig!

Sie vertreten Deutschland bei dem internationalen Wettbewerb World Folk Vision. Was macht diesen Wettbewerb aus?

Jedes Volk stellt seinen eigenen Tanz vor. Wir waren vor kurzem in Kirgistan. Ich muss ehrlich sagen, ich bin kein super, super Choreograph in deutschen Volkstänzen. Trotzdem: Wenn wir nun zu einem internationalen Wettbewerb fahren, fahren wir nun nicht mehr ohne einen deutschen Volkstanz im Gepäck. Das ist mir persönlich sehr, sehr wichtig. In Deutschland ist der Volkstanz komplett verloren gegangen. Wir, die Tanzschule, veranstalten den Tanzwettbewerb „Deutsche Welle“. Dadurch ist unsere Folklore-Gruppe sehr bekannt in Deutschland. Wir haben viele Anfragen von anderen Tanzschulen, die nicht so viele russlanddeutsche Kinder unterrichten wie wir. Mindestens zwei bis drei Mal im Jahr gebe ich deutschlandweit Workshops. Es ist sehr schön, dass die Tanzschulen wieder Folklore tanzen. Langsam kommt das Interesse wieder.

Unterrichten Sie ausschließlich Kinder?

Die Kinder werden aus einem Radius von bis zu 60 Kilometern von ihren Eltern zu uns gebracht. Einige kommen fünf Mal in der Woche zum Tanzen. Freitags sind sie zum Beispiel von zwei Uhr nachmittags bis sechs Uhr abends bei uns in der Tanzschule. Das sind vier Stunden. Viele von ihnen wollen später Tanzprofis werden. Ein Junge studiert nun in der Stadt Frankfurt (Main), um Bühnentänzer zu werden. Nein, auch Erwachsene und Senioren. Einmal im Monat fahre ich zum Behinderten-Rollstuhltanz. Das gehört auch dazu. Man darf nicht immer nur an Geld denken, sondern auch an die Leute. Ein paar Senioren, die bei mir tanzen, unterstützen mich. Donnerstags fahren wir zu den kranken Menschen. Wir tanzen zusammen mit ihnen und hatten sogar schon Auftritte.

Tanzen verbindet – Stimmt es, dass drei ihrer Paare geheiratet haben?

Es ist sogar noch besser: Die Paare haben jetzt Kinder, die mittlerweile auch bei mir tanzen lernen. Vor drei Monaten sind 16 Frauen und Männer zurückgekommen, mit denen ich damals auf dem Parkplatz getanzt habe. Ihre Kinder tanzen auch bei mir und donnerstags kommen immer die Erwachsenen. Ich bin sehr überrascht, wie gut sie es immer noch beherrschen. Obwohl die Erwachsenen ganze 17 Jahre Pause gemacht haben. Aber das Wichtigste ist, dass sie mit dem Herzen zum Tanzen kommen!

Ist der traditionelle Volkstanz überhaupt noch aktuell oder veraltet?

Der größte Applaus bekommt jedes Mal auf’s Neue der Volkstanz. Einheimische schauen gebannt auf die Kinder – sie können sich nämlich nicht vorstellen, dass die Tradition immer noch fortgeführt und weitergegeben wird. Wir haben ganz viele Auftritte, wo die Zuschauer sogar Tränen in den Augen haben. Sie kommen auf mich zu und fragen: „Was war das gerade?“. Eine 85-jährige Dame kam eines Tages zu den Kindern und mir und sagte: „Kinder, Ihr habt mir noch einmal die Freude am Leben geschenkt.“ Das vergesse ich nie wieder.

Rubriken: Nachrichten aus den Regionen