Lebenswelten von Russlanddeutschen: Die deutsch-russische wissenschaftliche Fachtagung in Detmold


Vom 22. bis 23. Juli fand im Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold die deutsch-russische wissenschaftliche Fachtagung „Lebenswelten von Russlanddeutschen in der Sowjetunion nach 1953 und bis heute“ statt.

Die Veranstaltung, die von der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen und dem Internationalen Verband der deutschen Kultur organisiert wurde, fand anlässlich des 80. Jahrestages der Deportation der Deutschen aus der UdSSR statt.

Dank des gemischten Online- und Offline-Formats der Fachtagung hatten Referenten und Teilnehmer aus Russland und Deutschland die Möglichkeit, sich über die aktuelle Situation und neue Perspektiven in der Erforschung der historischen Vergangenheit der Russlanddeutschen auszutauschen.

Eines der Diskussionsthemen war die Definition der „Lebenswelt“ für Russlanddeutsche.

„Wenn man die aktuelle Situation betrachtet, dann sind es wirklich zwei Welten, weil die Familien zum Teil in Deutschland und zum Teil in Russland leben. Und man ist ständig in einer Verbindung mit den Verwandten. Das ist die Realität, in der wir leben. Und vielleicht ist deswegen auch die Bedeutung der deutschen Sprache so gestiegen, weil es immer mehr Verwandte in Deutschland gibt“, so Olga Martens, die erste stellvertretende Vorsitzende des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur. „Neben dem Alltagsleben gibt es natürlich noch die kulturelle Welt oder die Frage der Identität. Neuestens habe ich eine heftige Diskussion in den Sozialen Medien erlebt, wo die älteren Mitglieder der Landsmannschaft die jüngeren Mitglieder sehr stark konfrontiert haben mit der Frage, was denn die eigene Identität sei. Ist sie Deutsch oder Russlanddeutsch? Man hat sich gegenseitig angegriffen. Es wurde auch kritisiert, dass man seinen russischen Teil nicht verbirgt und nicht verheimlicht, sondern offen darüber spricht. Das ist zurzeit in der deutschen Minderheit in Russland eine Realität. Russlanddeutsche haben eine doppelte Identität: selbstverständlich zum Teil die Russische, wenn man in russischen Verhältnissen lebt und auch die Deutsche.

Wir leben in zwei Welten und das schließt auch die Perspektive der politischen Entwicklung ein. Als die deutsche Minderheit in Russland ist man sehr stark auf die staatlichen Entwicklungen angewiesen. Dadurch, dass Russland ein Vielvölkerstaat ist, wird diesen zwischennationalen Sachen eine sehr hohe Bedeutung zugeschrieben.“

„Ich würde sogar sagen, dass Russlanddeutsche in drei Welten leben“, sagt Johann Thießen, der Bundesvorsitzende der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland. „Eine Welt ist die, in der sie geboren und aufgewachsen sind. Dann gibt es die Generation, die nach Deutschland gereist sind, die sich eine ideelle Welt vorgestellt hatten, dass sie nach Deutschland kommen und unter den Deutschen leben. Aber die Entwicklung, die in den letzten Jahren in Deutschland stattgefunden hat, wo so viele Nationalitäten dazugekommen sind und hier ihre Heimat gefunden haben, ist für diese Generation fremd und sie müssen sich neu integrieren. Und zum Schluss gibt es noch die Generation, die hier von klein auf oder hier geboren und aufgewachsen sind.

Und das ist wiederum eine andere Welt und es sind andere Vorstellungen. Was mir sehr gefällt, ist, dass die junge Generation der kommenden Generation Aufklärung leistet, dass sich die Welt ändert und man dies akzeptieren muss, dass man in einem völkerreichen Deutschland lebt und dass das normal ist.“

„Wir haben wissenschaftlich gehärtet. Auch durch soziologische Untersuchungen wurden ein Leitbild und ein Ideal gefunden, dass Identität am besten funktioniert, wenn sie nicht abgeschlossen ist, wenn sie nicht abgrenzt, sondern wenn sie offen ist. Wir wissen heute auch, dass eine offene Identität, die sich aus erleben und leben in unterschiedlichen Kulturen mit unterschiedlichen Sprachen speist und dass das eher was Bereicherndes ist“, so Hartmut Koschyk, Vorsitzender des Stiftungsrates der Stiftung „Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland“. „Deshalb glaube ich, dass man die Russlanddeutschen, egal wo sie leben, immer ermutigen muss, diese offene Identität zu pflegen und dass sie keinen Teil der Kultur, der sie sich verbunden fühlen, zu verstecken brauchen.

Und unsere Aufgabe als Bundesrepublik Deutschland, aus Sicht der Politik und Zivilgesellschaft, beruht darauf, dass wir den Deutschen in der Russischen Föderation, in Zentralasien dabei helfen, in einer möglichst guten Partnerschaft mit den jeweiligen Regierungen zu stehen und dass sie auch ihre deutsche Identität, Kultur, Muttersprache, Mundart und religiöse Identität pflegen können. In Deutschland geht es darum, dass wir sie gut integrieren, aber dass wir sie nicht assimilieren.

Natürlich ist die deutsche Sprache der Schlüssel zur Integration, aber das heißt nicht, dass ich meine russischen Sprachkenntnisse und meine Prägungen in Russland, Kasachstan und Kirgisistan abschneide. Identität soll offen sein und sie muss unterschiedliche kulturelle Wurzeln vereinen. Und das ist bereichernd!“


Sehen Sie sich die Online-Fachtagung in voller Länge auf dem YouTube-Kanal der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen an.

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