Start des deutsch-russischen Kulturhistorischen Seminars


Am 28. Oktober startete das jährliche Kulturhistorische Seminar für junge Forscher aus Russland und Deutschland. Das Seminar findet zum sechsten Mal vom 28. bis 29. Oktober statt.

Das Hauptziel des Kulturhistorischen Seminars ist die Bewahrung, Entwicklung und Popularisierung der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen, indem man die unterschiedlichen Generationen der Forscher aus Russland und Deutschland dazu motiviert, wissenschaftliche Forschungen in diesen Bereichen zu betreiben. Das Thema des diesjährigen Seminars lautet „Kultur – Zivilgesellschaft – Wissenschaft: international“. Aufgrund der Beschränkungen durch die Pandemie fand es im Online-Format statt.

Olga Martens, Kandidatin der philosophischen Wissenschaften und erste stellvertretende Vorsitzende des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur, sowie Kornelius Ens, M. A. und Leiter des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte (Detmold), richteten ihre Begrüßungsworte an die Teilnehmer.

Olga Martens bedankte sich bei den Vertretern der wissenschaftlichen Gesellschaft und den neuen Projektteilnehmern für das Interesse an der Kultur und Geschichte der Russlanddeutschen.

„Mir ist aufgefallen, dass die jungen Leute, die heute in Deutschland leben, ein äußerst großes Interesse an der Heimat oder das Land haben, wo einst ihre Eltern lebten. Sie erforschen die Geschichte und Kultur unseres Volkes. Dieses Phänomen ist wichtig für die Forschung. Vielleicht wird es uns gelingen, die Prozesse, die in Deutschland stattfinden, im Rahmen des Kulturhistorischen Seminars zu verstehen. In Russland ist dies leichter zu erforschen, denn hier sind wir eine nationale Minderheit, die fest in ihren Ursprüngen verwurzelt ist“, sagt Olga Martens.

Auch Kornelius Ens bedankte sich bei den Organisatoren und Teilnehmern des Seminars und wies auf die internationale Thematik des Projekts hin:

„Die Teilnehmer stellen sich die wichtige Aufgabe, die Ergebnisse ihrer Forschungen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Es ist wichtig, dass auch das Thema der Deportation angesprochen wird. Der Raum der Erinnerung schafft gleichzeitig auch einen Raum der Kommunikation. Weitere Strategien der Zusammenarbeit können auf den entstehenden Kommunikationsplattformen aufgebaut werden“.

Laut den Experten hilft das Kulturhistorische Seminar zu verstehen, wie wissenschaftliche Erkenntnisse über die Russlanddeutschen umgewandelt und in einem breiten Medienraum und in der Öffentlichkeit präsentiert werden können sowie wie die Bedeutung der historischen Erinnerung im Zusammenhang mit dem 80. Jahrestag der Deportation der Sowjetdeutschen aufgezeigt werden kann.

Während des Seminars diskutieren die Teilnehmer Themen wie das kulturelle Erbe der Russlanddeutschen in der zeitgenössischen Literatur; Museen, Bibliotheken und Ausstellungen von Russlanddeutschen; Projekte internationaler Partner; das kulturelle Erbe der Russlanddeutschen in ihrem neuen Erscheinungsbild; Dialekte der Russlanddeutschen; das Theater, klassische Musik und das Kino der Russlanddeutschen; die Tätigkeit der Selbstorganisation der Russlanddeutschen; Erinnerungsprojekte zur Deportation und andere.

Edwin Warkentin, M. A. und Leiter des Kulturreferats für Russlanddeutsche (Detmold), hielt einen Vortrag zum Thema „Erinnern und Gedenken – aktuelle Aspekte der Erinnerungskultur im Zusammenhang mit dem 80. Jahrestag der Deportation der Deutschen in der Sowjetunion“. „Unter ‚Erinnerungskultur‘ verstehen wir die Formen des bewussten Erinnerns an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse. In diesem Jahr haben zahlreiche Initiativen und Projekte gezeigt, wie sehr dieses zentrale Thema der Erinnerungskultur der Russlanddeutschen beachtet wird. Vor allem werden wir während des Kulturhistorischen Seminars neue Wege kennenlernen, mit diesem Thema umzugehen“, sagt er.

Der Dokumentarfilm über die Nachfahren der deportierten Deutschen „Nächster Halt“ wurde von der Regisseurin Ludmilla Russakowa und der verantwortlichen Produzentin und Mitarbeiterin des Instituts für ethnokulturelle Bildung – BiZ Olga Gordijtschuk vorgestellt. Die Filmemacherinnen erzählten in ihrem Vortrag „Dokumentarfilm als moderne Form der Darstellung der historischen Erinnerung“ über die Besonderheiten dieses Genres, zeigten den Unterschied zwischen der Chronik und dokumentarischer Beobachtung und erläuterten die Universalität des Themas „Deportation“ zur Bewältigung historischer Traumata. Der Film wurde in den Regionen Krasnojarsk und Altai, im Gebiet Omsk sowie in Moskau und Hamburg gedreht. Die Filmhelden waren drei Generationen der Russlanddeutschen.

Laut Olga Gordijtschuk ist es gelungen, in dem Film die unterschiedlichen Möglichkeiten zur Bewältigung von historischen Traumata zu zeigen: der Besuch von Orten, wo einst ihre Vorfahren lebten; Besuch von Therapeuten; Inszenierungen auf Basis der Erinnerungen von Deportierten usw. Die Filmhelden erzählten, wie sie die Geschichte ihrer Familie erfuhren und wie sie mit den schlimmen Erinnerungen zurechtgekommen sind, die ihnen erzählt wurden. Olga ist überzeugt, dass solche Traumata über Generationen hinweg weitergegeben werden.

Der Regisseur Alexej Getmann (Köln) erzählte über die Verwendung von Web-Formaten in der Arbeit und von dem Projekt „Webdokumentation als ein Vermittlungsformat einer nichtlinearen Narration ‚Lost history, shared memories‘. Deportationen in der Sowjetunion – russlanddeutsche und tschetschenische Perspektive Nachfolgegenerationen“.

Der Theatermacher Juri Diez (München) stellte sein Projekt „IM FLUSS DER ZEIT – Eine Rauminstallation“ anlässlich des 80. Jahrestages der Deportation der Russlanddeutschen auf der Studiobühne des Instituts für Theaterwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität in München vor.

„Ich habe mich schon immer für das Thema der alternativen Darstellung der russlanddeutschen Geschichte interessiert. Wie können wir es schaffen, dass die Menschen historische Ereignisse selbst erleben und in die Geschichte eintauchen können? Dies ist uns bei dem neuen Projekt gelungen. Es gibt Bilder, Tonaufnahmen und Videos. Wir haben es so eingerichtet, dass eine Person, die von Raum zu Raum geht, in das Haus eintaucht, die Stimmen der Menschen hört und die Wärme spürt.

In dem Raum mit dem Thema der Deportation spürt man die Kälte und das Geratter der Räder. Viele junge Russlanddeutsche, die in Deutschland leben, stellen sich die Fragen: Wer bin ich? Und wo ist meine Heimat? Das ist etwas, was wir oft mitbekommen. Am 28. August kamen viele Menschen zur Eröffnung der Ausstellung, darunter auch junge Leute, was zeigt, dass sie sich für das Thema interessieren“, sagt Juri Diez.

Daniel Gebel, M. A. und Aktivist im Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (Oldenburg), sprach über die Arbeit des Forschungsverbundes „Ambivalenzen des Sowjetischen: Diasporanationalitäten zwischen kollektiven Diskriminierungserfahrungen und individueller Normalisierung, 1953-2023“.

Tatjana Schmalz, Doktorandin an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), erzählte über den Einsatz digitaler Formate in der Forschungsarbeit. In ihrem Vortrag „Forschung durch Digitalisierung: Eine Open Source Online-Bibliographie“ stellte sie ihre Forschungserfahrung vor: eine Datenbank für Bibliographien zur Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen.

Elena Schlegel, Doktorandin der Staatlichen Universität Fjodor Michailowitsch Dostojewski (Omsk), stellte ihr Projekt „Sprache als Teil der Identität der Deutschen in Russland und Kasachstan – ein Interviewprojekt“ vor. Das Projekt reflektiert zeitgenössische sprachliche und ethnokulturelle Prozesse der Deutschen in Russland und Kasachstan. An dem Projekt nahmen 1000 Personen teil, die sich selbst als Deutsche bezeichnen. Sie beantworteten 73 Fragen, von denen sich 20 auf die Sprache bezogen. Die Ergebnisse der umfangreichen Forschungsarbeit werden in einem wissenschaftlichen Artikel veröffentlicht.

Ekaterina Liebert, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Instituts für Philologie der Sibirischen Abteilung der Akademie der Wissenschaften, und Sara Töws, Lehrerin der Schule in Neudatschino (Gebiet Nowosibirsk), sprachen über die Erforschung und Bewahrung der Dialekte der Russlanddeutschen. Sie berichteten über ihre Erfahrungen beim Erlernen des Dialekts als Muttersprache am Beispiel des Kindersprachklubs auf „Plautdietsch“.

Laut Sara Töws wird der Dialekt im Kindersprachklub mündlich erlernt, da er keine offizielle Schriftform hat. Die Kinder spielen, malen und machen Rollenspiele. Diese Art von Erfahrung kann in den Orten angewendet werden, in denen es noch Mundartsprecher gibt.

Die Teilnehmer des Seminars waren sich einig, dass die Vorträge dazu beitrugen, die Bedeutung des Themas der historischen Erinnerung in Russland und Deutschland im Kontext des 80. Jahrestages der Deportation zu bewerten. Die Forscher sprachen auch über die Notwendigkeit eines weiteren Dialogs und betonten die Bedeutung solcher Veranstaltungen.

Im Rahmen des Seminars wurde ein informatives Online-Quiz zur Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen durchgeführt, dessen Gewinner vom Goethe-Institut in Moskau ein Stipendium für einen Deutschkurs erhalten werden.


Das Projekt wird durch das Unterstützungsprogramm für Russlanddeutsche in der Russischen Föderation finanziert.

Übersetzt aus dem Russischen von Evelyn Ruge

Rubriken: 80. Jahrestag der DeportationAssoziation der Forscher