Die Teilnehmer des Kulturhistorischen Seminars fassten die Ergebnisse zusammen

Am 29. Oktober fand der zweite und letzte Tag des jährlichen Kulturhistorischen Seminars zum Thema „Kultur – Zivilgesellschaft – Wissenschaft: international“ statt, an dem Forscher und Experten aus Russland und Deutschland teilnahmen.

In der Diskussion erörterten die Teilnehmer aktuelle Probleme bei der Erforschung der historischen Vergangenheit unseres Landes und sprachen darüber, welche neuen Formate genutzt werden könnten, um das kulturelle Erbe der Russlanddeutschen zu popularisieren.

In dem Vortrag „Deutsche der UdSSR in den ersten Kriegsmonaten. Deportation und deren Folgen“ von Arkadi German (Saratow), Doktor der historischen Wissenschaften und Professor an der Staatlichen Universität Saratow, stellte fest, dass sich das Schicksal der Deutschen in den ersten Wochen und Monaten des Krieges in den verschiedenen Regionen des Landes unterschiedlich entwickelte. Einige befanden sich an der Heimatfront und waren in den nationalen Kampf zur Abwehr der Aggression eingebunden, und andere befanden sich im Kriegsgebiet oder sogar unter Besatzung.

„Mit dem Ausbruch des Krieges und insbesondere nach den ersten schweren Niederlagen wurde das Bild einer ‚fünften Kolonne‘ in der UdSSR in den Köpfen der sowjetischen Führung immer realer und bedrohlicher. Es begann die Deportation der Sowjetdeutschen. Es handelte sich um eine für den Stalinismus typische Rückversicherungsmaßnahme, die unter dem Standpunkt der strategischen Interessen gerechtfertigt schien. Gleichzeitig wurden die unvermeidlichen negativen Folgen für das Schicksal Tausender Menschen nicht berücksichtigt“, sagt Arkadi German.

Nicht die Deportation selbst, sondern die Lügen, welche die Russlanddeutschen als Volksverräter brandmarkten, hatten nach Ansicht des Historikers die schwerwiegendsten Folgen für sie und machten sie für viele Jahre zu Ausgestoßenen in der sowjetischen Gesellschaft.

Natalia Rostislavleva (Moskau), Professorin und Doktorin der historischen Wissenschaften an der Russischen Staatlichen geisteswissenschaftlichen Universität, sprach in ihrem Vortrag „Russlanddeutsche im Fokus junger ForscherInnen“ über die Forschung junger Wissenschaftler.

„Die historische Erinnerung hat unterschiedliche Schwerpunkte und somit haben wir uns auf die Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen konzentriert. Wir nutzen den Raum des Dialogs, binden die jungen Wissenschaftler ein und betreiben interdisziplinäre Forschung. Die Idee, die vor etwa sechs Jahren entstand, wurde vom Institut für ethnokulturelle Bildung – BiZ und der Kulturabteilung der Deutschen Botschaft in Moskau unterstützt und verwirklichte sich in Wettbewerben für studentische Forschungsprojekte“, sagt der Historiker.

Es hat bereits vier solcher Wettbewerbe gegeben. Im Laufe der Jahre hat sich das Projekt von einem regionalen zu einem internationalen entwickelt.

Die Gewinnerin eines dieser Wettbewerbe war Alfia Magaramova (Moskau), Studentin des Moskauer Staatlichen Instituts für Internationale Beziehungen, die auf dem Seminar einen Vortrag mit dem Titel „Besonderheiten der Mikrogeschichte im Bereich der Russlanddeutschen: das widersprüchliche Familienschicksal von Gottlieb Kirsche“ hielt.

Der Vortrag von Arsenij Mineev (Moskau), Masterstudent an der Staatlichen Universität Moskau für Geodäsie und Kartographie, widmete sich den geografischen Besonderheiten des Wohnraumes der Russlanddeutschen. Arsenij stellte den praktischen Teil der Arbeit vor und präsentierte die von ihm erstellten Karten, welche die Anzahl der Deutschen in Südsibirien und Nordkasachstan sowie den Anteil der Deutschen an der Gesamtbevölkerung zeigen.

Dr. Daria Khrushcheva (Bochum) stellte in ihrem Vortrag „Osteuropastudien (mit integriertem Praxissemester)“ den Masterstudiengang der Ruhr-Universität in Kooperation mit dem Osteuropakolleg Nordrhein-Westfalen vor.

„Der Masterstudiengang beinhaltet ein Praxissemester, das die Möglichkeit bietet, in Museen, Archiven, Bibliotheken, Kulturstiftungen und -zentren zu hospitieren. Den Studenten wird eine breite Palette von Möglichkeiten geboten und sie können ihr eigenes Projekt entwickeln oder an einem bereits laufenden Projekt teilnehmen. Die Masterstudenten erwerben Fähigkeiten im Umgang mit digitalen Ressourcen und arbeiten an der Bewahrung der historischen Erinnerung“, sagt Daria Khrushcheva.

Jan Pöhlking (Bochum) absolviert derzeit einen Masterstudiengang an der Ruhr-Universität. Auf dem Seminar präsentierte er die Online-Dokumentation „Auch wir treten aus unseren Rollen heraus. Das Deutsche Schauspieltheater in Temirtau und die Deutschen in der Sowjetunion zwischen Bleiben und Gehen“. Das Interesse des jungen Forschers an der russlanddeutschen Kultur ergab sich aus Gesprächen mit Freunden und Bekannten mit russlanddeutscher Herkunft. Jan sagt, die Geschichte der Russlanddeutschen sei sehr facettenreich, aber in der deutschen Makrogeschichte nur unzureichend vertreten. Er ist der Meinung, dass die Geschichte dieser Volksgruppe, die teilweise außerhalb Deutschlands stattfand, in die Gesamtgeschichte des Landes integriert werden sollte.

Katharina Saprygin (Bochum), M. A. und Mitarbeiterin der Martin-Opitz-Bibliothek in der Ruhr-Universität, sprach über die digitale Ausstellung „Russlanddeutsche. Die Zeiten des Umbruchs 1917-1991“.

Das aktuelle Problem der Geschichtsberichterstattung im Internet wurde von Tatjana Ilarionowa (Moskau), Doktorin der philosophischen Wissenschaften, Professorin an der Russischen Akademie für Volkswirtschaft und öffentliche Verwaltung beim Präsidenten der Russischen Föderation, in einem Vortrag behandelt.

„Es ist wichtig, dass sich am Gedenktag – dem 80. Jahrestag der Deportation – eine große Anzahl von Autoren auf Websites, die auf Geschichtsberichterstattung spezialisiert sind, auf Websites von Russlanddeutschen und auf Websites führender föderaler, regionaler und lokaler Massenmedien gemeldet haben.

Auch in den sozialen Medien ist das Interesse an der Geschichte groß und auf Facebook und Instagram herrscht rege Aktivität. Viele haben die neue Plattform auf YouTube für sich entdeckt, darunter auch das Institut für ethnokulturelle Bildung – BiZ, das professionelle Videos zur Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen produziert. Solche Mittel tragen dazu bei, das kulturelle und historische Erbe des Volkes zu popularisieren“, sagt Tatjana Ilarionowa.

Tamina Kutscher (Lüneburg), M. A. und Chefredakteurin des Portals dekoder.org, stellte das gemeinsame Projekt mit dem Nordost-Institut „Onlinedossier: Russlanddeutsches Diarama“ vor.

Am Beispiel von „Steppenkinder. Der Aussiedler Podcast“ zeigte Ira Peter (Mannheim), M. A., Autorin und Journalistin, wie der Podcast als Methode zur Popularisierung von Kultur und Geschichte genutzt werden kann. Laut Irina sind die Besucher des Podcasts Menschen, die persönliche Geschichten erzählen, die beim Projektpublikum beliebt sind. Auch Experten sind an dem Projekt beteiligt.

Anna Blinowa (Omsk), Kandidatin der Historischen Wissenschaften und Mitarbeiterin am Institut für Archäologie und Ethnographie der Sibirischen Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften, sprach über die Nutzung von Museen als Ressource zur Popularisierung der Geschichte.

„Durch die Organisation von Ausstellungen und Veranstaltungen zur Vermittlung des traditionellen Handwerks der Russlanddeutschen wird eine umfangreiche Bildungsarbeit geleistet. Die Interaktion mit den Besuchern spielt eine wichtige Rolle bei der Lebendigkeit der Ausstellung. In vielen Museen sind die Besucher eingeladen, Wäsche mit einem Mangelbrett und einer Rolle zu bügeln, Butter aufzuschlagen, Eimer auf einem Tragjoch zu tragen, Nationalgerichte zu probieren und bei der Abnahme eines Brautkranzes bei einer Hochzeit mitzuwirken“, sagt die Forscherin.

Die Geschichte der Wolgadeutschen ist im multimedialen Park der Geschichte „Russland – meine Geschichte“ in Wolgograd zu sehen. Ludmilla Falaleeva (Wolgograd), Mitarbeiterin des Parks, erzählte in ihrem Vortrag „Geschichte der Wolgadeutschen im regionalen Kontext des Wolgograder Parks der Geschichte“ über die Besonderheiten der Organisation der Ausstellung mit einer regionalen Komponente in der Exposition eines großen gesamtrussischen Projekts.

„(re-)searching identity – escape game im Museum“ lautet der Titel des Projekts von Nico Wiethof (Detmold), M. A. und Mitarbeiter des Museums für russlanddeutsche Kulturgeschichte in Detmold. Am Beispiel eines Computer- und Handyspiels, das auf der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen basiert, zeigte der Forscher die Bedeutung des Gamification-Prozesses für die Popularisierung des kulturellen und historischen Erbes des Volkes.

Das Projekt „Humboldt. Was die Welt im Innersten zusammenhält“, das 2019 anlässlich des 250. Geburtstages des deutschen Wissenschaftlers und des 190. Jahrestages seiner Reise durch Russland entstanden ist, wurde von der Schauspielerin, Regisseurin und Professorin für Schauspiel an der Universität von Florida Monika Gossmann und dem Vorsitzenden des Alexander-von-Humboldt-Kulturforums Schloss Goldkronach e.V. und dem Vorsitzenden des Rates der Stiftung „Verbundenheit mit den Deutschen im Ausland“ Hartmut Koschyk, vorgestellt.

„In der Inszenierung ist es gelungen, die Biografie Alexander von Humboldts zu zeigen, sein schweres Verhältnis zu seinem Bruder zu reflektieren und die Atmosphäre seiner Beziehung zu Schiller und Goethe zu vermitteln. All dies wurde in einer einzigen Aufführung zusammenfassend dargestellt. In dem jetzt erschienenen Buch kann man das Drehbuch der Inszenierung in zwei Sprachen lesen und die Entstehungsgeschichte der Aufführung mit Teilnahme von Schauspielern aus Russland und Deutschland erfahren“, sagt Hartmut Koschyk.

„Eine Theateraufführung darf nicht langweilig sein. Sie muss Emotionen wecken, wozu die Wissenschaft nicht immer imstande ist“, sagt die Regisseurin der Inszenierung Monika Gossmann. „Wir hatten die Aufgabe, Alexander von Humboldt als Person vorzustellen. Es war uns wichtig, die Beweggründe für seine Handlungen zu zeigen und seine innere Welt widerzuspiegeln“.

Die Regisseurin erzählte auch von ihren Ideen, einen Film über die Russlanddeutschen zu drehen. Laut Monika Gossmann birgt die Idee, die Geschichten nationaler Minderheiten zu erzählen, großes Potenzial.

Die Vertreter des Jugendrings der Russlanddeutschen Nelli Artes und Alexej Buller (Ufa, Tjumen) sprachen über die Nutzung neuer Formate zur Erforschung der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen. Sie stellten das Projekt „Moderne Exkursionsformate an deutschen Orten in Russland“ vor. Irina Skwortzowa, Vertreterin des Jugendrings der Russlanddeutschen in Omsk, berichtete über das kulinarische Projekt „Daheim ist Dahoom“.

Edwin Warkentin (Detmold), Leiter des Kulturreferats für Russlanddeutsche und M. A., resümierte, dass das Potenzial digitaler Formate derzeit nicht vollständig ausgenutzt wird. „Wir haben die Möglichkeit, digitale Tools effektiver zu nutzen, um die Herausforderungen der Popularisierung des kulturellen und historischen Erbes der Russlanddeutschen zu meistern“, betonte Edwin Warkentin.

Zum Abschluss des Kulturhistorischen Seminars wies Olga Martens, erste Stellvertretende Vorsitzende des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur, besonders auf das Projekt „Moderne Exkursionsformate an deutschen Orten in Russland“ hin.

„Es ist ein ziemlich kompliziertes Projekt, wenn man es gründlich untersucht. Ich erinnere mich, wie schwierig es für uns war, die Gedenktafel für Boris Rauschenbach in Moskau anzubringen und welche Anstrengungen es uns gekostet hat, das Gedenkzeichen in Saratow anzubringen, das schließlich abgebaut wurde. Ich erinnere mich, wie 2011 die Wolgadeutschen ein Denkmal für die Opfer der Deportation errichteten und es während der Einweihungsfeierlichkeiten Proteste gab. Dieser Aspekt könnte eines der Themen des nächsten Kulturhistorischen Seminars sein“, so Olga Martens.

Sie wies auch darauf hin, dass sich die deutsche Gemeinschaft in Russland auf den Jahrestag von Immanuel Kant freut. Diese Weltgeschichte kann im Rahmen des Kulturgeschichtlichen Seminars behandelt werden.

Die Teilnehmer des Seminars waren sich einig, dass die akademische Gemeinschaft der interdisziplinären Forschung zur Bewahrung der kulturellen und historischen Erinnerung der Russlanddeutschen Aufmerksamkeit schenken sollte.

Abschließend betonte Olga Martens, dass das Kulturhistorische Seminar eine nachhaltige Entwicklung genommen hat und einen zunehmenden Erfolg zu erzielen beginnt.

Das Projekt wurde im Rahmen des Unterstützungsprogramms für Russlanddeutsche in der Russischen Föderation durchgeführt.

Übersetzt aus dem Russischen von Evelyn Ruge

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