Das Deutsche Theater in Temirtau und Alma-Ata: Ein Theater auf dem Weg zu seinem Publikum


  Das Informationsportal der Russlanddeutschen RusDeutsch präsentiert Ihnen einen Artikel von Edwin Warkentin über die Geschichte des deutschsprachigen Theaters in Russland sowie über das Deutsche Theater in Temirtau und später in Alma-Ata von seiner Gründung im Jahr 1980 bis heute. Der Artikel bietet dem interessierten Leser einen detailierten historischen Überblick über den Werdegang des deutschsprachigen Theaters in Russland, die Besonderheiten  seines Repertoires über die Jahrhnderte, beleuchtet sehr eingehend politische Zusammenhänge und  zahlreiche interessante Fakten und wahre Geschichten aus dem Leben des Theaters.

Das Informationsportal der Russlanddeutschen RusDeutsch präsentiert Ihnen einen Artikel von Edwin Warkentin über die Geschichte des deutschsprachigen Theaters in Russland sowie über das Deutsche Theater in Temirtau und später in Alma-Ata von seiner Gründung im Jahr 1980 bis heute. Der Artikel bietet dem interessierten Leser einen detailierten historischen Überblick über den Werdegang des deutschsprachigen Theaters in Russland, die Besonderheiten seines Repertoires über die Jahrhnderte, beleuchtet sehr eingehend politische Zusammenhänge und zahlreiche interessante Fakten und wahre Geschichten aus dem Leben des Theaters.

Ein Artikel von Edwin Warkentin

Das deutschsprachige Theater hat in Russland eine reiche und lange Tradition. Seit Mitte des 17. Jahrhunderts leitete der katholische Priester Johann Gottlieb Gregorii ein Theater in Moskau. In bester Tradition der jesuitischen geistlichen Komödien unterhielt er das Publikum in deutscher und russischer Sprache. Später war das Theater in Russland stark von den deutschen Klassikern geprägt. Anfang des 20. Jahrhunderts war das Theaterleben besonders eng mit dem Russlanddeutschen Wsewolod Meyerhold verbunden, auf den sich Theatermacher weltweit auch heute noch beziehen.

Während das deutsche städtische Bürgertum in Russland ein ausgeprägtes Theaterleben entwickelte, blieben die Deutschen auf dem Land bis Anfang des 20. Jahrhunderts ohne Theatereinrichtungen. Die Pfarrer und die Lehrer sorgten in den Kolonien der deutschen Siedler an der Wolga, in der Südukraine und im Kaukasus für eine volkstümliche Laientradition. Sie inszenierten mit den Schülern und den Konfirmanden zu Feiertagen für die Eltern und alle anderen Dorfbewohner kleinere Stücke. Neben dem weihnachtlichen Krippenspiel war eine Geschichte besonders populär, die Geschichte des Kirgisenmichels, eines Jungen der aus seinem Heimatdorf Marienthal von Nomaden in die Sklaverei verschleppt wurde und auf eine wundersame und abenteuerliche Art und Weise nach vielen Jahren wieder zurückkehrte. Ob jung oder alt, alle kannten und liebten diese Geschichte.

Mit der Gründung der Wolgadeutschen Republik entstand auch das erste professionelle Theater der Wolgadeutschen. Das seit 1931 existierende „Deutsche Staatstheater“ in der Republikhauptstadt Engels konnten auf einmal bis zu 800 Zuschauer besuchen. Auch in Odessa und in Dnepropetrowsk entstanden deutsche Bühnen, in diesen Theatern wurden deutsche Klassiker wie Goethe, Schiller, Lessing und Kleist gespielt. Aber es wurden auch eigene Stücke und Stücke in den Mundarten der Russlanddeutschen gespielt wie das Stück „Der eigene Herd“ von Andreas Sachs am „Deutschen Staatstheater“ in Engels. Das Theaterleben der Russlanddeutschen war besonders in den 1930er Jahren sehr ausgeprägt, sie tauschten sich nicht nur untereinander aus, sondern auch mit den bekanntesten Theatermachern in Moskau und in Deutschland. Der Anfang des Zweiten Weltkrieges bedeutete ein plötzliches Ende nicht nur für die Theater, sondern auch für das gesamte Kulturleben der Russlanddeutschen für die nächsten Jahrzehnte.

Erst am zweiten Weihnachtstag 1980 konnte wieder ein deutsches Theater für sein Publikum den Vorhang heben. In der kasachischen Industriestadt Temirtau im Gebiet Karaganda wurde nach vierzig Jahren ein Theater von Deutschen für die Deutschen wiedereröffnet und das ist seine Vorgeschichte:

In der ersten Hälfte der 1970er Jahre wurde im Kulturministerium beschlossen für jede nationale Minderheit in der Sowjetunion ein eigenes muttersprachliches Theater einzurichten. Bei einem deutschen Theater erhoffte man sich, dass deutsche Klassik und Moderne in der Originalsprache auf der Bühne inszeniert wird. Eigens dafür wurde an der renommierten Moskauer Schtschepkin-Theaterhochschule ein deutsches Studio eröffnet, 36 junge Talente aus den Siedlungsgebieten der Deutschen konnten schließlich die schwierigen Prüfungen bestehen und wurden dort aufgenommen. Vier Jahre wurden die Studenten in allen Gebieten der Theaterkunst ausgebildet. Dazu gehörten neben Bühnensprache, Bühnenbewegung, Tanz und Gesang auch solche Fertigkeiten wie Fechten, Schminken und Frisieren. Aber das wichtigste war die Ausbildung in der hochdeutschen Bühnensprache, wofür die damals besten Hochschullehrer für die deutsche Sprache beauftragt wurden. Die Schauspielstudenten haben eine der besten Ausbildungen bekommen, die es damals gab. Viele von ihnen hätten das Zeug gehabt auch im theaterreichen Moskau zu bleiben, aber das Publikum und die Herausforderungen warteten dort auf sie, wo die Deutschen damals lebten.

Die Stadt Temirtau wurde mit Bedacht als Spielstätte gewählt, denn in Zentral- und Nordkasachstan sowie im angrenzenden Westsibirien lebten fast alle Deutschen der Sowjetunion. Das Ensemble bekam den „Kulturpalast der Metallurgen“ – ein prächtiges Gebäude als Spielstätte. Es war groß, hatte echte Säulen und einen mit Figuren ausgeschmückten Giebel. Von außen sah es wie ein griechischer Tempel aus. Innen war das Theater reich verziert, hatte bunte Deckengemälde und Kronleuchter. Der größte und schönste Kronleuchter hing im Zuschauerraum, der mehr als 400 Zuschauern Platz bot. Bereits das Gebäude alleine machte auf die Theaterbesucher einen bleibenden Eindruck. So ein großes Theater musste auch von sehr vielen Mitarbeitern betrieben werden. Zu den Schauspielern aus dem ersten Abschlussjahr kamen einige Jahre später noch weitere dazu. Insgesamt waren es dann 40 Schauspieler und etwa 100 Mitarbeiter des Theaters, neben Regisseuren und Dramaturgen, Tanz- und Gesangsausbildern, Musikern, Komponisten, Bühnenbildnern, Tonmeistern und Lichtmeistern gehörten dazu auch Schreiner, Kassierer, Elektriker, Fahrer und viele mehr. Wichtig war auch die Buffetdame, da sie in den Pause die Zuschauer mit Getränken und Häppchen versorgte - auch das gehört zu einem gelungenen Theaterabend.

So groß die Erwartungen an die junge Truppe waren, so groß waren auch die Herausforderungen. In vielerlei Hinsichten war das Deutsche Theater in Temirtau kein herkömmliches Theater, das Theater sollte für sein Publikum da sein und nicht das Publikum für das Theater. Das heißt, die unterschiedlichen Eigenarten der Russlanddeutschen bestimmten den Charakter des Theaters als Reisetheater, als ein Theater für Stadt- und Landbevölkerung, als ein Theater für Jung und Alt sowie als Institution für den Erhalt des kulturellen und historischen Erbes der Russlanddeutschen.

Die Deutschen lebten in der Sowjetunion weit verstreut und oft auf dem Land. Obwohl die Eintrittspreise sehr günstig waren, konnte sich nicht jeder eine lange Fahrt nach Temirtau leisten. Und wie es im Sprichwort heißt „wenn der Prophet nicht zum Berg komm, kommt der Berg zum Propheten“, reiste das Theater zu seinem Publikum. Jedes Jahr ging das gesamte Ensemble mit allem Nötigen ausgestattet auf mehrere Gastreisen. Diese führten das Theater überall dorthin, wo es Deutsche gab, egal ob sie in der Stadt oder auf dem Dorf lebten - von Riga in Lettland bis Taschkent in Usbekistan, von Saratow an der Wolga bis nach Novosibirsk in Sibirien. Es gab kaum einen Ort mit deutscher Bevölkerung, an dem das Theater nicht war. Wenn es in einem Dorf kein Klubgebäude gab, dann wurde auch mal unter freiem Himmel gespielt. Und wenn es kein Gasthaus gab, dann übernachteten die Schauspieler zuhause bei ihren Zuschauern, die sie mit viel Freude beherbergten.

Auch was die Stückauswahl betraf, mussten sich die Theatermacher auf ihr Publikum einstellen. Nicht jeder mochte klassische Theaterstücke und nicht jeder war offen für leichte Komödien. So musste das Repertoire vielseitig gestaltet werden. In Städten wurde deutsche Klassik wie „Kabale und Liebe“ von Friedrich Schiller oder „Der zerbrochne Krug“ von Heinrich von Kleist gespielt. Auch wurde moderne deutsche Klassik wie „Draußen vor der Tür“ von Wolfgang Borchert, „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt oder „Mann ist Mann“ von Bertold Brecht auf die Bühne gebracht. Für die Liebhaber der leichtern Kost wurden Dorfkomödien wie „Hilfe ich werden geheiratet“ von Franz Xaver Kroetz oder „Hab oft im Kreise der Lieben“ von Irene Langemann inszeniert. Ein besonders anspruchsvolles aber auch sehr dankbares Publikum waren die kleinsten Theaterbesucher, für sie wurden deutsche Märchen inszeniert. Das erste war „Die Schneekönigin“, es folgten „Hensel und Gretel“, „Des Teufels goldene Haare“ und die moderne Kindererzählung „Die Kikerikiste“ von Paul Maar. Das populärste Märchenstück war „Der gestiefelte Kater“, dieses Kinderstück haben im Laufe von fast 15 Jahren mehrere Zehntausende Kinder und Jugendliche in der ganzen Sowjetunion besucht.

Eine weitere Herausforderung war die Sprache in der gespielt wurde. Obwohl es logisch erscheint, dass ein deutsches Theater in deutscher Sprache spielt, war es trotzdem nicht ganz einfach. Zur Mitte der 1980er Jahre war die Kenntnis der hochdeutschen Sprache unter den Russlanddeutschen stark zurückgegangen. Die meisten sprachen aber ihre Mundarten und alle sprachen Russisch. Außerdem gab es Theaterinteressierte, die weder Deutsche waren noch deutsch konnten. Auch für sie sollte eine Lösung gefunden, und so hat man sich für eine Simultanübersetzung über eine Kopfhöreranlage entschieden. Zuschauer, die kein deutsch verstanden oder sich nicht ganz sicher waren, konnten über einen Kopfhörer das von der Bühne Gesprochene zeitgleich in russischer Sprache hören. Für die Gastspiele hatte man eine mobile Übersetzungsanlage, die vor jedem Abend installiert werden musste. Anders in den deutschen Dörfern, in denen die meisten Menschen noch ihre Mundarten sprachen, für sie hatte man Theaterstücke in wolgadeutscher Mundart inszeniert. So zum Beispiel „Hab oft im Kreise der Lieben“, „Der lustige Tag“ oder „Hilfe ich werde geheiratet“. Das Stück „Der lustige Tag“ war das erste Theaterstück seit 1941 in dem von der Bühne die wolgadeutsche Mundart gesprochen wurde.

Seine vielleicht wichtigste Aufgabe fand das Theater im Erhalt des kulturellen Erbes der Russlanddeutschen. Zum Ende der 1980er Jahre entwickelte es sich zum Zentrum der deutschen Kultur in der Sowjetunion, da es die größte und vom Staat am besten geförderte Kultureinrichtung der Russlanddeutschen war. Es gab ein großes Bedürfnis die Kultur der Russlanddeutschen wiederzubeleben. Da viele Traditionen und Bräuche langsam in Vergessenheit zu geraten drohten, inszenierte das Theater zusammen mit Volkskundlern, Musikwissenschaftlern und Zeitzeugen aus den älteren Generationen Stücke, in denen die Folklore der Russlanddeutschen präsentiert wurde. Solche Theaterstücke waren „Das Volksfest“ von Peter Warkentin und „Hab oft im Kreise der Lieben“ von Irene Langemann. Im Stück „Das Volksfest“ wurden alle deutschen Feiertage im Jahreszyklus, geschmückt durch Lieder, Tänze und viele bunte Trachten, gezeigt. Eine wahre Freude bereitete dem Publikum das Stück „Hab oft im Kreise der Lieben“, das von allen einfach nur „Dorfhochzeit“ genannt wurde. Es wurde eine einfache russlanddeutsche Dorfhochzeit mit vielen Schwänken, Schnörkelliedern und witzigen Dialogen in der wolgadeutschen Mundart nachgespielt. Das Stück hatte insofern kein Ende, als das Publikum im Anschluss an das Bühnenspiel die Möglichkeit hatte, mit den Schauspielern im Foyer des Theater weiter zu feiern. Neben diesen Bühnenstücken lud das Theater auch Laiengruppen zu sich ein um Erfahrungen auszutauschen. Aus dieser Zusammenarbeit entwickelte sich die Idee, ein Allunionsfestival der deutschen Folkloreensembels zu organisieren. 1988 fand schließlich das erste Festival dieser Art in auf der Bühne des Theaters in Temirtau statt. Aus allen Ecken der Sowjetunion kamen Hunderte Laiendarsteller, Chöre, Folkloregruppen, Tänzer und Sänger zusammen. Sogar mehrere talentierte Schwänkeerzähler, eine Art russlanddeutscher Komiker, traten auf, um das Publikum zum Lachen zu bringen. Ein echter Star unter den russlanddeutschen Schwänkeerzählern war Minna Schmidt, die in ihrer Jugend selbst Schauspielerin im deutschen Theater an der Wolga war.

Ein weiterer Bereich der Pflege des kulturellen Erbes beinhaltete Stücke über die Geschichte und das Schicksal der Russlanddeutschen. Der berühmte russlanddeutsche Autor Viktor Heinz schrieb für das Theater eine Trilogie über die Geschichte der Volksgruppe. Die Stücke hießen „Auf den Wogen der Jahrhunderte“, „Menschen und Schicksale“ und „Jahre der Hoffnung“. Zum ersten Mal wurde von der Bühne offen über das Schicksal der Deutschen in der Sowjetunion gesprochen. Viele Zuschauer erfuhren dabei von ihrer Geschichte und viele Zeitzeugen konnten ihre Tränen und ihre Freude nicht verbergen, dass über die Russlanddeutschen wieder gesprochen wurde.

1989 ergab sich für das Theater die Möglichkeit, in die kasachische Hauptstadt Almaty, damals Alma-Ata umzusiedeln. Die wichtigsten Gründe für den Umzug waren die Erhebung des Theaters in den Rang eines staatlichen Theaters und die Zusage, ein neues und modernes Theatergebäude in der Hauptstadt zu bekommen. In diesem Augenblick befand sich das Ensemble auf dem Höhepunkt seiner Entwicklung. Aus den Beziehungen zu Theatermachern in der BRD und der DDR ergaben sich fruchtbare Kooperationen. Auch mehrere Gastspiele führten das Ensemble in deutschsprachige Länder. Dort war das Publikum begeistert zu erfahren, dass es Deutsche in der Sowjetunion gibt und dass sie ein ausgeprägtes kulturelles Leben führen. Wenn man so will, dann hätte man das Theater als die Visitenkarte der Russlanddeutschen bezeichnen können. Eins der Ergebnisse dieses Engagements war die Einrichtung einer Filiale der Theaterhochschule Ulm am Deutschen Theater in Almaty. Dort bildeten westdeutsche Theaterpädagogen die nächsten Generationen junger russlanddeutscher Schauspieler aus.

Allerdings ereignete sich der vielversprechende Umzug zu einer für das Theater ungünstigen politischen Zeit. Durch den Zerfall der Sowjetunion kam es zur Umverteilung der Zuständigkeiten, plötzlich fühlte sich in der Regierung niemand mehr für die früheren Zusagen zuständig. Das Ensemble stand nun ganz ohne ein Dach über dem Kopf da. Einige Jahre vergingen bis die Truppe ein kleines ehemaliges Kino als Theatergebäude erhielt. Zusätzlich stellte sich ein große Auswanderungswelle der Russlanddeutschen nach Deutschland ein. Und so zogen nahezu alle Schauspieler mit ihrem Publikum nach Deutschland. 1994 fand die letzte Premiere mit dem ursprünglichen Ensemble statt, im selben Jahr verließen die letzten Schauspieler „der alten Garde“ das Theater um jetzt für ihr Publikum in Deutschland zu spielen. Noch im selben Jahr gründeten einige Schauspieler aus Almaty das Russland-Deutsche Theater in Deutschland, das es bis heute noch gibt. 2010 feierte das Theater sein dreißigjähriges Jubiläum.


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