Ein unvergessener Ort: Neue Kirche mit langem Weg über Zürich bis Sorkino

Manche bezeichnen es als Wunder, andere sehen darin ein Denkmal russischer Absurdität. Ungeachtet dessen, was viele sagen, ist gewiss: Die lutherische Kirche im Wolga-Dorf Sorkino, die vom Unternehmer Karl Loor aufwändig restauriert wurde, lässt niemanden gleichgültig. Am 3. Oktober 2015 wird sie eingeweiht (Moskauer Deutsche Zeitung vom 23. September 2015). 

Manche bezeichnen es als Wunder, andere sehen darin ein Denkmal russischer Absurdität. Ungeachtet dessen, was viele sagen, ist gewiss: Die lutherische Kirche im Wolga-Dorf Sorkino, die vom Unternehmer Karl Loor aufwändig restauriert wurde, lässt niemanden gleichgültig. Am 3. Oktober 2015 wird sie eingeweiht (Moskauer Deutsche Zeitung vom 23. September 2015).


Von Olga Silantieva


Auf der Autobahn irgendwo zwischen Samara und Wolgograd. Es gibt zwar eine relativ gute Anbindung, aber die Fahrt von Marx Richtung Samara ist nicht gerade komfortabel. Rund 40 Kilometer nördlich des Gebietszentrums zeigt der Wegweiser nach Sorkino. Das Dorf liegt unweit der Autobahn. Hier gibt es ein- und zweistöckige Gebäude und Gärten. Es gibt hier verlassene Holzhäuser und marode Zäune. Auf den ersten Blick ist es ein gewöhnliches Dorf in Zentralrussland, fast schon ein Kaff. Aber es stellt sich heraus: Dieser Ort ist besonders, weil er unvergessen ist.

Im Zentrum von Sorkino gibt es auf der einen Seite Straßen, auf dem ein solide gebautes zweistöckiges Haus mit abgeblättertem Putz steht, auf der anderen Seite fällt der Blick auf ein ähnliches einstöckiges Gebäude. Und gleich daneben befindet sich ein rotes Backsteingebäude sowie eine von unglaublicher Schönheit gekennzeichnete Kirche mit smaragdgrüner Kirchturmspitze. Einfach daran vorbeizugehen wäre selbst in Deutschland eher unwahrscheinlich.

Die deutsche Kolonie Zürich (heute das Dorf Sorkino) wurde im Jahre 1767 gegründet. Im Jahr 1941 wurden die Einwohner Zürichs deportiert. In ihren Häusern wurden Flüchtlinge aus den besetzten Gebieten untergebracht. Im Jahre 1942 wurde das Dorf schließlich umbenannt. Heute leben 750 Menschen in Sorkino - sowohl Orthodoxe als auch Muslime. Lutheraner gibt es hier nicht, aber laut der Dorfleiterin Elena Ponomarewa gibt es Familien, in denen mindestens ein Mitglied russlanddeutsche Wurzeln hat. Selbstverständlich freuen sich die Einheimischen, dass die Kirche restauriert wird. Sie wird ein kulturelles Zentrum sein. Hier werden Kinder zeichnen lernen, Musik- und Gesangsstunden und andere Formen von kreativen Beschäftigungsmöglichkeiten erhalten. Es werden hier auch Gottesdienste stattfinden. Sie können von Vertretern verschiedenen Glaubensrichtungen abgehalten werden. Darüber hinaus wird auch ein Hotel Gäste aus Nah und Fern empfangen.

Die neue Kirche ist das Verdienst eines Geschäftsmannes aus Starij Oskol namens Karl Loor. Seine Vorfahren - Johannes und Katharina Lor (Loor) - waren die ersten Einwohner der deutschen Kolonie. Im Jahre 1941 wurden ihre Nachkommen nach Sibirien deportiert. Dort, in einem der Dörfer in der Region Kemerowo, wurde Karl Karlowitsch im Jahr 1955 geboren. Er absolvierte erfolgreich sein Studium, wurde Baumeister und schließlich Verdienter Bauherr der Russischen Föderation.

Im Jahr 2010 war Karl Loor das erste Mal in der Heimat seiner Vorfahren. Sein Geburtshaus fand er nicht wieder, aber er entdeckte eine verlassene Kirche. Im Jahr 2011 kam er erneut an die Wolga, wo der Internationale Verband der deutschen Kultur (IVDK) in Engels Gedenkveranstaltungen zum 70. Jahrestag der Deportation der Wolgadeutschen abhielt. Karl Loor weihte damals das Denkmal für jene Deutschen ein, die Opfer von Unterdrückung in der Sowjetunion wurden. Einen erheblichen finanziellen Beitrag für die Einweihung des Denkmals leistete er. In Engels lernte Karl Karlowitsch die Saratower Historikerin Olga Litzenberger kennen. In ihrem Gespräch redeten sie über Sorkino. Olga Litzenberger erzählte ihm, sie besäße Zeichnungen der Zürcher Gemeinde Jesu. Sowohl dank Loor und Litzenberger konnte die Kirche bald rekonstruiert werden. An diesem Tag war die Entscheidung hierzu getroffen worden.

„Alles geschah parallel, unabhängig voneinander träumten wir von der Restaurierung der Kirche, auch wenn wir zunächst nicht daran glaubten“, sagt Olga Litzenberger. „Mir fehlte bis dato ein solch wunderbarer Mensch und Philanthrop wie Karl Karlowitsch, ihm wiederum fehlten die entsprechenden Zeichnungen. Und dann, eines Tages, trafen wir uns ganz zufällig und beschlossen, dieses unglaubliche Projekt zu verwirklichen.“

Für die Umsetzung des Projekts wurde die Stiftung zur Restaurierung der deutschen Kirchenarchitektur „Zürich-Sorkino“ ins Leben gerufen. Im Dorf nahm ein großes Expertenteam aus der Region Belgorod schließlich seine Arbeit auf: Juristen, Architekten, Designer, sogar Bauherren kamen zusammen, um zu helfen. In den zwei Jahren, in denen die Bauarbeiten durchgeführt wurden, wurde die Kirche aus den Ruinen gehoben.

„Es ist ein schönes zeitliches Zusammentreffen, dass am gleichen Tag, dem 3. Oktober, in Deutschland der Tag der Deutschen Einheit stattfindet, der in diesem Jahr anlässlich „25 Jahre Deutsche Einheit“ mit einer mehrtägigen Festveranstaltung in Frankfurt am Main gefeiert wird. Mein Wunsch für Sie und alle Deutschen aus Russland ist, dass Gottes Segen in diese Kirche einziehen und ein “Haus der Einheit“ werden möge. Möge das Gotteshaus zu einem Treffpunkt für Jung und Alt werden, in dem der Geist der Harmonie, des Friedens und der Freude herrscht. Gottes Segen für Sie alle!“, so die Landesbeauftragte für Heimatvertriebene und Spätaussiedler des Landes Hessen, Margarete Ziegler-Raschdorf, die im August anlässlich der Feierlichkeiten zum 250. Jahrestag der Stadt Marx auch nach Sorkino reiste.

“Ich kann mir vorstellen, dass die prachtvolle neu aufgebaute Kirche und das Hotel zu einem Anziehungspunkt werden können, der viele Menschen- auch von weiter weg - zusammenführt. Meines Erachtens sollte dieser Ort auch genutzt werden, um eine Brücke in die russische Gesellschaft und Politik zu schlagen. Die Deutschen aus Russland könnten hier eine Vermittler- und „Scharnier“- Funktion einnehmen. Mit ihren Kenntnissen der russischen und der deutschen Sprache sind sie wertvolle Vermittler und Brückenbauer nach Russland hinein. Darauf sind wir - ist Deutschland - in diesen Zeiten der Konflikte mit der russischen Politik dringend angewiesen. In dieser Hinsicht könnten Kirche und Hotel zu einem wertvollen Ort der Begegnung und des Austausches werden“, so die Landesbeauftragte.

Jetzt wartet man im Dorf auf neue Gäste, darunter auch aus Deutschland, die, wie man hofft, den Tourismus in der Region fördern sollen. Karl Loor hat sich für die nächsten 49 Jahre verpflichtet, die Kirche und das neben ihr gebaute Hotel zu unterstützen. Der Unternehmer hofft, dass seinem Beispiel viele Menschen folgen und in der Region Saratow Dutzende von baufälligen Gebäuden ehemaliger Kirchen verschiedener Konfessionen restauriert werden.

Übersetzt aus dem Russischen.

Moskauer Deutsche Zeitung

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