Margarita Matowa: „Die Geschichte der Familie Kracht zog mich völlig in ihren Bann“

Am 5. März fand im Deutsch-Russischen Haus in Moskau mit Unterstützung des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur ein kreativer Abend statt, welcher der Kracht-Dynastie gewidmet war. Der Höhepunkt der Veranstaltung war die Präsentation der Dilogie: „Bildhauer Konstantin Kracht (1868–1919) und die Epoche. Ein Blick in ein Jahrhundert später“ und „Bildband der Werke des Bildhauers Konstantin Kracht (1868–1919)“.

In einem Interview mit dem Portal RusDeutsch erzählte die Autorin der Publikationen, Margarita Matowa über die in Russland berühmt gewordene Familie Kracht. Margarita heiratete einen Angehörigen der fünften Generation der russischen Familie Kracht, den Doktor der Medizinwissenschaften und Professor der Sportmedizin Wladimir Matow.

Wenn nicht ich, wer dann?

Die Geschichte fing damit an, dass sich nach der Gründung der Russischen Föderation Anfang der 1990-er Jahre der Zugang zu den staatlichen Archiven „ein wenig ermöglicht“ wurde. Somit beschlossen mein Mann und ich damals, die Geschichte seiner Familie zu erforschen und wieder aufleben zu lassen. Die Materialien wurden buchstäblich stückweise gesammelt, da es nur sehr wenige Dokumente im Familienarchiv gab, und in alten Fotoalben gab es keine Informationen (weder Daten noch Namen der dort abgebildeten Personen). Da kam die Hilfe der älteren Generationen der Familie Kracht, die zu dieser Zeit lebten, gerade recht. Mein Mann erinnerte sich an die Geschichten seiner Mutter Elena Kracht-Rybinskaja und anderer Familienmitglieder und beschrieb diese Familiengeschichten und -legenden wunderschön in seinem ersten Buch, das 1995 der Beginn unserer „Kracht-Saga“ war.

Die Arbeit in den Archiven erwies sich als äußerst interessant und hat mich völlig gefesselt. Es war eine wunderbare Zeit! Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon lange als leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem akademischen Institut gearbeitet, war Kandidatin der psychologischen Wissenschaften und hatte viele wissenschaftliche Arbeiten. Jedenfalls musste ich in die Geschichte eintauchen, aber nicht in die, die wir in der sowjetischen Schule gelernt hatten, und ich fand große Zufriedenheit in der Suche und den Entdeckungen.

Jeder Fund war ein echter Segen! Ich musste die Geschichte sowohl von Russland als auch von Deutschland lernen, was gewiss nicht so einfach war! Ich habe sogar ohne Beherrschung der deutschen Sprache die Dokumente der Evangelisch-Lutherischen Kirche durchforstet, in denen die Geburt und der Tod von Lutheranern registriert wurden.

Das erste Buch der „Kracht-Saga“ haben wir gemeinsam geschrieben, nachdem jedoch mein Mann, mit dem wir 60 Jahre lang zusammenlebten, verstorben war, setzte ich die Arbeit allein fort, da ich merkte, dass es sonst niemanden gab, der sie weiterführen konnte. Wenn nicht ich, wer dann?

Aus dem weiten Deutschland...

Die Vorfahren der Familie Kracht kamen aus dem Deutschen Kaiserreich, aus dem Großherzogtum Mecklenburg-Schwerin, das sich nach dem Krieg mit Napoleon in Bedrängnis befand. Wie damals geschrieben wurde, „ist in Mecklenburg-Schwerin nichts als Sand übrig geblieben“. Jetzt ist Schwerin ein wohlduftender Erholungsort und eine wunderschöne Altstadt, die man gesehen haben muss.

Die erste Generation der deutschen heimatvertriebenen Familie Kracht nahm nicht die russische Staatsbürgerschaft an und änderten ihre deutschen Namen nicht in russische. Jedoch die zweite Generation, die schon in Russland geboren wurde, darunter auch der Vater des Bildhauers Konstantin Kracht, hatten bereits russische Namen. Sie versteckten ihre Herkunft keineswegs. Im Gegenteil: Sie waren stolz darauf und beherrschten mehrere Sprachen, die zu ihren Muttersprachen wurden. Dies sind die Sprachen Deutsch, Französisch und Russisch.

Fjodor Kracht, der Vater von Konstantin Kracht, wurde wegen Dienstalters und hervorragender Verdienste zum Wirklichen Staatsrat befördert und machte somit eine große Karriere: Er war als „Mitglied des Moskauer Gerichtshofs viele Jahre lang mit Ermittlungen über Staatsverbrechen betraut“. Er erhielt die höchsten Auszeichnungen des Russischen Reiches, was ihm das Recht auf Erbadel gab. Der Onkel des Bildhauers, Wladimir Kracht, war der Gründer und der erste Direktor des Eisenhüttenwerks in Brjansk. Zusammen mit anderen Gesellschaftern erschuf er das Hüttenwerk, das später nach dem Putilow-Werk in St. Petersburg das zweitgrößte in Bezug auf die Kapazität wurde.

Nachdem der Vater und der Onkel von K. Kracht in Ruhestand gegangen sind, zogen die beiden in das verfallene Anwesen Tokarjowo in das Gouvernement Smolensk, die sie Anfang der 1890-er Jahre von der Familie Tatischtschew auf einer Auktion erworben hatten. Dort erschufen sie die schönste Residenz der Familie Kracht. Dies war ein dreistöckiges Gebäude mit Säulen, über das die berühmten Printmedien der damaligen Zeit schrieben.

Mehr als eine Generation der Familie, einschließlich der Mutter meines Mannes, seiner Tanten und Onkel, wuchs im Hauptgebäude und den Wohnflügeln des Hauses auf... Auch Boris Pasternak und die sehr junge Marina Zwetajewa, andere prominente Vertreter des „Silbernen Zeitalters“, die berühmte Modedesignerin N. Lamanowa und viele berühmte Leute aus dem Umfeld der älteren und späteren Generationen der Familie Kracht verweilten dort.

Nach der Revolution im Jahre 1917 wurde das Grundstück mit dem gesamten Besitz und den Skulpturen, die sich in der Werkstatt von K. Kracht, im Hauptgebäude des Hauses und im Vordergarten befinden, verstaatlicht.

Der Bildhauer Kracht ist für mich als Psychologin interessant

Die Persönlichkeit von Konstantin Kracht ist überaus interessant. Er war ein sehr intelligenter und in vielen Hinsichten gebildeter Mann, und nach den Erinnerungen seines jüngeren Sohnes war er nicht sehr gesprächig und sogar ein wenig zurückhaltend, aber sehr emotional.

Ich war von seiner erstaunlichen Entschlossenheit und inneren Stärke fasziniert. Ich wollte unbedingt sein Inneres erkennen, um zu verstehen, was für ein Mensch er war und was ihn durch das Leben führte. Meine Bücher über ihn sind eine Art Nachforschung.

Sie präsentieren sein psychologisches Charakterbild, das ich auf der Grundlage von Erinnerungen seiner Zeitgenossen und gefundenen biografischen Fakten nachgestellt habe. Er war für mich als Psychologin interessant, denn Konstantin Kracht begann seine Karriere als Jurist, war in verschiedenen Anwaltskanzleien tätig und arbeitete dann im Moskauer Gerichtshof. Aber die Kreativität und die Bildhauerei waren für ihn wichtiger als alles andere. Er war eine erstaunliche Person und zog interessante Menschen an, vor allem aus dem Bereich der Kunst und Kultur. Er wurde nicht nur ein hervorragender Bildhauer, sondern auch ein großartiger Lehrer der Theorie für diese Art von Kunst.

Über das nächste Buch

Wir haben noch das schöpferische Erbe von Wladimir Matow, dem Vater meines Mannes und Mitglied des Schriftstellerverbandes der UdSSR. Seine Romane, die er Anfang des 20. Jahrhunderts nach den revolutionären Ereignissen schrieb, sind erhalten geblieben. Es gibt noch das von ihm geschriebene Testament mit dem Recht, seine unveröffentlichten Bücher zu veröffentlichen. Ein Versuch ist es wert...

Ich habe auch die Idee, die „Kracht-Saga“ fortzusetzen und über die berühmte Familie von Sergej Kracht, Doktor der Medizin und Professor der Kaiserlichen Universität Moskau, zu schreiben (älterer Bruder des Bildhauers K. Kracht).

Er war mit der berühmten Schauspielerin des Maly-Theaters und der Volkskünstlerin der UdSSR E. Turtschaninowa verheiratet (verheiratete Kracht). Während ihrer Ehe wurde ihre Tochter Margarita Kracht geboren. Vieles über diese Familie habe ich bereits im Russischen Staatsarchiv für Literatur und Kunst und im nach A. Bachruschin benannten Staatlichen Zentralen Theatermuseum gefunden. Fotos und Dokumente gibt es aus dem Familienarchiv. Wie soll ich das alles schaffen?!

Es ist wichtig, seine Herkunft zu kennen

Die Geschichte und das Schicksal jeder Familie ist interessant und wertvoll. Jeder sollte wissen, woher man stammt.

Seit vielen Jahren lassen mein Mann und ich mit Begeisterung die Vergangenheit wieder aufleben, die Facetten der Epochen, in denen die Angehörigen der großen Familie der Russlanddeutschen gelebt, gearbeitet und geschaffen haben. So ist es uns gelungen, eine würdige Familie deutscher Heimatvertriebener wieder zu beleben, die nun auch meine ist. Ich hoffe, dass auch unser Sohn und unsere Enkelin sich dieser Arbeit anschließen werden.

In den Jahren 2019 und 2020 brachten meine beiden Bücher der Dilogie über K. Kracht den Gewinn bei dem Gesamtrussischen Förderwettbewerb „Russlanddeutsche in der Avantgarde der Zukunft“. Diese Publikationen wurden durch das Unterstützungsprogramm für Russlanddeutsche in der Russischen Föderation finanziert.

Konstantin Kracht hat in der russischen Kultur einen bedeutenden Beitrag geleistet. Ich möchte, dass er und seine Familie auch in Deutschland, seinem Herkunftsland, bekannt sind und in Erinnerung bleiben. Nun sollte sich unser Traum erfüllen, dass das Abbild von K. Kracht und seiner wunderbaren Verwandtschaft, die in Russland geblieben ist und sich in der russischen und jetzt in der deutschen Sprache widerspiegelt, zum Eigentum unserer beiden Länder wird, damit auch die Menschen in Deutschland stolz auf diese würdigen, talentierten und kreativen Menschen sein können.

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Abschließend möchte ich dem Internationalen Verband der Deutschen Kultur meinen Dank für die großartige Arbeit aussprechen, die zur Erhaltung und Entwicklung der jahrhundertelangen Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern geleistet wird. Es ist symbolisch, dass unsere Bücher gerade im Deutschlandjahr in Russland erschienen sind, das 20202021 mit dem Ziel der Stärkung und der Erweiterung der deutsch-russischen kulturellen Zusammenarbeit stattfindet.

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