Neu in der elektronischen Bibliothek: Aktuelle BiZ-Bote-Ausgabe!


Es ist die zweite Ausgabe des Informationsmagazins „BiZ-Bote“ vom Institut für ethnokulturelle Bildung – BiZ erschienen, die der Erinnerungskultur der Russlanddeutschen gewidmet ist. Die Zeitschrift erscheint im Vorfeld des 80. Jahrestages der Deportation der Russlanddeutschen.

Zum Schwerpunktthema gibt es in der Ausgabe gleich vier Artikel. Wir veröffentlichen nun einen Artikel „Die Zukunft der Erinnerung – aus russlanddeutscher Perspektive“ von Tatjana Schmalz. Weitere Artikel zu diesem Thema finden Sie unter dem Link.


Die Zukunft der Erinnerung – aus russlanddeutscher Perspektive

Am 28. August 2021 begehen die Russlanddeutschen ein trauriges Jubiläum: 80 Jahre sind vergangen seit der Deportation ihrer Vorfahren nach Sibirien und Zentralasien. Dazu wird 2021 wohl der letzte runde Jahrestag sein, an dem bei Gedenkakten auch Zeitzeugen teilnehmen. Wie aber bleibt das Wissen um ihre Lebenswege für die Nachwelt erhalten, erst recht mit Blick auf den digitalen Wandel?

Der Jahrestag

Es war im Sommer 1941, als die Wehrmacht den Hitler-Stalin-Pakt (Molotow-Ribbentrop-Pakt) brach und die Sowjetunion überfiel. In den Augen der sowjetischen Behörden kam als „natürlicher“ Verbündeter der Wehrmacht umgehend die deutsche Minderheit infrage: So gerieten die Sowjetdeutschen einzig aufgrund ihrer Ethnie pauschal unter Kollaborationsverdacht.

Diese Verurteilung und das darauffolgende Leid in der Arbeitsarmee wie auch in der Sonderkommandantur – kurz: ihr Kriegsfolgenschicksal – verdichten sich in einem symbolischen Datum, dem 28. August 1941. Mit diesem Tag trat der Erlass „Über die Übersiedlung der Deutschen, die in den Wolgarayons wohnen“ in Kraft. Doch bis über dessen Folgen öffentlich gesprochen werden durfte, auch für die Deutschen in anderen Teilen der Sowjetunion, war es ein weiter, bisweilen verminter Weg mit schwerwiegenden Repressionen für alle, die aktiven Widerstand leisteten.

Im Jahr 2021 sind die letzten Zeitzeugen erneut im Begriff zu verstummen – diesmal jedoch endgültig. Drängender denn je stellt sich die Frage, wie die Russlanddeutschen ihre Erinnerungskultur heute und in Zukunft pflegen wollen: nach innen gerichtet, um sich selbst der eigenen Identität und Gruppenzugehörigkeit zu vergewissern oder doch nach außen gerichtet, um auch Außenstehende über die Geschichte der Betroffenen und ihrer Nachfahren aufzuklären und dafür zu begeistern?

Der Wandel

Eine Besonderheit der russlanddeutschen Erinnerungskultur war und ist ihre Exklusivität. Freilich erlebte nicht nur die deutsche Minderheit Verfolgungen und gelang es ihr trotz allem, sich mehrheitlich in der sowjetischen Nachkriegsgesellschaft einzuleben.[1] Allerdings erfuhren außer den Deutschen nur noch die Krimtataren keine „vollständige“ historische Gerechtigkeit im Sinne einer territorialen Rehabilitierung – zumindest bis zum Gesetz von 2014 „Über die Rehabilitierung der repressierten Völker der Krim“. Hinzu kommt das staatlich verordnete Schweigen über die Deutschen in der Sowjetunion, wodurch das Gedenken an das russlanddeutsche Kriegsfolgenschicksal jahrzehntelang den Betroffenen vorbehalten blieb.

Unter dem allgemeinen Assimilierungsdruck bildeten die deportierten Zeitzeugen ein Bollwerk gegen das Vergessen ihrer Geschichte, ihrer Kulturtraditionen und der deutschen Muttersprache. Doch die Tabuisierung bis in den privaten Raum zeigte Wirkung: Der Dialog zwischen den Generationen verstummte, und sehr viele Nachgeborene wissen allenfalls vage Bescheid über ihre eigene Familiengeschichte, ja selbst über ihre Zugehörigkeit zu einer besonderen ethnischen Gruppe.[2] Das spiegelt sich etwa in der Tendenz, dass russlanddeutsche Jugendliche – sei es in Deutschland oder in den postsowjetischen Staaten – eher Anschluss an Vereine der Mehrheitsgesellschaft suchen als an Minderheitenselbstorganisationen.

Die russlanddeutsche Erinnerungskultur, wie wir sie kennen, befindet sich im Wandel. Mit dem Verschwinden der Zeitzeugen dienen regelmäßige Zusammenkünfte nicht länger dem Gedenken an gemeinsame Erlebnisse, um die russlanddeutsche Schicksalsgemeinschaft und Identität zu festigen. Stattdessen folgt nun eine Generation, der die Erzählungen der Zeitzeugen ebenso fremd sind wie Außenstehenden. Damit aber deren Erinnerungen eine Zukunft haben, ist es wichtig, die russlanddeutsche Gemeinschaft nicht länger in Isolation von seiner Umwelt zu begreifen. Sondern in enger Nachbarschaft mit anderen Bevölkerungsgruppen und Nationalitäten.

Was tun?

Damit die russlanddeutsche Erinnerungskultur eine Zukunft hat, kommt es bei in der Kulturarbeit auf drei Dinge an: Erstens muss das Publikum dort abgeholt werden, wo es mit seinem durchschnittlichen Vorwissen steht; zweitens darf die Geschichte der Opfer zwar nicht vergessen werden, aber auch nicht länger die tragende Säule der Erinnerungsgemeinschaft sein; und drittens gilt es auch Außenstehende für die russlanddeutsche Erinnerungskultur zu gewinnen, indem die Erinnerung in den Alltag integriert wird und nach tagesaktuellen Anknüpfungspunkten sucht.

Zum Umgang mit dem Publikum: Eine zielgruppengerechte Ansprache ist das A und O. Dabei darf Kulturarbeit, um allgemein anschlussfähig zu bleiben, weder allzu wissenschaftlich werden noch zu viel Vorwissen voraussetzen. Immerhin nehmen selbst Menschen mit russlanddeutschem Hintergrund die Angebote primär wahr, um ihre Wissenslücken zur Familiengeschichte aufzufüllen. Somit ist der vorhandene emotionale Bezug zur Thematik oftmals das einzige, was die Betroffenen von Außenstehenden ohne jedes Vorwissen über die Russlanddeutschen unterscheidet.

Ist dieses Problem einmal verinnerlicht, liegt auch schon die Lösung parat. Anstatt die russlanddeutsche Kulturgeschichte von sich aus zu erläutern, schließen eine inklusive, niedrigschwellige Veranstaltungskonzeption und Öffentlichkeitsarbeit jederzeit an Vertrautes an: vom Allgemeinen zum Besonderen, vom allseits Bekannten zu etwas Neuem. Der Schlüssel liegt darin, nicht unvermittelt zu informieren, sondern Brücken zu schlagen. Wenn nötig, tauchen die ersten Hinweisschilder schon auf, lange bevor die Brücke überhaupt am Horizont erscheint.

Weiter mit dem Gedenken an die Opfer: Am 28. August 2021 jährt sich der symbolträchtige Deportationserlass zum 80. Mal. Trotz des Gewichts solch runder Jahrestage sollte die Aufmerksamkeit nicht allein den dunkeln Kapiteln gelten. Selbstverständlich soll nichts und niemand dem Vergessen preisgegeben werden! Doch eine Opfer-Geschichte wie die der Russlanddeutschen provoziert zwangsläufig die Frage nach den Tätern; und die Frage, wie sinnvoll es ist, nach dem Verschwinden der Zeitzeugen sowie angesichts veränderter Lebensrealitäten noch länger an alten Feindschaften festzuhalten.

Das Ziel ist es, den sozialen Frieden zu wahren und gleichzeitig Außenstehende zur Beschäftigung mit der russlanddeutschen Kulturgeschichte anzuregen. Dafür sollte das Gedenken vermehrt von hellen Kapiteln handeln, wie Erfolgsbiografien und kulturellen Erzeugnissen, die trotz des erlittenen Kriegsfolgeschicksals zustande kamen. Denn ist das Interesse einmal geweckt, lässt es sich eher auf andere, bedrückendere Sachverhalte lenken.

Schließlich zur Integration des Gedenkens in den Alltag: Der effektivste Weg, um Außenstehende für die russlanddeutsche Kulturgeschichte zu gewinnen, ist, deren Erinnerungskultur wie beiläufig in den Alltag zu integrieren. Denn wird nach Anknüpfungspunkten gesucht, die sowohl tagesaktuell als auch von allgemeinem Interesse sind, steigt die Chance, überhaupt wahrgenommen zu werden. Passende Anlässe bieten beispielsweise nationale und weltweite Aktionstage sowie regionale und städtische Feste. Auch menschliche Grundbedürfnisse wie Nahrung oder die schlichte Freude an einem schönen Anblick oder einer fröhlichen Melodie sind mögliche Anknüpfungspunkte, die sich sogar jenseits bestimmter Kalendertage in den Alltag integrieren lassen. Es muss lediglich authentisch sein.

Unterm Strich

In den vergangenen 30 Jahren ist vieles erreicht worden, um die Geschichte der Russlanddeutschen aufzuarbeiten und darüber aufzuklären. Damit dieses Wissen auch in Zukunft relevant bleibt, bedarf es einer niedrigschwelligen Kommunikation, positiver Projektionsflächen sowie Angebote von allgemeinem Interesse. Nur so bleibt das Lebenswerk der Zeitzeugen auch weiterhin Bestandteil der russlanddeutschen Erinnerungskultur.


[1] Vgl. Robert Kindler: Sowjetische Menschen. Russlanddeutsche zwischen Integration und Emigration. In: OSTEUROPA, 67. Jg., 9-10/2017, S.138-151. Siehe auch die Projekte des Forschungsverbunds „Ambivalenzen des Sowjetischen – Diasporanationalitäten zwischen kollektiven Diskriminierungserfahrungen und individueller Normalisierung, 1953–2023“ (URL: https://www.ambivalenzen.uni-goettingen.de/).

[2] Vgl. Gabriele Rosenthal, Viola Stephan, Niklas Radenbach: Brüchige Zugehörigkeiten. Wie sich Familie von „Russlanddeutschen“ ihre Geschichte erzählen. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2011. Siehe auch Marit Cremer: „Ich wollte unbedingt, dass es meine Heimat ist!“ Identitäten von Kindern deportierter Russlanddeutscher in Deutschland. Berlin: Memorial Deutschland e.V. 2018 (URL: https://www.memorial.de/joomla/images/Broschuere_Russlanddeutsche.pdf).


Zur Autorin:

Seit 2017 forscht und recherchiert Tatjana Schmalz zur Kulturgeschichte der Deutschen in und aus Russland. Um auch Menschen jenseits der „Filterblase“ über aktuelle und bewährte Angebote zu informieren, betreibt die Wahl-Berlinerin seit Januar 2021 einen Newsletter in den sozialen Medien. Bespielt werden der Telegram-Kanal „RD-Netz-Verteiler“ sowie die öffentliche Facebook-Gruppe „RD-Netz“. Diese und viele weitere Ressourcen, einschließlich Forschungsliteratur und Belletristik, dokumentiert die 27-Jährige online – und damit für jedermann zu Recherchezwecken einsehbar – in ihrer „Russlanddeutschen Bibliographie“ (URL: https://www.zotero.org/groups/2736455/russlanddeutsche_bibliographie/library).

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