Am 6. Dezember fand im Deutsch-Russischen Haus in Moskau der zweite Tag des kulturhistorischen Seminars für Forscher statt, die sich mit der Erforschung des kulturellen und historischen Erbes der Russlanddeutschen beschäftigen. Zentrale Themen der Vorträge waren das historische Gedächtnis sowie die Bewahrung der Sprache und Kultur der Russlanddeutschen.
Elena Schlegel, Aspirantin und Dozentin an der nach F. Dostojewskij benannten Staatlichen Pädagogischen Universität Omsk, untersuchte das Thema der Dialekte der Russlanddeutschen in den nationalen Kulturzentren.
„Auf einer Konferenz, die von der Staatlichen Pädagogischen Universität der Region Altai organisiert wurde, wurde mir die Frage gestellt, wie die Dialekte in den nationalen Zentren vertreten sind, ob die Besucher der Zentren mit den Dialekten vertraut gemacht werden und ob sie in ihnen kommunizieren.“
Ich beschloss, diese Fragen an Fachleute, und zwar an die Leiter von den Deutsch-Russischen Häusern und Kultur- und Geschäftszentren zu stellen, um zu erfahren, wie die Dialekte der Russlanddeutschen heute in den Institutionen vertreten werden.
Nach Angaben der Forscherin bezeichneten laut einer Umfrage des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur im Jahr 2020 44 % der Befragten sowohl Russisch als auch Deutsch als ihre Muttersprache, und mehr als 60 % der Befragten sprechen entweder fließend Deutsch oder verfügen über gute Deutschkenntnisse. Von denjenigen, die Deutsch sprechen, kennen 21 % die dialektale Form, 52 % gaben an, die Schriftsprache zu beherrschen, und weitere 20 % gaben an, sowohl ein Dialekt als auch die Schriftsprache zu beherrschen. Unter den Regionen mit den meisten Menschen, die Dialekte beherrschen, stechen vor allem die Region Altai und das Gebiet Omsk hervor, gefolgt vom Gebiet Nowosibirsk, vor allem in kompakten Siedlungsgebieten, und dem Gebiet Tomsk.
Die Teilnehmerin des Seminars stellt fest, dass es leider fast keine Anfragen von Besuchern gibt, Dialekte zu lernen, aber gleichzeitig machen die Bemühungen der Mitarbeiter einiger Deutsch-Russischer Häuser die Besucher auf die sprachlichen Besonderheiten der Russlanddeutschen aufmerksam. So findet beispielsweise in der Region Altai eine Veranstaltung zu Dialekten statt. Eines der jüngsten Projekte war ein Sprachtreffen für Aktivisten der Selbstorganisation der Deutschen im Altai. Im Rahmen dieser Veranstaltung wurde zwei Tage lang der Workshop „Schwänke der Russlanddeutschen“ durchgeführt, bei dem sich die Teilnehmenden des Treffens – Lehrer, Dozenten und Professoren sowie Leiter von Klubs der Freunde der deutschen Sprache – mit dem Plautdietsch vertraut machten.
Anna Blinowa, Forscherin am Labor des Instituts für Archäologie und Ethnografie der Sibirischen Abteilung der Russischen Akademie der Wissenschaften in Omsk, sprach in ihrem Vortrag über das „kleine Museum“ und die Musealisierung des kulturellen Erbes der Russlanddeutschen.
„Der Begriff ‚kleines Museum‘ wird in der Literatur der Museologie nicht verwendet“, sagte Anna Blinowa.
„Es handelt sich um eine kollektive Bezeichnung, die es ermöglicht, die Besonderheit der größten Gruppe von Museen, nämlich der Museen in Dörfern, Gemeinden und Schulen sowohl der privaten, zu vereinen und zu bezeichnen.
Denn es sind diese Museen, die den Großteil der Museen ausmachen, die Materialien zur Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen in ihren Sammlungen haben.“
Nach Ansicht der Forscherin gibt es in der Welt der Museen im allgemeinen zwei Ansätze für Tätigkeiten in der Museifizierung. Auf der einen Seite gibt es eine ständige Erweiterung wertvoller Objekte, die in ein Museum aufgenommen werden, auf der anderen Seite gibt es kleine Museen, die auf die Musealisierung der lokalen Geschichte abzielen, das heißt auf jene Objekte, die nicht immer in die bestehenden Museen aufgenommen werden können, deren Bedeutung und Wert für die lokale Gemeinschaft aber sehr wichtig ist. In diesem Fall entsteht eine neue Art von Institutionen wie kleinere und lokale Museen sowie Gedenkstätten. All dies sind neue Formen der sogenannten „sanften“ Musealisierung, die keine vollständige Wegschaffung aus der Welt erfordert. Heutzutage lassen sich die Objekte der Musealisierung in mehrere Kategorien einteilen. Es handelt sich um große, bedeutende Objekte von großem historischem und kulturellem Wert. Sie bilden die Grundlage für Museumsreservate, Fabrikmuseen, Gutsmuseen und so weiter. Greift man das Thema der Russlanddeutschen auf, können das Museumsreservat „Altes Sarepta“ in Wolgograd oder das Museumsreservat „Trjochretschje“ in der Siedlung Ust-Kabyrsa als Beispiele solcher Einrichtungen dienen. Die nächste Kategorie sind einzelne Einrichtungen, die, wenn sie musealisiert werden, die Grundlage für ein eigenständiges Museum bilden können, das als eigenständiges Objekt mit der Schaffung einer Ausstellungsmöglichkeit dient. Sie bilden die Grundlage für die Errichtung von Kirchen-, Haus- und Wohnungsmuseen. Die Russlanddeutschen haben eine ganze Reihe solcher Museen, denn während der Emigration haben viele ihre Häuser verlassen. In diesen Häusern wurden Museen mit den dort gelassenen Sachen eingerichtet. Die dritte Kategorie sind heimatkundliche Museen in der Art eigenständiger Gebäude oder Gebäudeteile mit kleinen Ausstellungen. Die Russlanddeutschen besitzen noch mehr solcher Museen.
Über den Einfluss des historischen Gedächtnisses der Russlanddeutschen als wichtiger Faktor der Selbstidentifikation erzählte Arkadij German, Doktor der historischen Wissenschaften, Professor des Lehrstuhls für Vaterländische Geschichte und Historiografie der nach N. Tschernyschewski benannten Nationalen Forschungsuniversität in Saratow und Vorsitzender der Assoziation der Forscher der Geschichte und Kultur der Russlanddeutschen.
Nach Ansicht des Historikers ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine angemessene Selbstidentifikation das Vorhandensein eines historischen Gedächtnisses einer ethnischen Gruppe, was umso wichtiger ist, wenn diese ethnische Gruppe eine nationale Minderheit ist und einer natürlichen oder erzwungenen Assimilation unterliegt. Es handelt sich dabei um ein komplexes Phänomen des sozialen und ethnischen Bewusstseins. Das historische Gedächtnis zieht zunehmend die Aufmerksamkeit von Historikern, Soziologen und Kulturexperten auf sich. Es gibt viele Schichten des historischen Gedächtnisses, die sich auf unterschiedliche Weise bilden. Einerseits gehört sie zur sozialen Massenpsychologie, die meist spontan erfolgt. Andererseits gehört sie zur ideologischen Sphäre, was bedeutet, dass sie vom Staat, der Gesellschaft, bestimmten politischen und religiösen sowie anderen Institutionen besonders beachtet werden kann. Das historische Gedächtnis ist der wertvollste Bestandteil des nationalen Bewusstseins, die Quelle des Selbstwertgefühls einer Nation, ihre Selbstachtung und in vielerlei Hinsicht der Wert der Ideale, die ihre Stärke, ihre Fähigkeit zur Entwicklung, zur Überwindung von Schwierigkeiten und zur Bewältigung historischer Herausforderungen bestimmen. Ein traumatisiertes Bewusstsein für Geschichte ist einer der stärksten Faktoren für die Untergrabung der nationalen Identität, die zu einer Katastrophe führen kann. In diesem Sinne bestimmt die Vergangenheit nicht nur im materiellen, institutionellen, sondern auch im geistigen Sinne die Gegenwart und die Zukunft entscheidend mit. Laut dem Forscher trifft all dies unmittelbar auf die deutsche Ethnie in Russland zu.
Der zweite Tag umfasste auch Vorträge über den Haushalt und die Lebensweise der Wolgadeutschen im 19. und 20. Jahrhundert, das toponymische Erbe und die Lexik der Wolgadeutschen in einer fremdsprachigen Umgebung sowie die Lehrerdynastie Gartman und das pädagogische Erbe von E. Gotman. Das kulturhistorische Seminar endet am 8. Dezember.
Übersetzt aus dem Russischen von Evelyn Ruge