Wir setzen unsere Gespräche mit den Gewinnern des Wettbewerbs „Russlands herausragende Deutsche“ fort, um sie näher kennenzulernen. Diesmal sprachen wir mit Larissa Luppian, der Gewinnerin des Anna-German-Preises im Bereich Kunst, der Theater- und Filmschauspielerin, der Volkskünstlerin Russlands und der Intendantin des nach Lensowet benannten akademischen Theaters in Sankt Petersburg.
Larissa Luppian wurde am 26. Januar 1953 in Taschkent geboren und wuchs unter der Obhut ihrer Großmutter auf, einer erfahrenen Pädagogin mit einem reichen Erfahrungshorizont. Von klein auf sprach Larissa ausschließlich Deutsch und sog die Erziehung sowie die Geschichten ihrer Großmutter regelrecht auf. Sie beobachtete ihre Freundinnen und Bekannten. Bereits in der zweiten Klasse sammelte sie erste schauspielerische Erfahrungen: Im Filmstudio von Taschkent wirkte sie in dem Film „Ty ne sirota“ (dt.: Du bist kein Waisenkind) mit.
Nach ihrem Abschluss des Kurses von Igor Wladimirow am Staatlichen Institut für Theater, Musik und Kinematographie in Leningrad (heute Staatliches Institut für Schauspielkunst in Russland) im Jahr 1974 trat sie dem nach Lensowet benannten Theater in Leningrad bei, wo sie heute als Intendantin tätig ist.
Larissa Luppian kann auf eine beeindruckende Vielzahl von Rollen, Auszeichnungen und Erfahrungen zurückblicken. Sie ist nicht nur Volkskünstlerin der Russischen Föderation, sondern auch Verdiente Künstlerin der RSFSR.
Das Portal RusDeutsch hatte die Gelegenheit, die Künstlerin näher kennenzulernen und mit ihr über ihre Kindheit, ihre Gewohnheiten sowie die Emotionen zu sprechen, die mit der Auszeichnung im Rahmen des Wettbewerbs „Russlands herausragende Deutsche“ verbunden sind.
Es ist sicherlich schwierig, all das, was uns unsere Eltern mit auf den Weg gegeben haben, in nur wenigen Sätzen zusammenzufassen. Dennoch würde mich interessieren: Was halten Sie für das Wesentliche, das Ihre Eltern Ihnen vermittelt haben? Haben Ihre Kinder und Enkelkinder diese Werte ebenfalls übernommen? Da Sie von Ihrer Großmutter erzogen wurden, gibt es vielleicht besondere Erinnerungen aus Ihrer Kindheit, die Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben sind?
Sie haben richtig erkannt, dass ich von meiner Großmutter erzogen wurde, zumindest bis zu meinem dritten Lebensjahr. In dieser Zeit sprach ich ausschließlich Deutsch. Obwohl meine Großmutter Estin ist, könnte sie möglicherweise auch deutsche Wurzeln haben. Mein Großvater ist Deutscher, während meine Großmutter aus Estland stammt – das ist das gesamte Erbe auf väterlicher Seite. In Taschkent, wo wir lebten, leitete meine Großmutter einen Kindergarten, in dem sie den Kindern die deutsche Sprache näherbrachte. Als ich geboren wurde, hatte sie ihren Kindergarten offenbar bereits aufgegeben und widmete sich fortan ganz meiner pädagogischen Erziehung. Diese prägende Zeit ist mir noch sehr lebhaft in Erinnerung: ihre Liebe, ihre Fürsorge und der ständige Unterricht, den sie mir angedeihen ließ.
Ich erinnere mich an die wunderschönen deutschen Bücher, die wir hatten. Sie waren interessant illustriert und lehrreich; eines zeigte beispielsweise Jungen mit langen Haaren und langen Nägeln und vermittelte die Botschaft von Ordnung und Sauberkeit. Auch meine Spielsachen sind mir gut im Gedächtnis geblieben – sie müssen für damalige Verhältnisse recht kostbar gewesen sein. Ich besaß eine Kinderküche, ein Puppenhaus und ein Karussell. So prägte mich meine Großmutter in meinen frühen Jahren. Ich bin überzeugt, dass ich viel von ihr aufgenommen habe.
Vielleicht ist es mir nicht gelungen, meine eigenen Kinder auf dieselbe Weise zu erziehen, denn meine Großmutter war eine äußerst erfahrene Pädagogin. Das Wichtigste jedoch, was ich meinen Kindern mitgeben konnte, war meine Liebe sowie mein Engagement für ihre Bildung und Erziehung.
Sie sprechen mit so viel Liebe über diese Zeit. Gab es ein Spielzeug, das Ihnen besonders am Herzen lag?
Ich besaß einen Kinderwagen und eine wunderschöne Puppe. Die Erinnerungen an meine Spielsachen sind mir noch lebhaft präsent. Besonders das Karussell, das ich wie eine Drehorgel drehen musste, um die Musik erklingen zu lassen, ist mir in guter Erinnerung geblieben. Ich kann mich an all meine Spielsachen erinnern und ebenso an meine Großmutter – ihre Fürsorge und Liebe.
Können Sie mir bitte etwas über das Wappen der Familie Luppian erzählen? Welche Bedeutung steckt dahinter?
Ja, es handelt sich entweder um ein Wappen oder ein Siegel, das ich sogar restauriert habe und das gut erhalten geblieben ist. Es ziert Monogramme und in der Mitte thront ein Wolf, der auf einem Baumstumpf sitzt und Laute spielt. Der Nachname selbst hat eine interessante Bedeutung: Man nimmt an, dass er vom lateinischen „Lupus Piano“ abgeleitet ist, was so viel wie „stummer Wolf“ bedeutet. Daher zeigt das Siegel dieses furchterregende Tier, das gezähmt und friedlich Laute spielt.
Welche deutschen Traditionen haben in Ihrer Familie bis heute Bestand, und wurden möglicherweise einige von ihnen wiederbelebt? Existieren in Ihrer Familie überhaupt bestimmte Traditionen, die gepflegt werden? Wie gelingt es Ihnen, Traditionen in einer modernen Welt zu bewahren, die von uns Flexibilität und Anpassungsfähigkeit verlangt?
In unserer Familie gibt es bedauerlicherweise keine deutschen Traditionen. Das Blut in unserer Familie hat sich bereits vermischt. Beispielsweise mein Mann ist Russe. In der Vergangenheit war es zudem äußerst riskant, die deutsche Herkunft meines Großvaters zu erwähnen. So kam es, dass meine Großmutter für ein Bestechungsgeld die Staatsangehörigkeit meines Vaters auf Estnisch umschreiben ließ. Daher trug ich auch die Nationalität „estnisch“ in meiner Geburtsurkunde. Alle Traditionen wurden mit Sorgfalt geschützt und verborgen. Ich erinnere mich daran, dass meine Großmutter viele deutsche Freundinnen hatte, und ihre Treffen waren stets von einer gewissen Steifheit und Kultur geprägt.
Besonders in Erinnerung geblieben sind mir die Weihnachtsfeste, die für Kinder veranstaltet wurden. Diese Feste waren wahre Shows: Wir bereiteten uns vor, lernten deutsche Gedichte und Lieder und stellten Geschenke zusammen. Die Weihnachtsbäume wurden damals noch mit Kerzen geschmückt.
An diese Kindheit erinnere ich mich sehr gut – leider gibt es so etwas heute nicht mehr.
Was die Familientraditionen betrifft, haben wir ein neues Ritual entwickelt: Wir feiern unsere Geburtstage um Mitternacht. Da wir alle sehr beschäftigt sind und am nächsten Tag meist arbeiten müssen, gratulieren wir uns in der Nacht gegenseitig, machen uns Geschenke und feiern den besonderen Anlass. Am Morgen kehren wir dann wieder zu unseren beruflichen Verpflichtungen zurück.
Es fällt mir schwer zu sagen, welche Traditionen es heutzutage in den Familien bestehen. Leider hat sich durch das Internet eine Haupttradition etabliert, die darin besteht, sich in die Welt der Smartphones zurückzuziehen und kaum noch miteinander zu kommunizieren. Das ist furchtbar. Natürlich wünsche ich mir, dass die Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern wieder an Bedeutung gewinnt, doch es ist schwer zu sagen, wann dies geschehen könnte.
Könnten Sie mir bitte einen Einblick geben, wie es ist, die Leitung einer Künstlergruppe zu übernehmen?
Ich bin der Überzeugung, dass es letztendlich keinen gravierenden Unterschied macht, ob man ein Theater, ein Krankenhaus oder eine andere Institution leitet. In großen Organisationen sind alle Menschen kreativ und bringen ihre individuelle Persönlichkeit ein. Während der eine mit voller Energie an die Arbeit herangeht, neigt der andere dazu, sich zurückzuhalten.
Die größte Herausforderung besteht vielleicht darin, den unterschiedlichen Bedürfnissen der Schauspieler gerecht zu werden: Der eine möchte schauspielern, während der andere weniger motiviert ist – und ich habe die Aufgabe, beide in den Prozess einzubeziehen. Gleichzeitig gilt es, die Erwartungen der Stadt Sankt Petersburg zu erfüllen und ein ansprechendes Repertoire für unser Theater entwickeln.
Diese beiden Aspekte gilt es harmonisch miteinander zu kombinieren, damit unsere Aufführungen sowohl für die Stadt als auch für unsere Schauspieler von Interesse sind. Die größte Schwierigkeit liegt dabei in der sorgfältigen Auswahl des Repertoires und der Einladung von Regisseuren.
Natürlich bringt eine Person mit Ihrer Erfahrung eine Vielzahl unterschiedlicher Rollen mit sich, sodass es kaum vorstellbar ist, dass sich bei dieser Vielfalt ein Favorit herauskristallisieren könnte. Daher möchte ich Sie gerne fragen: Welche Rollen empfanden Sie als die interessanteste? Gab es vielleicht eine, die Ihnen große Herausforderungen stellte?
In der Blütezeit meiner kreativen Laufbahn hegte ich den innigen Wunsch, die Rolle der Blanche DuBois in Tennessee Williams‘ Stück „Endstation Sehnsucht“ zu spielen. Mit diesem Herzensanliegen wandte ich mich an unseren Hauptregisseur und Lehrer Igor Wladimirow. Zu meinem großen Glück fand er Gehör für mein Anliegen und integrierte das Stück in das Repertoire unseres Theaters – dafür werde ich ihm ewig dankbar sein. Schließlich habe ich diese Rolle gespielt. Es ist meine Lieblingsrolle. Es ist die Rolle, die mir am nächsten steht: mir als Schauspielerin und mir als Frau. Die Vielschichtigkeit der Emotionen und die fesselnde Handlung des Stücks haben mich tief berührt. Mein schauspielerischer Traum hat sich somit erfüllt.
Manchmal gehen Träume nicht in Erfüllung, aber meiner schon, wofür ich sehr dankbar bin. Zwar gab es viele bedeutende Rollen in meinem künstlerischen Schaffen, doch keine war so qualvoll, herausfordernd und arbeitsintensiv wie diese. Die Darbietung erforderte immense Anstrengung, die Vorbereitung war alles andere als einfach, und selbst nach dem Verlassen der Bühne fiel es mir schwer, die Rolle abzulegen.
Haben Sie momentan einen Traum?
Nun, heute habe ich das Wesentliche: Es handelt sich nicht um einen Traum, sondern vielmehr um einen Wunsch. Ich sehne mich danach, im Theater gefragt zu sein und meine Arbeit so zu gestalten, dass sie für die Mitarbeiter unseres Theaters von Interesse ist. Mein Ziel ist es, die Wünsche unserer Schauspieler zu erahnen und gleichzeitig die Erwartungen des Publikums zu verstehen – was sie sehen möchten. Doch manchmal klaffen diese Vorstellungen auseinander: Während das Publikum das klassische Theater verlangt, wollen die Schauspieler mehr in eine Art Regietheater gehen. Sie wollen in diesem Stil arbeiten, aber das Publikum verlangt etwas anderes. Das Publikum verlangt eine Rückkehr zum russischen psychologischen Theater, zum klassischen russischen Theater. Diese Diskrepanz gilt es zu überbrücken, sodass weder die Bedürfnisse der einen noch der anderen Seite vernachlässigt werden. Diese Herausforderung ist wohl die größte Hürde, die es zu meistern gilt.
Können Sie angehenden Schauspielern einen Rat geben?
Nun, was soll ich sagen... Zunächst einmal möchte ich betonen, dass niemand nicht denken sollte, die Regisseure würden ihre Talente nicht wahrnehmen oder ignorieren. Die bedeutendsten Regisseure sind stets auf der Suche nach neuen Talenten und möchten diese unbedingt entdecken. Wenn jemand nicht ins Theater aufgenommen wurde, gibt es dafür einen Grund. Sollte man in diesem Beruf Schwierigkeiten haben, ist es vielleicht besser, über einen Wechsel nachzudenken. Es ist unproduktiv, mit dem Kopf gegen eine Wand zu rennen, wenn man nicht die gewünschten Chancen erhält. Gerade in jungen Jahren hat man die Möglichkeit, Veränderungen vorzunehmen. Künstler sein kann man in vielen Bereichen – man muss nicht zwingend auf der Bühne stehen.
Ein Künstler ist vielmehr eine Geisteshaltung. Wenn du bereits im Theater bist und keine Rollen bekommst, dann ergreife die Initiative und arbeite unabhängig.
Man muss kein Star sein; viele Schauspieler sind keine Stars, leben jedoch ein erfülltes und anständiges Leben und verdienen ihren Lebensunterhalt in diesem Beruf. Es geht nicht darum, Sterne vom Himmel zu holen. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass man ein erstklassiger, gefragter Künstler sein muss.
Man sollte nicht denken: „Nun, jetzt wird der Ruhm zu mir kommen!“ Das ist ganz sicher nicht der beste Weg, denn der Ruhm kommt nie zu denen, die ihn wollen. Er kommt völlig unerwartet, aus dem Nichts. Dafür gibt es kein Rezept. So lautet mein Ratschlag.
Ihr kreatives Schaffen und Ihre Verdienste sind mit vielen Preisen gewürdigt worden. Welchen Platz nimmt dabei der Preis des Wettbewerbs „Russlands herausragende Deutsche“ ein?
Zuerst einmal war ich mir nicht bewusst, dass es eine solche Auszeichnung gibt. Daher hat es mich sehr überrascht und zutiefst gefreut, dass man auf mich aufmerksam geworden ist. Ich habe meine Identität nie unter dem Aspekt betrachtet, dass in mir ein Teil Deutsch, ein Teil dies, ein Teil jenes, ein Teil das andere ist...
Jetzt frage ich mich: „Was ist wirklich deutsch an mir?“ Ich bin meinen Eltern dankbar, dass sie mir diese Gene vererbt haben – das baltische, deutsche und europäische. In diesen Genen liegen Eigenschaften wie Zielstrebigkeit, Fleiß, Ordnung und Ehrlichkeit. Es erfüllt mich mit Freude, dass gerade die Deutschen aus Russland auf mich aufmerksam wurden. Diese Auszeichnung wird zweifellos einen besonderen Platz in meinem Leben einnehmen. Ich werde sie ins Theater mitnehmen und in meinem Büro platzieren, um jedem zu erzählen, dass ich von den Deutschen aus Russland bemerkt wurde. Ich bin sehr, sehr erfreut.
Welche typisch deutschen Eigenschaften nehmen Sie sei sich selbst wahr? Sehen Sie diese Eigenschaften eher als unterstützend oder als hinderlich in Ihrem Leben an?
Ich bin überzeugt, dass meine Ernennung zur Leiterin keineswegs ein Zufall ist, sondern vielmehr das Ergebnis meines Charakters. Die Eigenschaften, die ich besitze – Gewissenhaftigkeit, Ordnung, Fleiß sowie die Fähigkeit, alles bis zum Ende durchzuführen und gleichzeitig Kompromisse zu schließen – sind typisch deutsch. Ich glaube, dass diese Merkmale nicht nur deutsch, sondern auch estnisch und europäisch geprägt sind.
Von meiner russischen Herkunft habe ich wahrscheinlich eine gewisse Innerlichkeit und vielleicht auch eine Portion Weichheit mitbekommen. Diese Kombination aus Charaktereigenschaften hat es mir ermöglicht, eine Führungspersönlichkeit zu werden. In dieser Rolle benötigt man sowohl Härte als auch Weichheit.
Ich sage oft: „Äußerlich bin ich weich, aber innerlich bin ich sehr hart“. Diese Qualitäten müssen wahrgenommen worden sein, denn ich beschäftige mich schon seit langem mit der Organisation verschiedener Dinge. Zunächst organisiere ich als Hausfrau meinen Alltag. Darüber hinaus hatte ich meine eigene Fernsehsendung, die ich selbst organisiert habe – von den Drehbüchern bis hin zu den Dreharbeiten.
Dann hatten wir eine lange Zeit ein Entreprise. Ich war im Grunde die Managerin dieser Aufführung. Dabei musste ich mich mit allen Beteiligten abstimmen und über Aspekte wie Reisen, Tickets, Hotels sowie Transport und Transfers nachdenken. Ich kann Dinge auf eine einfache und interessante Weise organisieren und es zu einem logischen Abschluss bringen. Meine Erfahrung zeigt mir, dass es oft schlimmer wird, wenn man jemand anderem etwas Wichtiges anvertraut. Wenn man also etwas gut machen möchte, sollte man es selbst in die Hand nehmen. Ich schätze diese Eigenschaften an mir selbst; sie müssen bemerkt worden sein und haben mir die Ehre eingebracht, die Leitung des nach Lensowet benannten Theater zu übernehmen.
Der gesamtrussische Wettbewerb „Russlands herausragende Deutsche“ hat zum Ziel, Russlanddeutsche zu identifizieren und zu fördern, die in ihren beruflichen Tätigkeiten anerkannte Erfolge erzielt haben. Dieser Wettbewerb findet bereits zum 14. Mal statt und wird vom Internationalen Verband der deutschen Kultur organisiert. Unterstützen Sie Ihre Favoriten durch Teilnahme an der offenen Online-Abstimmung auf der offiziellen Webseite des Wettbewerbs!
Übersetzt aus dem Russischen von Evelyn Ruge