Was haben deutsche Bratwürste, russische Wiegenlieder und Gusli, chakassische Märchen, die Geschichte der Russlanddeutschen und Sandanimation gemeinsam? Die richtige Antwort: „Abend der Künste und Geschichten“, der am 4. November im Deutsch-Russischen Regionalhaus Tomsk stattfand.
Die Veranstaltung wurde zeitgleich mit dem Tag der Einheit des Volkes und der gesamtrussischen Aktion „Nacht der Künste“ abgestimmt, die die kulturelle Vielfalt Russlands präsentieren soll. Der Abend, der sich an Familien richtete, bot Eltern und Kindern die Möglichkeit, ein gemeinsames Wochenende zu verbringen. Daher erwies sich der Event als multidimensional – er vereinte Familien, Traditionen verschiedener Völker, die Vergangenheit und die Gegenwart.
Die Ausrichtung multikultureller Veranstaltungen und der Austausch mit den verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Region Tomsk sind ein wichtiges Anliegen des Deutsch-Russischen Hauses in Tomsk. Ekaterina Barssagaewa, Leiterin der Entwicklungsabteilung am DRH Tomsk, kommentiert:
Man könnte sagen, selbst der Name ‚Haus‘ verpflichtet uns dazu. Schließlich ist ein Haus der Ort, an dem sich alle Freunde treffen.
Wir veranstalten unsere eigenen interethnischen Events, wie zum Beispiel das traditionelle Sommerfest ‚Ethno-Samstag‘. Und wir fungieren oft als Anlaufstelle für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen der Region Tomsk: Wenn eine der ethnischen Gemeinschaften eine eigene Veranstaltung ausrichten möchte, helfen wir oft mit den Räumlichkeiten.“
So feierten die Russlanddeutschen in Tomsk auch den Tag der Einheit des Volkes, indem sie Folklore und Geschichte verschiedener Völker zu einem einheitlichen ethnokulturellen Mosaik verschmelzen ließen.
Ein Höhepunkt des „Abends der Künste und Geschichten“ war eine theatralische Lesung von Volksmärchen mit Live-Musikbegleitung. Die Folkloristin und Geschichtenerzählerin Elena Podanjowa trug ein altes russisches Wiegenlied und Märchen vor.
Die Gäste hörten einem chakassischen Märchen und erfuhren dabei mehr über die Lebensweise der Chakassen, ihre Jagdtradition und ihren Glauben an die Unterwelt des Erlik Khan. Ganz anders hingegen wurde der deutsche Schwank „Von dem Mäuschen, Vögelchen und der Bratwurst“ aus der Sammlung der Kinder- und Hausmärchen von Brüder Grimm vorgetragen.
„Ich bin wegen der Märchen gekommen. Wenn Elena sie erzählt, spürt man, wie sehr sie in der Geschichte aufgeht. Und als sie dann ein Wiegenlied sang, bekam ich Gänsehaut!“, erzählte Arina, eine Besucherin der Veranstaltung. „Die Märchen und die Kulturen selbst sind sehr unterschiedlich: Eine Geschichte aus Chakassien ließ die Zuhörer in die türkische Weltsicht eintauchen, und dann gab es eine ganz andere Geschichte über die Bratwurst. Es war eine interessante Mischung.“
Die märchenhafte Erzählung der ersten Geschichte wurde durch die ethnische Begleitung der Gusli-Spielerin Tatiana Doroschenko bereichert: Sie spielte die Gusli, ein altes russisches Musikinstrument, und das Tamburin, ein typisches Instrument der indigenen Völker Sibiriens, das auch in vielen anderen Kulturen der Welt zu finden ist:
Wir sind ein multinationales Land: Wir wollen harmonisch zusammenleben und unsere Kulturen austauschen. Ich denke, wenn man nebeneinander wohnt, ist es wichtig, die Traditionen des anderen zu kennen. Veranstaltungen wie diese entführen uns einerseits für eine Weile in eine Märchenwelt und bieten uns die Möglichkeit, dem Alltagstrubel zu entfliehen und über uns selbst nachzudenken. Andererseits erfordern sie vom Publikum auch ein gewisses Maß an spiritueller Anstrengung. Schließlich handelt es sich hier nicht um eine Unterhaltungsshow, sondern um eine Zusammenarbeit mit den Künstlern. Und das Publikum solcher Zusammenkünfte ist ein besonderes: Menschen, die nach Erfüllung suchen.
Nach dem Eintauchen in die Welt der Musik und Märchen kamen die Gäste in den Genuss kreativer Workshops: Die dynamische Zeichenkünstlerin Ekaterina Birjukowa führte die Teilnehmer in die Grundlagen der Sandanimation ein.
„Im Workshop entdecken die Teilnehmer unerwartet ihr Zeichentalent! Diese Fähigkeit steckt in uns allen“, erklärt die Künstlerin. „Ich habe den Gästen gezeigt, wie man mit Sand ein Bild aus einem einzigen Punkt formt. Sie lernten die Grundlagen der Sandanimation anhand einfacher Zeichnungen: Sie lernten, wie man mit einer Prise Sand Details gestaltet. Sie fühlten sich wie Sandmagier!“
Ich liebe die Atmosphäre in den Workshops: Jemand kichert, der Andere schnarcht leise vor sich hin, während er zeichnet. Erwachsene werden wieder zu Kindern. Und wir alle erschaffen gemeinsam etwas und bringen Dinge in Bewegung!
Doch Sandzeichnungen sind vergänglich: Ein Bild entsteht unter den Fingerspitzen und strebt in eine neue Geschichte zu verwandeln. Ein Kreativworkshop, in dem die Gäste Duftsäckchen in Form eines Hauses gestalteten, ermöglichte es ihnen, die Eindrücke des Abends im Deutsch-Russischen Haus greifbar festzuhalten.
Die Wahl des Hausmotivs wurde nicht zufällig gewählt: Das Deutsch-Russische Haus in Tomsk selbst befindet sich in einem alten Kaufmannshaus, einem sogenannten „Terem“, das mit geschnitzter Spitze verziert ist. In den Handarbeiten der Teilnehmer wurden die Holzschnitzereien des Gebäudes jedoch durch textile Spitze ersetzt.
Der „Abend der Künste und Geschichten“ schloss mit einer Führung durch das Kaufmannshaus, bei der die Gäste etwas über die Geschichte des Gebäudes selbst erfuhren, eines architektonischen Denkmals von föderaler Bedeutung, das 1904 für die Familie des reichsten sibirischen Kaufmanns, Georgi Golowanow, erbaut wurde.
Die Mitarbeiterin des DRH Ekaterina Barssagaewa sprach ebenfalls darüber, wie die Deutsche ins Russische Reich und später nach Sibirien kamen. Anhand einer Ausstellung in einer Ecke des Museums veranschaulichte sie ihre Haushaltsgegenstände und landwirtschaftlichen Praktiken. Sie erzählte auch, wie die Gemeinschaft der Russlanddeutschen in der Region Tomsk vor über 30 Jahren dieses alte Kaufmannshaus restaurierte und sich darin niederließ.
Der Abend im Deutsch-Russischen Haus war ein wahrhaft immersives Erlebnis, denn er bot eine Vielzahl von Kreativität und Aktivitäten und entführte die Gäste in eine einzigartige Atmosphäre.
„Wir haben fast alle Sinne angesprochen: das Gehör und das Sehen dank Märchen und Musik, den Geruchssinn dank Duftsäckchen und den Tastsinn: Die Gäste konnten mit Sand malen und Haushaltsgegenstände in unserer Museumsecke berühren“, so Ekaterina Barssagaewa.
Die Veranstaltung des Deutsch-Russischen Hauses ist auch deshalb wertvoll, weil sie einen Raum für gemeinsame kulturelle Freizeitgestaltung von Eltern und Kindern geschaffen hat, in dem Familien Zeit miteinander verbrachten und sich in gemeinsamen Aktivitäten und Emotionen vereinten. Daher vereinte der Tag der Einheit des Volkes an diesem Abend nicht nur die Traditionen und Geschichten verschiedener Nationen, sondern auch Familiengenerationen. Die Gusli-Spielerin Tatiana Doroschenko sagt:
Die Veranstaltung besuchten Eltern mit ihren Kindern. Besonders wichtig ist es, in den Kindern ein kleines Interesse an Musik zu wecken. Denn je mehr ein Kind in seiner Kindheit aufnimmt, desto mehr trägt dies zu seiner Entwicklung und seinem Selbstverständnis bei. Nach dem Märchenlesen bastelten Eltern und Kinder gemeinsam etwas; das ist unschätzbar wertvoll für ein positives und harmonisches Familienleben.
Erwachsene Gäste, die mit ihren Kindern zu der Veranstaltung gekommen waren, bestätigten die positiven Eindrücke, die sie während des Abends empfunden hatten.
„Heute wurden wir mit Märchen empfangen – Märchen aus verschiedenen Kulturen, die uns sehr gefallen haben. Zusammen mit der Musik wirkte es besonders zauberhaft; man kam sofort in die richtige Stimmung. Und die Atmosphäre des Hauses selbst lud geradezu dazu ein, in die Märchen einzutauchen“, erzählte Nadeschda, eine Teilnehmerin des Abends. „Die Workshops hatten eine, so zu sagen, entspannende Wirkung. Wir hatten eine wundervolle Zeit! Mein Sohn hat an jedem Workshop teilgenommen; er war von allem begeistert. Vielen Dank für die Veranstaltung!“
Mit Beginn des Herbstes und bald auch des Winters, den kalten Tagen mit früher Dämmerung, sind solche gemütlichen und vereinigenden Abende besonders wertvoll und notwendig. Schon bald wird in den Begegnungszentren der Russlanddeutschen in verschiedenen Städten die erste Adventskerze angezündet, es werden aktive Vorbereitungen für Weihnachten beginnen. Und im Anschluss an diesen „Abend der Künste und Geschichten“ im Deutsch-Russischen Haus in Tomsk wünschen wir allen Lesern möglichst viele herzliche und märchenhafte Begegnungen.




