Wo die Wurzeln des Stammbaums liegen


In der Stadt Tula fand eine Genealogie-Werkstatt für Führungskräfte und Aktivisten gesellschaftlicher Organisationen der Russlanddeutschen aus Zentral- und Nordwestrussland statt. Die Veranstaltung wurde von der Deutschen national-kulturellen Autonomie des Gebiets Tula mit Unterstützung des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur organisiert und durchgeführt.

Teilnehmer aus Moskau, Sankt Petersburg, Tula, Bogorodizk, Sergijew Possad, Rjasan und Stary Oskol trafen sich, um ihre Stammbäume zu rekonstruieren. Alexander Besnossow, promovierter Historiker, erzählte ausführlich, wie man die Suche nach den Vorfahren richtig organisiert. Er konzentrierte sich dabei auf historisch bedeutsame Epochen im Leben der Kolonisten, da Genealogie als Wissenschaft ohne die Berücksichtigung von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zu sozioökonomischen Ereignissen im In- und Ausland undenkbar sei.

Der Referent ging näher auf die Auswertung genealogischer Quellen und die Grundsätze der Arbeit mit Staatsarchiven und Standesämtern ein. Er gab auch detaillierte Empfehlungen für die Befragung von Verwandten. Hier ist alles sehr wichtig: das Geburtsdatum und -ort, die Religion, die Namen der Taufpaten, der Studienort und der Bezirk, in dem die Hochzeit und Trauung stattfanden. Jedes Detail kann ein Hinweis sein, der einen Familienforscher tief in die Jahrhunderte zurückführt. „Beginnen Sie noch heute mit der älteren Generation zu sprechen“, rät Alexander Besnossow. „Schalten Sie ein Aufnahmegerät ein und unterbrechen Sie den Sprecher auf keinen Fall. Stellen Sie Fragen, nachdem er seine Geschichte beendet hat. Jegliche Dokumente können Licht auf Familiengeheimnisse werfen: Geburtsurkunden, Konfirmations- und Heiratsurkunden, Pässe, Militärausweise, Diplome, Zertifikate, Auszeichnungen, Briefe und Tagebücher.“

Schieben Sie das Gespräch nicht auf, denn morgen werden Sie es bereuen, keine Fragen gestellt, nichts aufgeschrieben, nichts geklärt zu haben...

Oksana Besnossowa, promovierte Historikerin, setzte die Genealogie-Werkstatt fort. Sie sprach über die Neuerungen, die deutsche Kolonisten in das Leben des Russischen Reiches einbrachten, und deren Auswirkungen auf die sozioökonomische Entwicklung des Landes. Außerdem ging sie ausführlich auf die historische Fotografie ein und konzentrierte sich dabei auf die Aussagekraft eines einfachen Schnappschusses aus einem Familienalbum.

Viele Teilnehmer kamen nach Tula nicht mit leeren Händen. So brachte beispielsweise Nina Lebedewa aus Moskau eine Sammlung von Taschentüchern mit, die zu Familienerbstücken geworden waren. „Schüler der Schule, an der mein Vater unterrichtete, haben alle Stationen seines Lebens von 1921 bis 1981 bestickt: die Deutsche Pädagogische Fachschule, den Einsatz in die Arbeitsarmee und seine Jahre als Lehrer an verschiedenen Schulen“, erzählt Nina Lebedewa. „Es war ein sehr berührendes Geschenk zum Jubiläum des geliebten Lehrers.“ Die Teilnehmerin aus Moskau berichtete auch von ihren eigenen Erfahrungen mit Interviews älterer Familienmitglieder.

Margarita Kunzmann aus Petrosawodsk brachte ein einzigartiges Foto ihres Großvaters mit: Der junge Mann hatte ein Andenken an sich im Studio des renommierten Fotografen aus Kamyschin Wassili Petuchow hinterlassen. „Man muss beachten, dass die Dienste eines Fotografen damals recht teuer waren, denn ein Besitz eines solches Foto war sehr prestigeträchtig“, erklärt die Historikerin Oksana Besnossowa.

Irina Raewskaja aus Moskau unternahm einen langen Such- und Forschungsprozess, der zur Beschaffung wertvoller Kopien der persönlichen Akte ihrer Urgroßmutter führte, die zu Beginn des Großen Vaterländischen Krieges verfolgt wurde. Solche Dokumente sind den meisten Teilnehmern der Genealogie-Werkstatt wohlbekannt. Die persönlichen Akten der Trudarmisten sind leider sehr spärlich. Im Grunde handelt es sich um zahlreiche Quittungen, aus denen hervorgeht, dass der betreffenden Person bewusst ist, dass sie nie wieder an seinen früheren Wohnort zurückkehren kann.

Die Leiterin des Sprachclubs, Alexandra Tzilkowskaja, erörterte mit den Projektteilnehmern auf Deutsch die Besonderheiten der Erstellung eines Stammbaums. Inna Schestakowa leitete ein interaktives Quiz über die deutschen Spuren in der Stadt Tula. Die Deutschen hatten einen bedeutenden Einfluss auf das Erscheinungsbild dieser Stadt der Büchsenmacher. So verdankt beispielsweise der Kreml von Tula sein Überleben der Kaiserin Katharina der Großen. Die Kaiserin mit der deutschen Abstammung suchte ein Grundstück für ein Landgut für ihren Sohn, Graf Bobrinskij. Auf ihrer Durchreise durch Tula sah sie den verfallenen Kreml. Sie ordnete die Restaurierung der Befestigungsanlagen an und stellte die Mittel dafür bereit. Auch unter den Büchsenmachern von Tula finden sich deutsche Namen. Die berühmte Samowarfabrik besaß mal die deutsche Familie Teile.

„Ich bin begeistert, dass mich dieses Projekt in eine Gemeinschaft wunderbarer Menschen geführt hat, die das Andenken ihrer Vorfahren ehren“, sagt Timofej Swoboda aus Rjasan. „Es ist sogar symbolisch, dass wir die gesamte Veranstaltung in einem Hotel namens ‚Sophia‘ erlebt haben! Die russische Kaiserin Katharina der Große hieß vor ihrer Ankunft in Russland und ihrer Konversion zur Orthodoxie Sophie Auguste Friederike.“

Der ereignisreiche Tag schloss mit Margarita Kunzmann und Oleg Mostowoj, Solisten des ethnografischen Ensembles „Volkskarussell“, die die Projektteilnehmer zum Tanzen aufforderten! Nachdem die Teilnehmer die Schritte schnell erlernt hatten, führten sie den traditionellen Volkstanz „Oiro“ auf.

„Ich war wieder einmal richtig begeistert von der Arbeit der Deutschen national-kulturellen Autonomie des Gebiets Tula“, sagt Nina Lebedewa. „Die Leiterin Oksana Koslowa hat, als wäre sie Dirigentin eines großen Sinfonieorchesters, ihr professionelles Team und die Teilnehmer – interessante und leidenschaftliche Menschen – zusammengebracht.“

Man kann dieses Projekt kaum als Veranstaltung bezeichnen. Es ist eher wie ein Familientreffen, an dem unsichtbar unsere Vorfahren teilnehmen, deren Andenken wir bewahren.

„Ein herzliches Dankeschön an die Historiker Oksana und Alexander Besnossow, die nicht nur den Datensuchalgorithmus zur Erstellung eines Familienstammbaums bereitstellten, sondern uns auch faszinierende Fakten über die Vergangenheit und Gegenwart der Russlanddeutschen näherbrachten. Für sie ist kein Thema zu komplex oder zu unbedeutend. Sie scheuten keine Frage und gaben detaillierte Antworten. Das Quiz von Inna Schestakowa ließ keinen Zweifel daran, dass die Geschichte der Stadt Tula eng mit der Tätigkeit der Russlanddeutschen verbunden ist.“

„Letztes Jahr haben wir ein Genealogieprojekt für Jugendliche durchgeführt“, erzählt Oksana Koslowa, Leiterin der Deutschen national-kulturellen Autonomie des Gebiets Tula. „Nachdem wir die Ergebnisse auf dem Informationsportal „RusDeutsch“ veröffentlicht hatten, erreichten uns zahlreiche Anfragen von Leitern gesellschaftlichen Organisationen aus unserer Region, die ein Arbeitstreffen für Aktivisten der Deutschen national-kulturellen Autonomien und Begegnungszentren der Russlanddeutschen organisieren wollten. Die Erforschung der eigenen Familiengeschichte ist ein sehr wichtiges Thema für die Russlanddeutsche! Wir haben versucht, ein umfassendes Programm zu erstellen, damit unsere Teilnehmer möglichst viele Informationen darüber erhalten, wie sie an Dokumente gelangen können, die Aufschluss über ihre Familiengeschichte geben.“

„Wir waren angenehm überrascht vom außerordentlichen Interesse aller ProjektteilnehmerInnen“, resümierten Oksana und Alexander Besnossow die Genealogie-Werkstatt. „Alle waren sehr daran interessiert, mehr über die Geschichte der Russlanddeutschen und Genealogie zu erfahren und teilten bereitwillig ihre praktischen Erfahrungen beim Sammeln von Dokumenten für ihre Stammbäume. Es ist außerdem erwähnenswert, dass bei allen Treffen eine besonders herzliche und freundliche Atmosphäre herrschte. Unsere Gespräche und Diskussionen regten Ideen für zukünftige gemeinsame Projekte an, die sich dem historischen und kulturellen Erbe sowie der Genealogie der Russlanddeutschen widmen.“

Und nach dem Projekt stehen wir mit den Teilnehmern im Austausch, beraten sie über verschiedene Fragen im Zusammenhang mit der Erstellung von Familienstammbäume und tauschen historisches Material aus, das wir im Laufe unserer langjährigen Forschung gesammelt haben.

Wer Tula schon öfter besucht hat, weiß, dass zu jedem Projekt der Deutschen national-kulturellen Autonomie Kuchen gehören, die nach dem Rezept von Oksana Koslowas Großmutter, Nadeschda Pindrus, gebacken werden. Leider verstarb Nadeschda Pindrus im Frühjahr dieses Jahres im Alter von 97 Jahren. Sie gab das Familienrezept für Apfel- und Pflaumenmarmeladenkuchen jedoch an ihre Enkelin und Urenkelin weiter. So verwöhnten die Gastgeberinnen des Projekts, Oksana und Polina Koslow, die Teilnehmer traditionell mit den hausgemachtes Familiengebäck.


Das Projekt wurde mit Unterstützung des Internationalen Verbandes der deutschen Kultur im Rahmen des Förderprogramms der Russlanddeutschen realisiert.

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